Polen, PiS und die EU
Angesichts des Ukraine-Krieges könnte sich die PiS-Regierung der EU annähern und von europäischen Rechtspopulisten distanzieren, so Stephan Stach. Dafür müssten die westlichen EU-Staaten die Ukraine jedoch militärisch glaubhaft unterstützen.
Die gemeinsame Kyjiw-Reise des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, des Bundeskanzlers Olaf Scholz und des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi führte vom Flughafen Rzeszów bis zum Grenzbahnhof zwar geographisch durch Polen, politisch aber hat sie das Land weiträumig umfahren. Weder Präsident Andrzej Duda noch Premierminister Mateusz Morawiecki begleiteten als Vertreter der östlichen Mitgliedsländer die Spitzen der drei größten EU-Staaten. Dabei hätte sie Polens entschlossene Unterstützung einer ukrainischen EU-Perspektive geradezu dafür prädestiniert, in Kyjiw neben Macron, Scholz und Draghi zu stehen, wenn diese sich für die Gewährung des EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine aussprechen. Stattdessen vertrat der rumänische Präsident Klaus Johannis die östlichen Mitgliedsstaaten, was wegen der späten Bekanntgabe seiner Teilnahme und der getrennten Anreise wie eine Verlegenheitslösung wirkte. In Warschau begannen daraufhin Regierungslager und Opposition darüber zu streiten, ob Polen hier infolge „deutscher Arroganz“ oder der seit 2015 andauernden, „unnötig EU-feindlichen Außenpolitik“ der PiS übergangen wurde.
Beides, das Umgehen Polens durch die drei Regierungschefs des „alten Europas“ wie auch die Reaktionen darauf in der polnischen Politik, erwecken den Anschein, dass alles in den gewohnten Bahnen verläuft – trotz der russischen Invasion in der Ukraine. Doch dieser Anschein trügt. Der Krieg hat Bewegung in das festgefahrene Verhältnis zwischen Polen und der EU gebracht und beide Seiten gezwungen, scheinbare Gewissheiten zu überdenken. Dies birgt die Chance, bestehende Konflikte zu überwinden und Polen dauerhaft zu einem konstruktiven Akteur innerhalb der EU werden zu lassen, was wiederum die Gemeinschaft als Ganzes stärken würde. Ob diese Chance genutzt wird, hängt von beiden Seiten ab.
Vom Sorgenkind zum Vorbild
Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine mussten die politischen Eliten in Brüssel, Paris, Rom, Berlin und andernorts erkennen, dass Polen mit seiner lange als alarmistisch betrachteten Einschätzung der von Russland ausgehenden Gefahr richtig gelegen hatte. Während dies im Westen Europas eine „Zeitenwende“ auslöste, deren praktische Umsetzung Zeit und Kraft kostet(e), reagierte Polen ad hoc mit einer Welle der Solidarität. Die unbürokratische Öffnung der Grenzen und sogar der Eisenbahn für Flüchtende gab den EU-Partnern die Richtung vor. In Windeseile wurde das Land zur internationalen Drehscheibe für Hilfsleistungen und ist bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine bei Umfang und Liefergeschwindigkeit europäischer Spitzenreiter. Polen, das unter der PiS-Regierung die EU jahrelang vor allem als Bühne betrachtet hatte, um mit anti-europäischen Statements innenpolitisch Punkte zu sammeln, ist innerhalb kürzester Zeit zu einem geachteten europapolitischen Akteur geworden.
Ermöglicht wurde dies durch die auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhende und von einem enormen bürgerschaftlichen Engagement getragene pro-ukrainische Haltung der polnischen Bevölkerung. Diese ist zwar keineswegs der alleinige Verdienst der PiS, aber eben auch. Die russlandkritische Einstellung gehört seit ihrer Gründung als Vereinigung verschiedener konservativer und rechter Strömungen zu den Grundfesten der Partei. Das unterscheidet sie nicht nur von ihren historischen Vorläufern auf der polnischen Rechten, den Nationaldemokraten der Zwischenkriegszeit, sondern auch von den restlichen rechtspopulistischen Parteien in Europa – Parteien, die die PiS noch bis vor kurzem als ihre europapolitischen Partner betrachtete.
