Die „Beute­part­ner­schaft“ der Diktatoren

Bundes­archiv, Bild 101I-121‑0012-30 /​ CC-BY-SA 3.0

Nach dem Überfall auf Polen hielten deutsche und sowje­tische Panzer­ein­heiten am 22. Sep­tem­ber 1939 in Brest-Litowsk eine gemeinsame Militär­parade ab. Die gemeinsame Parade steht paradig­ma­tisch für die enge Zusam­men­arbeit der Dikta­toren Hitler und Stalin. 

Am 1. September 1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Rasch zeichnete sich der Zusam­men­bruch der polni­schen Armee unter den Schlägen der deutschen und sowje­ti­schen Truppen ab. Noch vor dem Ende der Kampf­hand­lungen in Warschau und der Kapitu­lation der polni­schen Armee hielten deutsche und sowje­tische Panzer­ein­heiten in Brest-Litowsk (heute Brest in Belarus) am 22. September 1939 eine gemeinsame Parade der Sieger ab. Das 19. Armee­korps unter General Heinz Guderian war aus Ostpreußen nach Süden vorge­stoßen, hatte in schweren Kämpfen die polni­schen Einheiten in Brest-Litowsk besiegt und die Stadt am 17. September einge­nommen. Am gleichen Tag begann der sowje­tische Einmarsch nach Polen von Osten her, und eine sowje­tische Panzer­einheit unter General Semen Kriwo­schein erreichte am 20. September ebenfalls Brest-Litowsk. 

Portrait von Gerhard Simon

Gerhard Simon war Professor an der Univer­sität zu Köln und gilt als einer der renom­mier­testen Ukraine-Experten in Deutschland.

Die politi­schen Voraus­set­zungen für das Zusam­men­wirken der deutschen und sowje­ti­schen Armeen waren durch den deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffspakt (Hitler-Stalin-Pakt), insbe­sondere aber durch das ihn beglei­tende geheime Zusatz­pro­tokoll vom 23. August 1939 geschaffen worden. Darin hatten die Dikta­toren Osteuropa in „Inter­es­sensphären“ geteilt; Polen wurde entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR aufge­teilt. Jedoch war die Festlegung einer Demar­ka­ti­ons­linie noch nicht in allen Einzel­heiten erfolgt.

Vieles spricht dafür, dass Guderian das geheime Zusatz­pro­tokoll nicht im Detail kannte. Er ging offenbar davon aus, dass Brest-Litowsk auf Dauer unter deutscher Besatzung bleiben würde. Zu seinem Ärger wurde er vom Auswär­tigen Amt angewiesen, Stadt und Festung bis zum 22. September zu räumen und an die sowje­ti­schen Truppen zu übergeben. Er hatte sich – gemäß den Bestim­mungen des geheimem Zusatz­pro­to­kolls – auf das westliche Ufer des Bug zurückzuziehen.

Ein deutsches Kamerateam filmte

Der Vorschlag einer gemein­samen Parade der deutschen und sowje­ti­schen Truppen ging von deutscher Seite aus. Kriwo­schein war zurück­haltend und lehnte anfangs das Unter­nehmen ab. Die deutsche Seite war jedoch außer­or­dentlich daran inter­es­siert, mögli­cher­weise auch deshalb, weil so kaschiert werden konnte, dass die Parade im direkten Zusam­menhang mit dem Rückzug aus Brest-Litowsk stand. Die Parade erhielt auf deutscher Seite erheb­liche öffent­liche Aufmerk­samkeit. Ein deutsches Kamerateam filmte, und die gemeinsame Parade wurde im Oktober 1939 in der „Deutschen Wochen­schau“ gezeigt. Für die deutsche Führung hatte die gemeinsame Parade mit den Sowjets wohl auch den politi­schen Zweck, den Westmächten das gute Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjet­union zu demons­trieren und deutlich zu machen, dass für Deutschland keine Gefahr eines Zweifron­ten­krieges bestand. Die Wehrmacht würde jetzt vielmehr alle Kräfte auf den Krieg gegen die Westmächte konzentrieren.

Die Sowjets hatten umgekehrt ein Interesse daran, die militä­rische Zusam­men­arbeit mit der Wehrmacht herun­ter­zu­spielen. Ja, die sowje­tische Propa­ganda hielt offiziell daran fest, dass die Sowjet­union im Krieg zwischen Deutschland und Polen neutral sei, während sie in Wirklichkeit bis zum Juni 1941 faktisch ein Verbün­deter des Deutschen Reiches war.

