On the road: Litauische Verwerfungen
Marko Martin, Schriftsteller auf Reisen, wirft ein Schlaglicht auf den schwierigen Umgang Litauens mit der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die baltischen Länder waren wie Polen oder die Ukraine Opfer der Gewaltorgien von Nationalsozialismus und Stalinismus; gleichzeitig waren Teile ihrer Bevölkerung als Mittäter in den Holocaust verstrickt. Nachdem die Auseinandersetzung mit dieser komplexen Vergangenheit über Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft quasi eingefroren war, kommt sie jetzt mühsam in Gang. Sie ist Teil einer vielfach verwobenen europäischen Geschichte, die nicht zwischen West und Ost aufgespalten werden kann.
Vor hundert Jahren hätte Vilnius beinahe einen deutschen König bekommen. Als dort am 16.Februar 1918 nach über einem Jahrhundert russischer Oberherrschaft das unabhängige Litauen ausgerufen wurde, wollte das wilhelminische Deutschland, Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg, einen neuen Satellitenstaat installieren lassen. Repräsentationsfigur sollte Herzog Wilhelm von Urach werden, der unter dem Namen Mindaugas II. im Juli 1918 vom litauischen Landesrat gewählt wurde. Die Herrschaft des Württembergers blieb jedoch Intermezzo; der Schriftsteller Arnold Zweig widmete dieser Kabale den seinerzeit berühmten Roman „Einsetzung eines Königs“.
Ausländische Wissenschaftler schreiben die Geschichte
Die Geschichte der fast vollständigen Auslöschung der litauischen Juden durch die nazideutschen Besatzer und mit Hilfe zahlreicher einheimischer Kollaborateure ist eher in historischen Werken zu finden – geschrieben von ausländischen Wissenschaftlern. 1984 veröffentlichte der israelische Dramatiker Joshua Sobol sein Stück „Ghetto“, das das moralische Dilemma der vor ihrer Vernichtung auf engsten Raum zusammengetriebenen Juden thematisiert. Einige der damaligen Entscheidungsträger hatten mit den Deutschen zusammengearbeitet – um so viel wie möglich Menschenleben zu retten, was letztendlich jedoch nur bedeutete: Deren Ermordung um ein paar Monate oder Wochen zu verzögern. Uraufführung hatte das Stück damals unter Peter Zadek in der Westberliner Volksbühne, die tragische Figur des (1943 schließlich ebenfalls erschossenen) Ghetto-Chefs Jacob Gens spielte Michael Degen, der wiederum als jüdisches Kind jene Jahre in einer Berliner Laubenkolonie überlebt hatte.
Jerusalem des Nordens
Bei einem heutigen Streifen durch jene Straßen von Vilnius, die früher das jüdische Viertel beherbergt und den Ruf der Stadt als „Jerusalem des Nordens“ begründet hatten, fragt sich der Besucher, ob anlässlich des Staatsjubiläums nicht auch daran erinnert werden sollte – als notwendiger Teil einer vielfach miteinander verwobenen europäischen Geschichte, die sich nicht auf Ost-versus-West verkürzen lässt. Wiederzuentdecken wäre dabei auch der französische Schriftsteller und zweifache Prix Goncourt-Preisträger Romain Gary, der 1914 als Roman Kacew in Wilna (dem heutigen Vilnius) geboren wurde und 1943 mit „Èducation européenne“ einen der ersten Romane über die Nazi-Verbrechen in Litauen schrieb; Jean-Paul Sartre hielt seinerzeit das noch heute eminent lesbare Buch für eines der wichtigsten der Epoche. Immerhin: Inzwischen erinnert in der Basanavicius-Straße eine Statue an Gary, die den weltberühmten Romancier als kleinen Wilnaer Jungen zeigt. Eine sympathische Geste, doch vielleicht auch unfreiwillig typisch für die offizielle Gedenkkultur eines Landes, die auch fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der sowjetischen Besatzung zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit zu neigen scheint.
Nur langsam dringen die Verbrechen ins kollektive Gedächtnis
Zum Glück gibt es auch Gegenläufiges. So versucht etwa der litauische Intellektuelle Victoras Bachmetjevas seit Jahren, seine Landsleute dafür zu interessieren, dass Emmanuel Lévinas nicht nur – wie es gern erwähnt wird – 1906 in einer jüdischen Familie in der Stadt Kaunas geboren wurde, sondern späterhin in Frankreich als Moralphilosph zahlreiche Intellektuelle prägte. Der Regisseur Marius Ivaskevicius konzediert, dass die einheimische Beteiligung am Holocaust längst nicht mehr geleugnet werde. Langsam dringt ins Bewusstsein, das auch dies Teil der nationalen Geschichte ist. Noch immer aber sei das Gedenken separiert: Die Erinnerung an die über hunderttausend litauischen Opfer der stalinistischen Massendeportationen finde kein wirkliches Pendant in der Vergegenwärtigung des Holocaust. Litauens prominentester Lyriker Eugenijus Alisanka, 1960 in Sibirien als Sohn von Zwangsdeportierten geboren, führt das auf die Wirkungsmacht eines Narrativs zurück, das Juden und Litauer nach wie vor als etwas Getrenntes wahrnimmt.
Die Litauer meiden ihr „Holocaust-Museum“
Dabei existiert in Vilnius längst ein modernes Museum, das an die hiesige Tradition der jüdischen Aufklärung erinnert. Die Guides im viel kleineren, auf einem Hügelchen gelegenen „Holocaust-Museum“ sind allerdings junge Österreicher, die hier mit viel Engagement ihr soziales Jahr ableisten – „weil im Nachkriegs-Österreich unzählige Nazis, die in Litauen gewütet hatten, straffrei davon gekommen waren“. Doch lediglich zwei (sic!) litauische Schulklassen hatten das Haus im letzten Jahr besucht. In die ehemalige KGB-Zentrale, die an die stalinistische Repression erinnert, strömen derweilen ungleich mehr Besucher – partiell verständlich angesichts der Tatsache, dass es in nahezu jeder litauischen Familie Opfer gab. Umgekehrt sind diese Verbrechen im kollektiven Gedächtnis des Westens bis heute nahezu inexistent.
Reges Gedenken an Opfer der stalinistischen Repression
Dennoch ist es irritierend, dass das Haus den Namen „Genozid-Museum“ trägt. Wäre, so fragt man sich, das hundertste Jubiläum der Staatsgründung nicht der beste Anlass zu öffentlichen Debatten, die jenseits von kaltherziger Relativierung an den Fakt erinnern, dass man als „bürgerlicher Litauer“ aus sowjetischer Verbannung mitunter zurückkehren konnte, als litauischer Jude unter den Nazis dagegen nicht die geringste Überlebenschance hatte? Der in Litauen geborene polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz und sein 1977 in die USA zwangsexilierter Dichterfreund Tomas Venclova haben eine solche Diskussion bereits vor Jahrzehnten angemahnt. Es wäre in Litauens ureigenem Interesse, käme sie nun endlich in Schwung.
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