Dies wiederum ist der Punkt, an dem seit Kriegsbeginn ein Umdenken in der PiS zu beobachten ist. Versuchte die Partei noch vor wenigen Monaten gemeinsam mit Marine Le Pens Rassemblement National, Matteo Salvinis Lega und anderen das Projekt eines politischen Bündnisses von EU-Gegnern voranzutreiben, ist es inzwischen still geworden um diese Initiative. Auch die enge Zusammenarbeit mit Viktor Orbán bröckelt. Mittlerweile streiten Warschau und Budapest nicht mehr gemeinsam gegen ein als übergriffig empfundenes Beharren Brüssels auf der Einhaltung rechtstaatlicher Normen, sondern in entgegengesetzten Lagern über Art und Ausmaß der EU-Sanktionen gegen Putins Russland.
Auch wenn es öffentlich kaum thematisiert wird: Die mehr oder weniger offene Putin-Treue der europäischen Rechtspopulisten stellt trotz zahlreicher politischer Überschneidungen mit der PiS auf anderen Politikfeldern ein Sicherheitsrisiko dar, denn für Polen ist Russland die größte Bedrohung. Aus diesem Grund orientiert sich die PiS, wie die meisten Akteure der polnischen Ostpolitik, seit 1989 am sogenannten Prometheismus. Diese politische Doktrin entstand Anfang der 1920er Jahre in eher linken Kreisen. Sie basierte darauf, dass Polen die Unabhängigkeitsbewegungen der nichtrussischen Völker des ehemaligen russischen Imperiums bzw. der Sowjetunion unterstützte. War der Prometheismus einerseits beseelt vom Erfolg des eigenen, polnischen Unabhängigkeitsstreben, standen andererseits harte Sicherheitsinteressen hinter diesem Programm. Moskau sollte geschwächt und zugleich von einem Ring unabhängiger Staaten von Polen abgeschirmt werden. Einer unabhängigen Ukraine fiel darin eine entscheidende Rolle zu. In seiner Entstehungszeit politisch randständig, wurde der Prometheismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Debatten im Exil und dem oppositionellen Untergrund aktualisiert. Er prägte nach dem Ende des Kommunismus Polens Beziehungen zu Belarus, Georgien und eben zur Ukraine und ließe sich durchaus mit einer wertebasierten EU-Außenpolitik in Einklang bringen.
Suche nach Sicherheit
Die heutigen Sicherheitsinteressen an der EU-Ostflanke sind ein gewichtiger Grund, warum die PiS-Regierung ihr Verhältnis zur EU momentan überdenkt. Einer Russland gegenüber selbstbewusst auftretenden Europäischen Union, die die Ukraine in ihrem Abwehrkampf entschlossen unterstützt und eine gemeinsame, mit der Nato koordinierte Absicherung seiner östlichen Mitglieder vorantreibt, könnte sich die PiS kaum verschließen. Zudem könnte Polen seine Rolle als Sprecher für die Länder im Osten der EU ausbauen, zu denen nach Aufgabe ihrer Neutralität auch Finnland und Schweden dazustoßen. Die lange gewachsenen Kontakte zur Ukraine, nach Georgien und zur belarusischen Opposition sind dabei ein wichtiges politisches Kapital. Die Frage ist, inwieweit die EU willens ist, sich nicht nur als Wirtschafts- und Wertegemeinschaft, sondern auch als Ordnungsmacht zu positionieren. Der deutsche Bundeskanzler strebt dies offensichtlich nicht an, sprach sich doch Olaf Scholz kürzlich in einer Regierungserklärung mit dem Verweis auf die Nato-Russland-Grundakte indirekt gegen eine dauerhafte Stationierung von Truppen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten aus.
