National Health Service: der Wert öffent­licher Institutionen

Das öffentliche Gesundheitssystem in Großbritannien (NHS) ist ein nationales Symbol. Julia Smirnova berichtet für LibMod / Zentrum Liberale Moderne, wie es sich in der Corona- / Covid-19-Krise bewährt.
John Gomez /​ Shutter­stock

Öffent­liche Insti­tu­tionen dienen in stürmi­schen Zeiten als stabi­li­sie­rende Anker­punkte. Sie stehen für Konti­nuität inmitten tiefgrei­fender Verän­de­rungen; als Gemein­schafts­güter reprä­sen­tieren sie die demokra­tische Republik. So auch das NHS, das öffent­liche Gesund­heits­system Großbri­tan­niens. In der Corona­krise hat sich gezeigt, wieviel es den Briten bedeutet – obwohl es unter­fi­nan­ziert ist und der Krise schlechter gewachsen als Gesund­heits­systeme vergleich­barer Länder. Die Pandemie könnte eine Debatte über Bedeutung und Ausmaß der staat­lichen Daseins­vor­sorge auslösen.

Seit dem Beginn der Corona-Pandemie gibt es in Großbri­tannien jeden Donnerstag um acht Uhr abends eine Runde Applaus für die Ärzte und das Pflege­per­sonal im Land. Die Briten klatschen und trommeln für das Gesund­heits­system NHS (National Health Service). Ärzte, Kranken­schwester und Pfleger arbeiten gerade rund um die Uhr in briti­schen Kranken­häusern, um die schwersten Fälle der Patienten zu behandeln, die an Covid-19 erkrankt sind. Auch Premier­mi­nister Boris Johnson verbrachte mehrere Tage auf einer Inten­siv­station und bedankte sich danach bei Ärzten und Pflegern, die sein Leben gerettet hätten. Der NHS ist in dieser Krise für alle Briten ein Anker der Hoffnung. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Journa­listin und Studentin am King’s College London. 

Der NHS war schon immer eine der belieb­testen öffent­lichen Insti­tution in Großbri­tannien, populärer als das Königshaus, die BBC oder das Parlament. Die Liebe zum NHS und der Respekt für die Arbeit der Ärzte vereint Brexi­teers und Remainer, Anhänger der Konser­va­tiven Partei und von Labour. Doch gleich­zeitig ist das Gesund­heits­system in Großbri­tannien in den letzten Jahren chronisch unter­fi­nan­ziert und unter­be­setzt. Die Corona­krise droht das System zu überstra­pa­zieren. Wie passt das zusammen? Und führt die Krise zum Umdenken?

NHS: Erinnerung an egalitäre Gesellschaft

Seit seiner Gründung 1948 ist der NHS für viele Briten ein Grund, stolz auf ihr Land zu sein. In der Nachkriegszeit führte die damalige Labour-Regierung eine steuer­fi­nan­zierte kostenlose medizi­nische Versorgung für alle ein, als Teil ihrer Vision vom prospe­rie­renden Sozial­staat. „Viele Menschen halten heute so stark am Gesund­heits­system fest, ausge­rechnet weil es eine Erinnerung an eine egali­tärere Gesell­schaft und ein Antidot zu unseren egois­ti­schen Zeiten ist“, schrieb das Magazin The Economist zum 70. Jubiläum des NHS.

Doch zuletzt machte der NHS fast nur negative Schlag­zeilen. 20 Prozent der Patienten mussten Ende vergan­genen Jahres (Stand Dezember) länger als vier Stunden in Notauf­nahmen warten. 23 Prozent der Patienten warteten länger als zwei Monate auf den Beginn ihrer Krebs­be­handlung. Im Dezember sagten 55 Prozent der Briten in einer Umfrage, dass der Zustand des NHS das wichtigste Problem für das Land sei – mehr Menschen waren um das Gesund­heits­system besorgt als um den Brexit.

Ein Vergleich zu anderen OECD-Ländern zeigte vor zwei Jahren, dass das britische Gesund­heits­system seine Vor- und Nachteile hat. Das größte Vorteil des NHS liegt darin, dass er kostenlos und für alle zugänglich ist. Auch aufwändige und teure Behand­lungen stehen allen Patienten komplett frei zur Verfügung. Der NHS ist relativ gut und effizient verwaltet. Doch die Anzahl von Ärzten und Kranken­pflegern sowie die Anzahl von CT- und MRT-Geräten pro Einwohner liegt in Großbri­tannien unter dem OECD-Durch­schnitt. Auch die Sterb­lich­keitsrate bei Krank­heiten wie Krebs, Herzin­farkten oder Schlag­an­fällen ist höher als in vergleich­baren Ländern.

Pflege­not­stand wie in Deutschland

Ein gravie­rendes Problem für das britische Gesund­heits­system ist der Perso­nal­mangel. Zwar ist der NHS mit 1,2 Millionen Mitar­beitern der größte Arbeit­geber in Europa, doch rund 100.000 Stellen bleiben unbesetzt. Besonders schwer­wiegend sei der Mangel an Allge­mein­ärzten und Kranken­schwestern, stellten im vergan­genen Jahr die auf Gesund­heits­wesen spezia­li­sierte Thinktanks King’s Fund, Nuffield Trust und Health Foundation in einem Bericht fest. Nach ihren Einschät­zungen sind zusätz­liche Inves­ti­tionen in die Ausbildung von Ärzten und Kranken­schwestern nötig – in Höhe von 900 Millionen Pfund jährlich. Der Brexit und die geplante restriktive Einwan­de­rungs­po­litik könnten künftig den Perso­nal­mangel noch verschlimmern.

