Nach dem polnischen EU-Urteil – über den unheimlichen Zusammenhang zwischen Rechtsstaatsdilemma und Identitätspolitik
Nach Jahren des Streits über Rang und Geltung des Rechtsstaatsprinzips in der Europäischen Union scheint die Auseinandersetzung zwischen Brüssel, Luxemburg und Warschau nun doch endlich dort angekommen zu sein, wo sie hingehört: auf Platz 1 der europäischen politischen Agenda. Allerdings ist es alles andere als sicher, dass das seit langem zu Recht von verschiedener Seite geforderte energische Auftreten der EU-Kommission das Kernproblem löst. Denn dieses liegt nicht im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, sondern in widersprüchlichen Auffassungen des Integrationsprinzips und deren Vermittlung an europäische Wählerschaften.
Das Echo der Entscheidung des polnischen Verfassungstribunals bezüglich des angeblichen Vorrangs polnischen Rechts vor EU-Recht am 7. Oktober 2021 wird so schnell nicht verhallen. Der seit Jahren deutlich wahrnehmbare Missklang hinsichtlich des offenen bzw. materiell begrenzten Charakters des EU-Integrationsprozesses zwischen der nationalkonservativen Regierung auf der einen und verschiedenen EU-Institutionen und weiteren EU-Mitgliedsstaaten auf der anderen Seite nimmt zunehmend den Charakter eines Störfunks an. Beinahe entsteht der Eindruck, als beanspruche Warschau nicht etwa nur einen Platz unter den ersten Geigen oder gar die Rolle des Konzertmeisters für sich, sondern wolle schlichtweg den Dirigenten abschaffen und Kakophonie zu einer neuen Kunstform erheben. Angesichts des Streits im Orchester sollte aber nicht vergessen werden, dass die Musik nicht für die Regierungen, sondern für das „Publikum“ der europäischen Bürgerinnen und Bürger gespielt wird. Deren Erwartungen an „ihren“ Klangkörper sind aber ebenso heterogen wie die gegenwärtige politische Gemengelange in Europa.
Eine Provokation mit Ansage
Das erwähnte Urteil des polnischen Verfassungstribunals kam nicht überraschend. Nicht nur deshalb, weil für dessen Veröffentlichung auf einen opportunen politischen Moment gewartet wurde. Vielmehr haben verschiedene hochrangige Vertreter der polnischen Rechten seit etwa 5 Jahren in populistischer Manier – gemäß dem Motto: „weder Moskau noch Brüssel darf uns vorschreiben, wie wir zu leben haben“ – in der öffentlichen Debatte ähnliche Auffassungen vertreten. Ein kurzer Blick in die polnische Verfassung sowie in entsprechende Kommentare von Rechtsexperten reicht völlig aus, um festzustellen, dass sie mit dieser Position nicht nur im Widerspruch zu den geltenden EU-Verträgen und den durch Polen im Beitrittsvertrag eingegangenen Verpflichtungen stehen, sondern auch unter Verdrehung der politischen Realitäten bewusst die polnische Verfassung missverständlich auslegen.
Gemäß Art. 87 gehören die Verfassung, Gesetze, ratifizierte internationale Verträge und Verordnungen zu den Quellen des Rechts in der Polnischen Republik. Polen kann zudem auf der Grundlage internationaler Verträge einer internationalen Organisation oder einem entsprechenden Organ Kompetenzen staatlicher Gewalt in ausgewählten Angelegenheiten übertragen (Art. 90 Satz 1) und verpflichtet sich zur Einhaltung bindenden internationalen Rechts (Art. 9). Für die Republik Polen gilt also das Gleiche wie z.B. für die Bundesrepublik Deutschland: EU-Recht steht keineswegs über der Verfassung, aber das Recht eines EU-Mitgliedsstaats muss EU-rechtskonform sein. Übertragen auf die rechtliche Materie, in dem es im Streit um die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips mit Polen geht, heißt das: Polen kann seinem Justizsystem eine x‑beliebige Gestalt geben, solange sie eine Gewähr für die Einhaltung der in Art. 2 EUV aufgezählten demokratischen Grundprinzipien einschließlich Rechtsstaatlichkeit bietet. Genau dies hat der EuGH mit Blick auf das neue System der Ernennung und Disziplinierung von Richterinnen und Richtern mehrfach angezweifelt, da ihre politische Unbeeinflussbarkeit infrage gestellt sei.
Unmissverständliche Kritik an der „immer engeren Union der Völker Europas“
Um der materiellen Prüfung dieses Tatbestands auszuweichen und den Urteilen des EuGH vom Juli 2021 nicht Folge leisten zu müssen, hat das polnische Verfassungstribunal gleich zu Beginn seiner Urteilsbegründung die steile These aufgestellt, dass die Polnische Republik gegenwärtig nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat funktionieren könne, weil der europäische Integrationsprozess in Form der in der Präambel des EU-Vertrags beschworenen „immer engeren Union der Völker Europas“ auf der Grundlage von EU-Recht und dessen Auslegung durch den EuGH eine (Zitat) „neue Etappe“ erreicht habe, in der die Organe der EU die Grenzen der von Polen übertragenen Kompetenzen überschreiten würden.[1] Mit anderen Worten: es kritisiert nicht etwa nur das konkrete Vorgehen der EU-Kommission gemäß Art. 7 EUV, sondern spricht dem EuGH nach eigenem Gutdünken die Rechtssprechungskompetenz ab, ein wohl beispielloser Schritt .
