Philadelphi und kein Ende – Was Israel das Festhalten am Sicherheitskorridor militärisch, wirtschaftlich und politisch kosten könnte
Über 200 Tage dauert Israels Einsatz in Gaza inzwischen an. Welche Strategie Netanyahu mit Gaza verfolgt, ist unklar, sein Vorgehen wird vom israelischen Sicherheitsapparat immer lauter kritisiert. Insbesondere sein Festhalten am Philadelphi-Sicherheitskorridor geht mit hohen Kosten einher – militärischen, wirtschaftlichen und politischen, wie Richard C. Schneider analysiert.
Über 200 Tage waren sehr viele Reservisten inzwischen in diesem Gaza-Krieg im Einsatz. Das macht sie beinahe zu Aktivisten des stehenden Heeres. Über 200 Tage, das heißt, dass 20‑, 30- und 40jährige fehlen. Ihren Familien, aber mehr noch an ihrem Arbeitsplatz.
Es fehlt Israel an Soldaten
Über 200 Tage und Israel hat dennoch nicht mehr genug Soldaten und will nun Reservisten einberufen, die mit sehr guten Gründen bislang vom Dienst befreit sind. Nun aber werden sie gebraucht. Einer der wichtigsten Gründe, warum das so ist: Israels Premier Benjamin Netanyahu hat in seiner gesamten Amtszeit dafür gesorgt, dass die Söhne der Ultraorthodoxen in ihren Religionsschulen sitzen können, obwohl die Haredim der am schnellsten wachsende Sektor der israelischen Gesellschaft ist. Denn obwohl es inzwischen einen Beschluss des Obersten Gerichts gibt, dass Ultraorthodoxe ab sofort einzuziehen sind, die Armee tut es nicht. Ein weiterer Beweis, wie das Justizsystem allmählich kollabiert, da die Regierung immer seltener rechtliche Entscheidungen umsetzt, an die sie eigentlich gebunden wäre.
Aufgabe der Geiseln zugunsten militärisch fragwürdigen Ziels
Doch zurück zum Krieg. Netanyahu hat in Pressekonferenzen dieser Tage wieder einmal deutlich gemacht, dass er die Geiseln aufzugeben bereit ist, um nur ja die Philadelphi Route zu kontrollieren, die angeblich für das Überleben des Staates Israel so wichtig ist. Philadelphi, das ist die Straße entlang der Grenze zwischen Gaza und Ägypten. Unterhalb gab es und gibt es noch Tunnel, die die Hamas für ihren Waffenschmuggel genutzt hat. Insofern scheint es auf den ersten Blick einleuchtend zu sein, Philadelphi zu halten, um der Hamas die Lebensader abzuschneiden. Doch nicht nur Verteidigungsminister Yoav Gallant betont, dass man die Route ohne Probleme aufgeben könnte, da es für die Armee inzwischen ein Leichtes wäre, sie in kürzester Zeit wieder zu erobern. Das sagt auch Generalstabschef Herzl Halevi, das sagen Mossad-Chef David Barnea und Shin Beth-Chef Ronen Bar, das sagen Ex-Militärs und Generäle, das sagen eigentlich alle, die vom Kriegshandwerk und der Situation vor Ort etwas verstehen. Nur einer sagt das Gegenteil: Netanyahu. Und jeder weiß, warum.
Israels Norden unbewohnbar
Seine Entscheidung bedeutet aber nicht nur den wahrscheinlichen Tod der noch lebenden Geiseln. Sie bedeutet auch, dass Israel in den Abgrund zu stürzen droht. Die Armee, wie oben beschrieben, ist bereits jetzt personell am Limit. Doch wenn der Krieg in Gaza weitergeht, was allmählich zu einer Wiederbesetzung Gazas führen könnte, dann bedeutet dies auch, dass es an keiner anderen Front Ruhe geben wird. Die eindrucksvolle Manifestation der Luftwaffe, präemptiv einen massiven Angriff der Hizbollah verhindert zu haben, in dem man nach eigenen Aussagen mehr als 6000 Raketen und Drohnen am Boden vernichtet hat, kann Israelis nur kurzfristig beruhigen. Die Hizbollah verfügt noch immer über rund 140.000- 150. 000 Raketen, Drohnen und vieles andere mehr. Der Norden Israels wird nach wie vor angegriffen und ist immer noch unbewohnbar, die Menschen können nicht zurück nach Hause, die Wälder brennen, die Städte, Kibbutzim und Dörfer erleiden immer mehr direkte Einschläge. Und die Armee ist nicht in der Lage, den Angriffen der Hizbollah ein Ende zu bereiten, man ist in Gaza gefangen.
