Österreich hat gewählt – Es bleibt kompliziert

Im Herbst 2024 wurde hier im Vorfeld der österreichischen Nationalratswahl über die Lage berichtet. Der aufmerksamen Leserin wird nicht entgangen sein, dass das dort skizzierte Szenario ziemlich genau eingetroffen ist. Selten hat sich der Autor mehr gewünscht, nicht Recht gehabt zu haben… Aber jetzt haben wir den Salat, meint Fred Luks.
Stand heute ist es nicht gerade unwahrscheinlich, dass der sehr, sehr rechte Politiker Herbert Kickl der Kanzler dieses schönen Landes wird. Die Lage ist also nicht nur kompliziert, sondern auch dramatisch. Und das erfordert, nochmal kurz ins Grundsätzliche zu gehen. Besonders kompakt geht das wohl mit den Sprüchen und Scheinweisheiten, die über die Alpenrepublik existieren und die oftmals absurd klingen, aber eigentlich nie gänzlich an der Sache vorbeigehen.
Hoffnung und Hoffnungslosigkeit
Zum Beispiel: Wo der Deutsche sagt, die Lage sei ernst, aber nicht hoffnungslos, sagt die Österreicherin, die Lage sei hoffnungslos, aber nicht ernst. Dies oft zitierte und unterschiedlichen Personen zugesprochene Bonmot ist mehr als ein Witz über die unterschiedlichen Befindlichkeiten in Deutschland und Österreich – darin steckt auch eine tiefere Wahrheit über Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Die Lage ist in Europa sehr ernst – aber eben mitnichten hoffnungslos. In Österreich weiß man: Wenn Hoffnungslosigkeit siegt, ist’s eh schon wurscht. Daran darf man sich in diesen Wochen erinnern.
Der ebenfalls oft zitierte Rat, im Falle eines Weltuntergangs nach Wien zu gehen, weil da alles 50 Jahre später kommt, scheint in dieser Lage zutiefst unangemessen. Er ist in den letzten Wochen sehr schlecht gealtert. Denn nicht wenig spricht dafür, dass die Dramen und Absurditäten der letzten Wochen ein Vorgeschmack auf das sein könnten, was woanders erst noch kommt – in Deutschland zum Beispiel. Da passt dann eine Formulierung von Friedrich Hebbel besser: Österreich, so schrieb der, sei „eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.“ Ja, genau das ist zu befürchten. Dass zum Beispiel der nördliche Nachbar diesem Trend folgt, ist – siehe die jüngsten Entwicklungen im Bundestag – mitnichten ausgeschlossen.
Aus Erfahrung dümmer werden
In Gefahr und in Not ist der Mittelweg bekanntlich der Tod. Und damit zu einem Autor, der durch seine Kompromisslosigkeit ebenso aufgefallen ist wie durch seine Brillanz: Karl Kraus. Ob er das Folgende tatsächlich gesagt hat, ist unsicher – wenn nicht, ist’s immerhin gut erfunden: „Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird.“ Der Satz passt ziemlich perfekt zum Umgang mit der „freiheitlichen“ FPÖ. Es ist bekannt, wie sie in der türkis-blauen Koalition mit dem ehemaligem Superstar Sebastian Kurz regiert hat: schlecht bis katastrophal. Es ist bekannt, dass die vermeintlichen „Einzelfälle“ der FPÖ-Ausfälle in Richtung Rechtsextremismus durchaus System haben. Und es ist bekannt, was die FPÖ unter Kickl bei Themen wie Migration, Medienfreiheit, EU, Ukraine und Russland vorhat – gewiss nichts, das irgendetwas mit Liberalität zu tun hat.
Den Weltuntergang proben
Daher nochmal Karl Kraus, und diesmal ist das Zitat gesichert: In der Zwischenkriegszeit hat er Österreich einmal als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ bezeichnet. Das darf man, siehe oben, ernst nehmen – und zwar nicht bloß als historische Randnotiz, sondern als Warnung für die Gegenwart. Nicht wenige sprechen schon von der „dritten Republik“, die es mit Kickl als Kanzler geben würde. Man kann das für übertrieben halten. Aber nur ein bisschen, denn wenn die ÖVP sich wirklich auf ihrem – wie viele meinen: selbstzerstörerischen – Kurs weiterbewegt, werden wir uns wohl noch wundern, was alles möglich ist. Wie konnte es soweit kommen?