Am Nachmittag des 22. Septembers 1939 nahmen die Komman­deure Guderian und Kriwo­schein gemeinsam im Zentrum von Brest-Litowsk den Vorbei­marsch eines deutschen und eines sowje­ti­schen Panzer-Bataillons ab. Zu den unerwar­teten Momenten mag man zählen, dass beide Generäle Franzö­sisch sprachen und sich ohne Dolmet­scher unter­hielten; Krivo­schein war Jude. Zum Schluss wurde feierlich die deutsche Flagge eingeholt und die sowje­tische aufge­zogen. Ein deutsches Militär­or­chester spielte die Natio­nal­hymnen. Unmit­telbar danach verließen die deutschen Truppen Stadt und Festung Brest-Litowsk. Zuvor war gemeinsam ein Grenz­stein gesetzt worden, der jetzt die Sowjet­union und die deutsche Besat­zungszone vonein­ander trennte. Polen hatte in dieser Region aufgehört zu bestehen.

Man koope­rierte und verdammte sich

Die gemeinsame Parade in Brest-Litowsk – es ist umstritten, ob damals auch in anderen polni­schen Städten gemeinsame „Sieger­pa­raden“ statt­ge­funden haben – war paradig­ma­tisch für die enge Zusam­men­arbeit der beiden Dikta­turen. In den Monaten nach Abschluss des Hitler-Stalin Paktes im August 1939 erreichte die Zusam­men­arbeit in Wirtschaft, Diplo­matie und Militär ihren Höhepunkt. Besonders die sowje­tische Seite hielt sich penibel an die Verein­ba­rungen; sowje­tische Güterzüge mit Waren für Deutschland rollten noch im Juni 1941 über die Grenze.

Die enge Koope­ration der beiden Dikta­toren war von Stalin seit Mitte der Dreißi­ger­jahre angestrebt worden. Das geschah ungeachtet der gleich­zei­tigen propa­gan­dis­ti­schen, wechsel­sei­tigen Verdammung, die aller­dings in den Jahren der offenen „Beute­part­ner­schaft“ (Daniel Koerfer) von August 1939 bis Juni 1941 weitgehend auf Null gestellt wurde.

Stalin glaubte in seiner ideolo­gi­schen Verblendung – der Kapita­lismus zwingt die kapita­lis­ti­schen Staaten, einander zu vernichten – , das natio­nal­so­zia­lis­tische Deutschland und die Westmächte würden sich in aller­nächster Zeit gegen­seitig in einem Krieg zerflei­schen, die Sowjet­union würde der lachende Dritte sein und dann das antikom­mu­nis­tische Deutschland mit Leich­tigkeit besiegen. Stalin war so von der Schlüs­sigkeit und Richtigkeit seiner Einschätzung überzeugt, dass er sich bis zum deutschen Überfall auf die Sowjet­union im Juni 1941 nicht davon abbringen ließ und die offen­sicht­lichen Indizien, die spätestens seit dem Winter 1940/​41 den deutschen Angriff auf die Sowjet­union ankün­digten, für britische Propa­ganda hielt. Stalin tappte in die selbst gestellte Falle. Seine Fehlein­schätzung und Halsstar­rigkeit kostete Millionen Sowjet­bürger das Leben.

„Es gab keine Parade“

Im postso­wje­ti­schen Russland hat die Erzählung von der Parade in Brest-Litowsk eine unerwartete Wendung genommen. Ja, offiziell gab es diese Parade gar nicht. Zwar ließ sich seit 1989 die Existenz des geheimen Zusatz­pro­to­kolls zum Hitler-Stalin Pakt nicht mehr – wie in den Jahrzehnten zuvor – leugnen, aber die heutige offizielle russische Geschichts­schreibung hat die gemeinsame Parade wegar­gu­men­tiert. Das geschah, um das Bild von Stalin möglichst unbefleckt zu lassen. Aus dem gleichen Grund diente der Hitler-Stalin-Pakt, folgt man der heutigen offizi­ellen Geschichts­version, der Erhaltung des Friedens.

Während russische Histo­riker noch in den Neunzi­ger­jahren kontrovers über gemeinsame Paraden der Wehrmacht und der Roten Armee in Polen disku­tierten, trat später eine ganze Phalanx russi­scher Fachleute auf, unter denen die Parade aus der Wirklichkeit verschwand. Die Gemäßigten machten geltend, der Vorbei­marsch habe nicht den Vorschriften des Statuts der Roten Armee über eine Parade entsprochen. Der Histo­riker und Minister für Kultur, Wladimir Medinskij, oberster Hüter der russi­schen Geschichts­po­litik, ging viel weiter. Die Parade, die „es ganz einfach nicht gab“ sei ein „populärer Mythos“, das Bildma­terial eine Fotomontage. Da erscheint es angebracht, an General Kriwo­schein, den sowje­ti­schen Mitver­an­stalter, zu erinnern, der in seinen 1964 erschie­nenen Memoiren das Event ohne Einschrän­kungen eine Parade nannte.

Textende

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