Allerdings ist diese Rechtsauslegung bei einer derart von der Regierung abhängigen Institution wie dem polnischen Verfassungstribunal nur als das zu verstehen, was es wirklich ist – ein in juristische Formen gegossenes politisches Statement. Die Reaktionen auf das Urteil fielen erwartbar, wenn auch erregter aus als sonst. Während aus vielen europäischen Hauptstädten diesmal mehr als nur besorgte Worte zu hören waren und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen nun aber wirklich eine härtere Gangart ankündigte, stellt der polnische Premierminister Morawiecki das Urteil als eine Selbstverständlichkeit im Sinne der Aufrechterhaltung von Souveränität und gegenseitiger Wertschätzung unter gleichberechtigten Partnern dar. Und warnte in einem Brief an seine Amtskollegen in anderen EU-Mitgliedern davor, hier werde gerade ein antidemokratischer Präzedenzfall geschaffen. Demgegenüber sieht die polnische Opposition, vor allem aber der jüngst aus Brüssel in die polnische Politik zurückgekehrte Donald Tusk, endlich eine Chance, die generell mehrheitlich pro-europäisch eingestellte Bevölkerung durch die Angst vor einem Polexit zu mobilisieren und so die PiS in den nächsten Wahlen doch noch zu schlagen.
Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert
Allerdings wären europäische Politiker mit Blick auf die schmerzhaften Lehren aus dem Brexit gut beraten, sich aus dem direkten innenpolitischen Kampf in Polen herauszuhalten, auch wenn die Bilder von wehenden EU-Flaggen auf polnischen Straßen nach dem Brexit ein verlockender Balsam auf die Seele des politischen Personals in Brüssel und Straßburg sind. Die Europäische Union wird unweigerlich in eine Sackgasse geraten, wenn ihre Entscheidungsträger weiterhin so tun, als ob die föderale Idee der „immer engeren Union“ eine uneingeschränkt von allen geteilte Grundlage eines ideologischen Konsenses bezüglich des Integrationsprozesses wäre. Ohne eine in den 1990er Jahren noch für zumindest zukünftig möglich gehaltene, heutzutage aber undenkbare Parlamentarisierung der „Governance“-Strukturen der EU wird die Idee einer weiteren Föderalisierung zum Problem: statt über die Jahre einen echten europäischen Demos hervorzubringen, der eine einende Triebkraft des Integrationsprozesses werden könnte, verstärkt sie unnötig die im Zeitalter von Populismus und Identitätspolitik ohnehin bereits gefährlich zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung und damit tendenziell das Auseinanderdriften der Union. Dass rechtsgaullistische Strategen wie die nationalkonservative PiS nun selbst nicht einmal mehr vor der Nutzung „atomarer“ Optionen zurückschrecken, zeigt vor allem eines: die Union hat ihnen vielleicht nicht das Spielfeld überlassen, sich aber sehr wohl den Spielstil diktieren lassen.
In guter Absicht und ehrlicher Empörung spielen viele Gruppierungen der demokratischen Mitte in der öffentlichen Debatte ungewollt das Überwältigungs- und Verdrehungsspiel der Populisten und Radikalen mit. Es ist die mangelnde Klarheit in der Kommunikation über die Hierarchie jener Werte, die unser Leben in Freiheit sichern – also Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeit, bürgerliche Freiheiten, Frauenrechte, Schutz von Minderheiten – die der Rechten erst die Möglichkeit zur Erringung der Lufthoheit in den Köpfen verschafft hat. Zugespitzt formuliert: Ist Abtreibungsrecht eine Rechtsstaatsfrage? Ist jemand, der Probleme mit der Akzeptanz von LGBTIQ-Communities hat, fast schon kein Demokrat mehr?
Wer meint, dies sei eine böswillige Unterstellung, der werfe einen kurzen Blick auf beliebige Verlautbarungen und Entscheidungen des Europäischen Parlaments, in denen die vielerorts Empörung hervorrufenden Anti-LGBT-Gesetze in Ungarn oder die äußerst prekäre Abtreibungsregelung in Polen in einem Atemzug mit der Rechtsstaatsfrage genannt werden.[2] Das ist alles gut gemeint und irgendwie richtig, aber genau genommen stimmt es dann eben doch nicht. Das Personal des Politik‑, Medien- und Universitätsbetriebs weiß sicherlich (noch), was gemeint ist, aber in den sozialen Medien und draußen auf dem Lande verfängt auch dank dessen eben doch viel schneller die große verschwörungstheoretische Erzählung der Kaczyńskis und Orbans, der Salvinis und Le Pens, die sinngemäß lautet: „Wenn die da oben Rechtsstaat sagen, dann heißt das, dass sie Euren Lebensstil verachten“.
