National Health Service: der Wert öffentlicher Institutionen
Öffentliche Institutionen dienen in stürmischen Zeiten als stabilisierende Ankerpunkte. Sie stehen für Kontinuität inmitten tiefgreifender Veränderungen; als Gemeinschaftsgüter repräsentieren sie die demokratische Republik. So auch das NHS, das öffentliche Gesundheitssystem Großbritanniens. In der Coronakrise hat sich gezeigt, wieviel es den Briten bedeutet – obwohl es unterfinanziert ist und der Krise schlechter gewachsen als Gesundheitssysteme vergleichbarer Länder. Die Pandemie könnte eine Debatte über Bedeutung und Ausmaß der staatlichen Daseinsvorsorge auslösen.
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie gibt es in Großbritannien jeden Donnerstag um acht Uhr abends eine Runde Applaus für die Ärzte und das Pflegepersonal im Land. Die Briten klatschen und trommeln für das Gesundheitssystem NHS (National Health Service). Ärzte, Krankenschwester und Pfleger arbeiten gerade rund um die Uhr in britischen Krankenhäusern, um die schwersten Fälle der Patienten zu behandeln, die an Covid-19 erkrankt sind. Auch Premierminister Boris Johnson verbrachte mehrere Tage auf einer Intensivstation und bedankte sich danach bei Ärzten und Pflegern, die sein Leben gerettet hätten. Der NHS ist in dieser Krise für alle Briten ein Anker der Hoffnung.
Der NHS war schon immer eine der beliebtesten öffentlichen Institution in Großbritannien, populärer als das Königshaus, die BBC oder das Parlament. Die Liebe zum NHS und der Respekt für die Arbeit der Ärzte vereint Brexiteers und Remainer, Anhänger der Konservativen Partei und von Labour. Doch gleichzeitig ist das Gesundheitssystem in Großbritannien in den letzten Jahren chronisch unterfinanziert und unterbesetzt. Die Coronakrise droht das System zu überstrapazieren. Wie passt das zusammen? Und führt die Krise zum Umdenken?
NHS: Erinnerung an egalitäre Gesellschaft
Seit seiner Gründung 1948 ist der NHS für viele Briten ein Grund, stolz auf ihr Land zu sein. In der Nachkriegszeit führte die damalige Labour-Regierung eine steuerfinanzierte kostenlose medizinische Versorgung für alle ein, als Teil ihrer Vision vom prosperierenden Sozialstaat. „Viele Menschen halten heute so stark am Gesundheitssystem fest, ausgerechnet weil es eine Erinnerung an eine egalitärere Gesellschaft und ein Antidot zu unseren egoistischen Zeiten ist“, schrieb das Magazin The Economist zum 70. Jubiläum des NHS.
Doch zuletzt machte der NHS fast nur negative Schlagzeilen. 20 Prozent der Patienten mussten Ende vergangenen Jahres (Stand Dezember) länger als vier Stunden in Notaufnahmen warten. 23 Prozent der Patienten warteten länger als zwei Monate auf den Beginn ihrer Krebsbehandlung. Im Dezember sagten 55 Prozent der Briten in einer Umfrage, dass der Zustand des NHS das wichtigste Problem für das Land sei – mehr Menschen waren um das Gesundheitssystem besorgt als um den Brexit.
Ein Vergleich zu anderen OECD-Ländern zeigte vor zwei Jahren, dass das britische Gesundheitssystem seine Vor- und Nachteile hat. Das größte Vorteil des NHS liegt darin, dass er kostenlos und für alle zugänglich ist. Auch aufwändige und teure Behandlungen stehen allen Patienten komplett frei zur Verfügung. Der NHS ist relativ gut und effizient verwaltet. Doch die Anzahl von Ärzten und Krankenpflegern sowie die Anzahl von CT- und MRT-Geräten pro Einwohner liegt in Großbritannien unter dem OECD-Durchschnitt. Auch die Sterblichkeitsrate bei Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkten oder Schlaganfällen ist höher als in vergleichbaren Ländern.
Pflegenotstand wie in Deutschland
Ein gravierendes Problem für das britische Gesundheitssystem ist der Personalmangel. Zwar ist der NHS mit 1,2 Millionen Mitarbeitern der größte Arbeitgeber in Europa, doch rund 100.000 Stellen bleiben unbesetzt. Besonders schwerwiegend sei der Mangel an Allgemeinärzten und Krankenschwestern, stellten im vergangenen Jahr die auf Gesundheitswesen spezialisierte Thinktanks King’s Fund, Nuffield Trust und Health Foundation in einem Bericht fest. Nach ihren Einschätzungen sind zusätzliche Investitionen in die Ausbildung von Ärzten und Krankenschwestern nötig – in Höhe von 900 Millionen Pfund jährlich. Der Brexit und die geplante restriktive Einwanderungspolitik könnten künftig den Personalmangel noch verschlimmern.