Nun: Die offenbar schreiende Verhandlungs-Inkompetenz der beteiligten Personen in Kombination mit dem unverhohlenen Wunsch der Wirtschaftsverbände nach einem konservativ-rechtspopulistischen Bündnis war wohl der zentrale Grund für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen. Die Kirsche auf der Torte war der plötzliche – und mit keinerlei konkreten ultimativen Forderungen verbundene – Ausstieg der liberalen NEOS aus den Gesprächen. Deren Chefin meinte in ihrer mit Vorwürfen an die anderen Parteien garnierten Erklärung, die Verhinderung Kickls als Bundeskanzler sei kein hinreichender Grund für eine Koalition. Na servus! Nach diesem Gehabe werden die NEOS für viele unwählbar sein – zumindest so lange, bis die amtierende Parteichefin, die bis zum Desaster eigentlich eher beliebte Beate Meinl-Reisinger, Konsequenzen zieht und abtritt. Das freilich ist unwahrscheinlich: Im Vergleich zu Deutschland gibt es hier keine unterwickelte „Rücktrittskultur“ – es gibt überhaupt keine. Tendenziell könnte man sagen: Was in Deutschland zu Haftstrafen führt, ist in Österreich noch lange kein Rücktrittsgrund.
Eine gescheiterte Strategie
Jedenfalls: Die Strategie des Bundespräsidenten, ÖVP-Kanzler Nehammer mit der Regierungsbildung zu beauftragen, war nicht erfolgreich. Nach dem Scheitern der Dreiparteiengespräche musste Alexander van der Bellen tun, was er bekanntermaßen vermeiden wollte: Kickl beauftragen, die Regierung zu bilden. Seine FPÖ legt seit einiger Zeit bei allen Wahlen zu und ist für den Fall neuerlicher Wahlen siegessicher. Entsprechend heftig war Kickls erste Pressekonferenz nach der Beauftragung: Sie war eine wohlformulierte Demütigung der ÖVP mit dem Hinweis, er habe keine Angst vor Neuwahlen. Er weiß genau, dass außer der FPÖ sich tatsächlich alle Parteien davor fürchten, den Souverän erneut zu befragen.
Drei mögliche Szenarien
Was nun? Drei Szenarien, in aufsteigender Wahrscheinlichkeit: Erstens, die ÖVP steigt aus den Verhandlungen aus und kehrt aus Furcht vor Neuwahlen zu Dreiergesprächen zurück – aktuell kaum denkbar. Zweitens: Neuwahlen – schon etwas wahrscheinlicher, aber angesichts der Angst der ÖVP auch nicht gerade naheliegend. Drittens: Die Sache klappt, die ÖVP geht volles Risiko, Kickl wird Kanzler, van der Bellen verlangt Bekenntnisse zu Pressefreiheit, Menschenrechten und Europa. Demokratisch-formal ist hier nichts zu beanstanden: Die FPÖ hat die Wahl klar gewonnen, und selbstverständlich darf die ÖVP mit jemandem koalieren, den sie vor der Wahl noch als Sicherheitsrisiko bezeichnet hat. Der Bundespräsident hat Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt – und das macht er jetzt. Hier ist also nichts zu sehen, gehen Sie weiter.
Orbans „illiberale Demokratie“ zum Vorbild?
Freilich kommt jetzt ein sehr großes aber: ABER auch wenn formell alles gut ist, ist mit Blick auf die Liberalität der österreichischen Demokratie überhaupt nichts gut. Der ungarische Ministerpräsident spricht bekanntlich gerne von der „illiberalen Demokratie“ – und nicht nur aufgrund der engen Beziehungen der FPÖ zu Viktor Orbán ist zu erwarten und zu befürchten, dass dieses Schlagwort in Österreich eine ganz neue Relevanz erhalten wird. Dass das keine absurde Fantasie ist, zeigt übrigens der vor Kurzem veröffentlichte österreichische Rechtsextremismusbericht: Auf knapp 200 Seiten wird die FPÖ 231-mal erwähnt.
Die FPÖ-ÖVP-Gespräche laufen zurzeit wohl etwas zäh. Ich halte Sie auf dem Laufenden.
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