Der zweite wichtige Grund, warum die Warschauer Regierung ihre Haltung zur EU überdenkt, ist fraglos ein ökonomischer. Auch Polen leidet unter einer enormen Inflation und hohen Energie- und Lebensmittelpreisen. Während letzteres vor allem die ärmere Bevölkerung belastet, trifft die Inflation auch die oft verschuldete Mittelschicht hart, steigen dadurch die Kreditraten doch rasant. Dem von der PiS entworfenen „nationalen Wiederaufbauprogramm“, das eigentlich die Folgen der COVID19-Pandemie bekämpfen sollte, fehlt die Finanzierung: Die EU-Mittel dafür waren wegen der Auseinandersetzung um die Justizreform der Regierung und die damit verbundenen Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit auf Eis gelegt worden. Angesichts der sich durch den Krieg zuspitzenden wirtschaftlichen Lage wuchs der Druck auf die Regierung, hier eine Lösung zu finden – insbesondere da im kommenden Jahr Parlamentswahlen anstehen, bei der die PiS ihre Macht sichern will. Tatsächlich ist es jüngst zu einer Annäherung gekommen. Nachdem das polnische Parlament die vom Europäischen Gerichtshof gerügte Disziplinarkammer auflöste und so Teile der Justizreform zurückgenommen hat, bewilligte die EU-Kommission die Mittel, deren Auszahlung aber an weitere Bedingungen geknüpft ist. Das entschärft den Konflikt erst einmal, beendet ihn aber nicht. Schließlich hatte das polnische Verfassungsgericht im vergangenen Oktober geurteilt, dass insbesondere jene Teile der EU-Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die EU-Recht den Vorrang vor nationalem Recht geben.
Eine Frage der Prioritäten
Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros des European Council of Foreign Relations, befürchtet in einem Beitrag für die Zeitschrift Polityka, dass die PiS-Regierung versuchen wird, bei den Reformen in puncto Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu tun als unbedingt nötig, um an die EU-Mittel zu kommen. Gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen und dem weit über die Kernwählerschaft der PiS hinausgehenden Frust über die zaudernde militärische Unterstützung westlicher EU-Staaten für die Ukraine dürfte die Verlockung groß sein, ansonsten in alte Muster zurückzufallen. Tatsächlich werden in den PiS-nahen Medien bereits kleinteiligere Bündnisoptionen erwogen, um mit ostmitteleuropäischen Partnern sowie britischer und amerikanischer Unterstützung die militärische Absicherung gegen Russland zu organisieren. Die als ignorant empfundenen Westeuropäer blieben dabei außen vor, die vielgepriesene Einigkeit der EU aber wäre dahin. Demgegenüber steht Buras zufolge die Möglichkeit, dass „die polnische Rolle in der EU so stark wird wie nie zuvor in diesem Jahrzehnt.“ Dieser Einfluss ließe sich dann auch nutzen, um auf die politische Ausrichtung der EU gegenüber Russland einzuwirken. Ein solcher Einfluss hänge aber davon ab, ob die polnische Regierung den Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit endgültig beizulegen bereit ist und auch andere Urteile des EuGH umsetzt, in denen Verstöße dagegen moniert wurden. In der Vereinbarung mit der EU-Kommission heißt es lediglich, Polen müsse „das Investitionsklima durch Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz verbessern.“
Buras befürchtet, die PiS könnte die Chance, dass Polen zu einem einflussreichen Akteur in der EU aufsteigt, für einen ‚Rechtsstaatsrabatt‘ opfern – dafür also, dass sich die Kommission für die Auszahlung der Mittel mit ein paar wenigen Zugeständnissen abfindet, aber nicht auf einer vollständigen Umsetzung der Urteile beharrt. Im Sinne einer geeinten und gestärkten EU sollten die übrigen EU-Partner die Warschauer Regierung bestärken, sich richtig zu entscheiden.
Vielleicht aber war es genau die Angst vor dem selbstbewussten polnischen Eintreten für eine robustere Unterstützung der Ukraine und entschiedene Absicherung der EU-Ostgrenzen, die Macron, Scholz und Draghi bewog, keinen polnischen Vertreter mit nach Kyjiw zu nehmen. Dabei bedroht diese vielfach als arrogant wahrgenommene deutsch-französische Ignoranz gegenüber den Sicherheitsinteressen Polens und anderer östlicher EU-Staaten die Einigkeit der EU ebenso. Das Interesse bei Scholz und Macron, gemeinsam mit Polen eine Haltung gegenüber Russland zu suchen, ist offensichtlich begrenzt, insbesondere dann, wenn polnische Vertreter offen Kritik an ihrem bisherigen Kurs üben. So schalt Macron Premierminister Morawiecki noch im April einen rechtextremen Antisemiten, nachdem ihn dieser wegen seiner Telefonate mit Putin kritisiert hatte. Die kurz vor Kriegsbeginn erfolgten Wiederbelebungsversuche des deutsch-französisch-polnischen Weimarer Dreiecks waren an dieser Stelle offenbar wieder eingestellt worden. Dabei könnte genau diese Plattform das geeignete Forum für die Erarbeitung eines gemeinsamen Standpunktes gegenüber Russland werden.
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