Auch bei den Sozialdiensten und in der Pflege herrscht Personalmangel. In Großbritannien bilden sie einen separaten Bereich mit 1,1 Millionen Mitarbeitern, doch besonders die Probleme in der Pflege haben direkte Auswirkung auf das Gesundheitssystem. Momentan fehlen in Großbritannien rund 110.000 Pflegekräfte. Das bedeutet etwa, dass viele ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen nicht zu Hause betreut werden können, was zu einer höheren Belastung der Krankenhäuser führt. Wie in vielen anderen Ländern sind Pflegekräfte schlecht bezahlt und arbeiten oft unter prekären Bedingungen. Nach Angaben der Organisation Skills for Care ist ein Viertel von Menschen im britischen Pflegesektor mit sogenannten Null-Stunden-Verträgen beschäftigt, die es den Arbeitgebern erlauben, Angestellte nur dann heranzuziehen und zu bezahlen, wenn sie benötigt werden.
Die Qualität der medizinischen Dienstleistungen ist ohne Zweifel besser als etwa in den 1980er Jahren. Doch im Vergleich zu der Zeit vor der Finanzkrise von 2008 erlebte das Gesundheitssystem einen Rückfall. Der NHS hat auch unter der Sparpolitik gelitten, die die britische Regierungen nach der Finanzkrise dem Land verordnet haben – auch wenn das Gesundheitssystem weniger stark als andere öffentliche Dienste betroffen war. Die Finanzierung ist jedes Jahr um 1,4 Prozent inflationsbereinigt gestiegen – das reichte aber kaum aus. Die Gehälter der NHS-Mitarbeiter wurden in der Zeit zwischen 2010/11 und 2017/18 eingefroren – was dazu führte, dass ein reales Einstiegsgehalt einer Krankenschwester in dieser Zeit um 10 Prozent gesunken ist.
Anfängliche Strategie der „Herdenimmunität“ könnte NHS überlasten
Die größte Herausforderung war jedoch, dass die Bevölkerung in Großbritannien wie in vielen anderen europäischen Ländern immer älter wird und die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen dementsprechend steigt. Zusammen mit Einsparungen im Pflegebereich führte das zu einem Anstieg an Notfällen und Druck auf Krankenhäuser.
2018 machte die damalige Regierungschefin Theresa May Schluss mit der Sparpolitik im Gesundheitswesen und verkündete zusätzliche Finanzierung für den NHS in Höhe von 20 Milliarden Pfund pro Jahr bis 2023. Ihr Nachfolger Boris Johnson versprach noch mehr Geld für neue Krankenhäuser, Allgemeinärzte und medizinische Geräte. Vor den Wahlen versuchte die Konservative Partei den Ruf der Partei, die den NHS kaputtgespart hat, abzuschütteln.
Kamen diese Versprechungen zu spät? Zu Beginn der Corona-Pandemie stand Großbritannien schlechter vorbereitet da, als einige andere Länder in Europa. So hatte das Land nur 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, es fehlte an Beatmungsgeräten und Personal. In Krankenhäusern fehlt Ärzten Schutzkleidung. In Norwich Park Hospital in London mussten sich etwa drei Krankenschwestern Schutzkleidung aus Mülltüten basteln – später wurde sie alle positiv auf Coronavirus getestet. Die britische Regierung setzte zu Beginn des Ausbruchs auf die Idee einer „Herdenimmunität“ und führte die Quarantäne-Maßnahmen später als viele europäische Länder ein.
NHS: ein nationales Symbol
Seit Beginn der Krise versprach Finanzminister Rishi Sunak zusätzliche fünf Milliarden Pfund für den NHS. An mehreren Orten im Land wurden Feldlazarette aufgebaut, um Patienten mit Covid-19 zu behandeln. Pensionierte Ärzte sowie Medizinstudenten und Krankenschwestern in ihrem letzten Ausbildungsjahr haben das Gesundheitssystem verstärkt. Außerdem meldeten sich hunderttausende Menschen als freiwillige Helfer an. Der NHS ist wieder ein Symbol, um das sich eine Nation vereinen kann.
Doch die Corona-Krise zeigte auch, wie wichtig eine langfristige Planung und Investitionen ins Gesundheitssystem sind. Auch wenn der Höhepunkt der Krise vorbei sein wird, werden Ärzte all die Operationen nachholen müssen, die jetzt verschoben worden sind. Pflegekräfte und Krankenschwestern, die jeden Tag in den Nachrichten gefeiert werden, brauchen nicht nur Applaus, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter. Gleichzeitig dürften die finanziellen Folgen der Quarantäne und des Brexit weitere Investitionen in den geliebten NHS erschweren.
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