Auch bei den Sozial­diensten und in der Pflege herrscht Perso­nal­mangel. In Großbri­tannien bilden sie einen separaten Bereich mit 1,1 Millionen Mitar­beitern, doch besonders die Probleme in der Pflege haben direkte Auswirkung auf das Gesund­heits­system. Momentan fehlen in Großbri­tannien rund 110.000 Pflege­kräfte. Das bedeutet etwa, dass viele ältere Menschen oder Menschen mit Behin­de­rungen nicht zu Hause betreut werden können, was zu einer höheren Belastung der Kranken­häuser führt. Wie in vielen anderen Ländern sind Pflege­kräfte schlecht bezahlt und arbeiten oft unter prekären Bedin­gungen. Nach Angaben der Organi­sation Skills for Care ist ein Viertel von Menschen im briti­schen Pflege­sektor mit sogenannten Null-Stunden-Verträgen beschäftigt, die es den Arbeit­gebern erlauben, Angestellte nur dann heran­zu­ziehen und zu bezahlen, wenn sie benötigt werden.

Die Qualität der medizi­ni­schen Dienst­leis­tungen ist ohne Zweifel besser als etwa in den 1980er Jahren. Doch im Vergleich zu der Zeit vor der Finanz­krise von 2008 erlebte das Gesund­heits­system einen Rückfall. Der NHS hat auch unter der Sparpo­litik gelitten, die die britische Regie­rungen nach der Finanz­krise dem Land verordnet haben – auch wenn das Gesund­heits­system weniger stark als andere öffent­liche Dienste betroffen war. Die Finan­zierung ist jedes Jahr um 1,4 Prozent infla­ti­ons­be­reinigt gestiegen – das reichte aber kaum aus. Die Gehälter der NHS-Mitar­beiter wurden in der Zeit zwischen 2010/​11 und 2017/​18 einge­froren – was dazu führte, dass ein reales Einstiegs­gehalt einer Kranken­schwester in dieser Zeit um 10 Prozent gesunken ist.

Anfäng­liche Strategie der „Herden­im­mu­nität“ könnte NHS überlasten

Die größte Heraus­for­derung war jedoch, dass die Bevöl­kerung in Großbri­tannien wie in vielen anderen europäi­schen Ländern immer älter wird und die Nachfrage nach medizi­ni­schen Dienst­leis­tungen dementspre­chend steigt. Zusammen mit Einspa­rungen im Pflege­be­reich führte das zu einem Anstieg an Notfällen und Druck auf Krankenhäuser.

2018 machte die damalige Regie­rungs­chefin Theresa May Schluss mit der Sparpo­litik im Gesund­heits­wesen und verkündete zusätz­liche Finan­zierung für den NHS in Höhe von 20 Milli­arden Pfund pro Jahr bis 2023. Ihr Nachfolger Boris Johnson versprach noch mehr Geld für neue Kranken­häuser, Allge­mein­ärzte und medizi­nische Geräte. Vor den Wahlen versuchte die Konser­vative Partei den Ruf der Partei, die den NHS kaputt­ge­spart hat, abzuschütteln.

Kamen diese Verspre­chungen zu spät? Zu Beginn der Corona-Pandemie stand Großbri­tannien schlechter vorbe­reitet da, als einige andere Länder in Europa. So hatte das Land nur 6,6 Inten­siv­betten pro 100.000 Einwohner, es fehlte an Beatmungs­ge­räten und Personal. In Kranken­häusern fehlt Ärzten Schutz­kleidung. In Norwich Park Hospital in London mussten sich etwa drei Kranken­schwestern Schutz­kleidung aus Mülltüten basteln – später wurde sie alle positiv auf Corona­virus getestet. Die britische Regierung setzte zu Beginn des Ausbruchs auf die Idee einer „Herden­im­mu­nität“ und führte die Quarantäne-Maßnahmen später als viele europäische Länder ein.

NHS: ein natio­nales Symbol

Seit Beginn der Krise versprach Finanz­mi­nister Rishi Sunak zusätz­liche fünf Milli­arden Pfund für den NHS. An mehreren Orten im Land wurden Feldla­za­rette aufgebaut, um Patienten mit Covid-19 zu behandeln. Pensio­nierte Ärzte sowie Medizin­stu­denten und Kranken­schwestern in ihrem letzten Ausbil­dungsjahr haben das Gesund­heits­system verstärkt. Außerdem meldeten sich hundert­tau­sende Menschen als freiwillige Helfer an. Der NHS ist wieder ein Symbol, um das sich eine Nation vereinen kann.

Doch die Corona-Krise zeigte auch, wie wichtig eine langfristige Planung und Inves­ti­tionen ins Gesund­heits­system sind. Auch wenn der Höhepunkt der Krise vorbei sein wird, werden Ärzte all die Opera­tionen nachholen müssen, die jetzt verschoben worden sind. Pflege­kräfte und Kranken­schwestern, die jeden Tag in den Nachrichten gefeiert werden, brauchen nicht nur Applaus, sondern auch bessere Arbeits­be­din­gungen und höhere Gehälter. Gleich­zeitig dürften die finan­zi­ellen Folgen der Quarantäne und des Brexit weitere Inves­ti­tionen in den geliebten NHS erschweren.

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