Fördern und Fordern
Um es ganz klar zu sagen: mit der Verteidigung des Rechtsstaatsprinzip steht und fällt die Europäische Union. Den Bestand der Integration und der damit verbundenen Bürgerrechte zu erhalten, muss unter den gegenwärtigen Bedingungen absolute Priorität haben. Diese Feststellung ändert aber nichts an der zwingenden Notwendigkeit für den politischen Betrieb, endlich wieder auf Augenhöhe mit jenen Menschen ins Gespräch zu kommen, die zweifeln, die aus irgendeinem Grunde von diesem oder jenem nicht überzeugt sind. Anstelle dessen werden immer anspruchsvollere ideologische Gesamtpakete geschnürt, die noch mehr überfordern, statt das Leben und die Bewältigbarkeit der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begreifbar und greifbar zu machen. Fortschritte auf dem Gebiet der Durchsetzung und Erweiterung von Menschenrechten erfordern heute paradoxerweise zunächst Mäßigung und ganz viel Überzeugungsarbeit. Wer hier substanzielle Fortschritte will, der muss massiven finanziellen Förderungen für Progressive das Wort reden, nicht aber finanziell bewehrten, rechtlichen Strafmaßnahmen für Konservative.
Die gegenwärtig beinahe unwirklich wirkenden, enorm hohen Zustimmungsraten für die EU-Mitgliedschaft in Ländern wie Polen (zwischen 80 und 90%) haben etwas mit der rationalen Einschätzung zu tun, dass sie greifbare und weitestgehend unverzichtbare Vorteile mit sich bringt. Schaut man hingegen auf die Ergebnisse der letzten Europawahl, so haben in 2019 mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme jenen Parteien gegeben, die keinen Hehl aus ihren teils erheblichen Vorbehalten gegenüber dem derzeitigen Funktionieren des Integrationsprozesses machen, allen voran die PiS mit ca. 45%, aber auch rechte Parteien wie Konfederacja mit 4,6% und Kukiz mit 3,7%. Bald könnte es sich erweisen, dass diese Entwicklung mitnichten nur auf Länder wie Polen beschränkt bleibt.
Die Debatte im Europäischen Parlament am 19.10.2021 aus Anlass des Urteils des polnischen Verfassungstribunals, während der auch der polnische Ministerpräsident sprach, zeigte in plastischer Weise, wie weit die mithilfe der Vermischung verschiedener politischer Anliegen und rechtlicher Materien befeuerte Polarisierung nicht nur in Polen, sondern auch in Europa bereits vorangeschritten ist. Schützenhilfe erhielt Morawiecki dabei mitnichten nur von den Europaabgeordneten der PiS, die seit Jahren gegen die „Ideologen aus Brüssel“ wettern. Dafür wurde von Seiten etlicher Vertreterinnen und Vertreter christdemokratischer, liberaler oder linker Gruppierungen die Vermischung der bereits erwähnten Materien – Rechtsstaat, LGBT-freie Zonen und Abtreibungsrecht – jetzt auch noch um das Thema Grenzsicherung ergänzt. Das wirkt befremdlich bis heuchlerisch angesichts der stillschweigenden Duldung der polnischen Maßnahmen durch Brüssel, in Reaktion auf den vom Lukaschenko-Regime zynisch forcierten Zustrom von Menschen aus dem arabischen Raum auf die EU-Außengrenze.
Mangelnde rhetorische und argumentative Klarheit treibt die Menschen Demagogen in die Arme. Wenn immer weiter verallgemeinert und polarisiert wird, wenn die feinen Unterschiede verloren gehen zwischen dem, was lebenswichtig, und dem, was äußerst wünschenswert ist, dann verkommen Wahlentscheidungen Stück für Stück zum Abnicken von Weltanschauungsrhetorik. Das hat dann kaum noch etwas mit einem politischen Wunschkonzert, viel mehr aber mit einem gesellschaftlichen Scherbengericht gemein. Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn Parteien wie die PiS trotz der gegenwärtigen Großproteste auch die nächste Wahl gewinnen. Und die Europäische Union langfristig immer tiefer im Morast versinkt.
[1] Vgl. Trybunał Konstytucyjny, Ocena zgodności z Konstytucją RP wybranych przepisów Traktatu o Unii Europejskiej, https://trybunal.gov.pl/postepowanie-i-orzeczenia/wyroki/art/11662-ocena-zgodnosci-z-konstytucja-rp-wybranych-przepisow-traktatu-o-unii-europejskiej (abgerufen am 19.10.2021).
[2] Vgl. beispielhaft für Polen: Attacks on abortion rights and breaches of the rule of law in Poland, https://www.europarl.europa.eu/news/sk/press-room/20210219IPR98207/attacks-on-abortion-rights-and-breaches-of-the-rule-of-law-in-poland (abgerufen am 19.10.2021); für Ungarn: EU votes for action over Hungary’s anti-LGBT law, https://www.bbc.com/news/world-europe-57761216 (abgerufen am 19.10.2021).
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