Weiterer Brandherd Westbank
Und inzwischen kocht auch die Westbank über, die radikalen Siedler, ermutigt durch ihre Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, zünden die Region an, die Islamisten in der Westbank tun das ihre dazu. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann kaum noch das tun, was sie seit Jahrzehnten tut: Den Israelis helfen, Terroranschläge zu verhindern. Denn Israels Finanzminister Bezalel Smotrich lässt der PA so gut wie keine Steuergelder mehr auszahlen. Und damit kann sie ihre Beamten und Sicherheitskräfte nicht mehr bezahlen. Die sehen natürlich nicht mehr ein, warum sie dann noch ihren Job machen sollen. Sozusagen für Israel.
Israels Alliierte
All das zusammengenommen ist eine Katastrophe für Israel, gar nicht zu reden davon, dass die Fortsetzung dieses Szenarios dem Iran in die Hände spielt, obwohl dieser schwächer denn je ist. Die Tötung von Hamas-Führer Ismail Haniyeh in Teheran und der bislang ausgebliebene, aber groß angekündigte Vergeltungsschlag, lassen die Mullahs nicht gut dastehen. Und solange Israel kämpft, können die Saudis auch kein Normalisierungs- und Kooperationsabkommen mit Israel schließen und damit eine echte Phalanx gegen Teheran aufbauen, obwohl Riad das allzu gern möchte. Strategisch könnte sich das noch als Problem erweisen, wenn Israels Regierung nicht umdenkt.
Netanyahus mögliches Kalkül
Aber Hauptsache, die Philadelphi Route bleibt in Israels Händen. Netanyahus Intentionen sind seit Beginn des Krieges klar: Er will an der Macht bleiben und auf Zeit spielen. Auch und vielleicht ganz besonders im Hinblick auf die US-Wahlen. Dass der israelische Premier Donald Trump als Mann im Weißen Haus haben möchte, ist kein Geheimnis. Solange er den Krieg fortführt, so könnte seine Rechnung sein, dürfte die demokratische Kandidatin Kamala Harris von ihrem progressiven Flügel Probleme bekommen. Wenn der Krieg bis zum Wahltag weitergeht, würden muslimische US-Bürger möglicherweise Harris ihre Stimme verweigern.
Sollte Trump am 5. November tatsächlich gewinnen, dann könnte Netanyahu im Januar 2025 den Krieg in Gaza beenden. Es wäre ein Geschenk an Trump, der dann sagen könnte: „Nur ich habe das erreichen können.“ Danach könnte Netanyahu zusammen mit Trump das Abkommen mit den Saudis schließen. Auf einmal würde der israelische Premier als Sieger dastehen, sein politisches Überleben wäre gesichert – zumindest könnten seine Gedankengänge in diese Richtung gehen.
„Mister Security“ setzt Israels Zukunft auf’s Spiel
Das Festhalten an Philadelphi bedeutet jedoch zum jetzigen Zeitpunkt: Die Geiseln dürften verloren sein, der Krieg wird Israel immer mehr Opfer abverlangen, die Spaltung der Gesellschaft schreitet voran, die Wirtschaft gerät zunehmend in die Krise. Und das Land wird territorial de facto kleiner. Denn im Augenblick hat Israel quasi den Norden verloren und auch der Süden ist in Teilen immer noch unbewohnbar. All das erinnert in gespenstischer Weise an den Roman des niederländischen Schriftstellers Leon de Winter „Das Recht auf Rückkehr“ aus dem Jahr 2009. Geradezu prophetisch erzählt de Winter von einem Israel im Jahre 2024, das zu einem kleinen Küstenstreifenstaat geschrumpft ist und große Teile des Landes verloren hat.
Auf seinen Pressekonferenzen in den vergangenen Tagen beantwortete Netanyahu eine Frage nicht wirklich: Wenn die Philadelphi-Route so wahnsinnig wichtig für Israels Sicherheit sei, warum habe man sie nicht schon gleich zu Beginn des Krieges erobert? Netanyahu wich aus: Man habe da andere Kriegsziele gehabt, erklärte der Mann, der sich stets als „Mister Security“ verkaufte.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.