Israel: Populistische Attacken auf Demokratie und unabhängige Justiz
In Israel sind extrem rechte Kräfte Teil der neuen Regierung – mit einer beunruhigenden Agenda. Dahlia Scheindlin im Interview über die Pläne der Rechten, die Versäumnisse der Linken und die Zukunft der Koalition unter Netanjahu.
Frau Dr. Scheindlin, als politische Analystin befassen Sie sich tagtäglich mit der öffentlichen Meinung in Israel und ihren Dynamiken. Gab es dennoch etwas, das Sie im Zuge der Wahlen überrascht hat?
Da war zunächst der detaillierte Plan zur Unterminierung der unabhängigen Justiz, der von der Partei Religiöser Zionismus bereits vor den Wahlen veröffentlicht wurde. Ich weiß um die seit Jahren enorm starke Bedeutung solcher Ziele für die rechten Parteien, auch außerhalb Israels. Geschockt war ich aber über die Radikalität des vorgelegten Plans. Sehr offen wurde darin die eigene annexionistische und theokratische Agenda ausformuliert. Die Partei Religiöser Zionismus konnte 14 Sitze gewinnen und ist nun Teil der Regierungskoalition.
Ebenfalls hat mich schockiert, wie Itamar Ben-Gvir und seine Unterstützer am Wahlabend lautstark „Wir sind die Herren des Hauses“ und „Tod den Terroristen“ skandiert haben. Letzteres ist eine leicht abgewandelte Formulierung für „Tod den Arabern“. Diese Beobachtung war angsteinflößend und ist es noch immer: Ben-Gvir ist nun Minister für Nationale Sicherheit.
Die Parlamentswahlen im November waren die fünften innerhalb von knapp vier Jahren. Hat sie sich von den vorigen unterschieden?
Die israelische Öffentlichkeit hat sich seit Jahren klar aufgeteilt entlang der Achse Pro- oder Anti-Netanjahu. Dazu kommt die Achse Links/Mitte vs. Rechts, deren Anhänger grundlegend verschiedene Weltbilder und Visionen über die anzustrebende Entwicklung des Landes vertreten. Diese grundlegende Dynamik ist und bleibt stabil.
Das klingt nach einer extremen Polarisierung.
In der Tat. Natürlich gibt es innerhalb der politischen Lager nochmals Ausdifferenzierungen. Und auch Überlappungen der Achsen. So etwa bei den rechten Parteien, die sich von Netanjahu gelöst haben. Dadurch sind sie für rechte Wähler attraktiv, die wegen ihrer eigenen Anti-Netanjahu-Haltung auch die Wahl einer zentristischen Partei ins Auge gefasst hatten. Über 60 Prozent der jüdischen Israelis identifizieren sich als politisch rechts. Entsprechend gingen auch insgesamt 72 von 120 Knesset-Sitzen an rechte Parteien. Für linke und zentristische Parteien hingegen gibt es lediglich ein Potential von 42 bis 45 Prozent der jüdischen und arabischen Wählerinnen und Wähler.
Wie charakterisieren Sie Benjamin Netanjahus Wahlkampagne?
Für den Wahlausgang war die Kampagne gar nicht so wichtig, konkrete Politikvorschläge hatten ebenfalls keine große Bedeutung. Netanjahus cleverster und effektivster Schachzug war es, dafür zu sorgen, dass sich kleinere extrem rechte Parteien zur Partei Religiöser Zionismus zusammenschließen. Er wusste, dass er damit noch den letzten rechten Wähler zu Wahlurne bewegen würde.
Netanjahus eigene Partei, der Likud, hat nur zwei Sitze dazugewonnen. Zum Vergleich: Sein Hauptkonkurrent, die liberale Partei Yesh Atid um den vorigen Premierminister Yair Lapid, konnte um sieben Sitze zulegen und stellt nun 24 Abgeordnete. Wie erklären Sie sich das – eigentlich gar nicht so gute – Abschneiden des Likud?
Viele Likud-Anhänger aus dem mitte-rechts oder gemäßigt rechten Spektrum fühlen sich in der eigenen Partei nicht mehr wohl. Vor allem wegen Netanjahus Unterstützung der extrem Rechten oder seinem Korruptionsprozess. Dennoch gibt es eine durchweg stabile Pro-Netanjahu-Kerngruppe. Für eine Regierungsbildung reicht das jedoch nicht aus. Um erneut Premierminister zu werden, musste Netanjahu die Stimmen der extremen Rechten in die Partei Religiöser Zionismus kanalisieren.
Was hat die Wahlkampagnen von Netanjahus Koalitionspartnern ausgezeichnet?
Religiöser Zionismus hat eine große politische Show betrieben für ihre illiberale, theokratische Attacke auf das unabhängige Justizsystem. Verkörpert wurde das durch Itamar Ben-Gvir als jemand, der als jüdischer Suprematist „frischen Wind bringt“ und sich populistisch gegen „das Establishment“ in Szene setzt. Die anderen Parteien der Regierungskoalition haben schlicht ihre traditionellen Themen behandelt.
Welche sind das?
Shas, die mizrahisch-orthodoxe Partei, möchte ihre Wählerschaft in ihren Fußspuren halten. „Wir kümmern uns um die Armen“ war das Credo. Für nachhaltig bessere Lebensbedingungen sorgt Shas allerdings nicht. Das könnte vor allem über den Zugang zu höherer Bildung und über den Erwerb beruflicher Fähigkeiten gelingen.
Vereinigtes Tora Judentum, die orthodox-aschkenasische Partei, hob hervor, die Aufnahme des israelischen Kerncurriculums an den Schulen ihrer Wählerschaft zu verhindern. Auch diese Partei will ihre orthodoxenAnhänger nicht in die Erwerbsbevölkerung bringen. Zudem gab es die Forderung nach einem noch massiveren Shutdown an Shabbat.
Angesichts des vergleichsweise niedrigen Wählerpotentials von 42 bis 45 Prozent für zentristische und linke Parteien gab es vor und nach den Wahlen Debatten darüber, ob sich Meretz und Labor zu einer gemeinsamen Wahlliste zusammenschließen sollten. Wie stehen Sie dazu?
Lediglich zwischen 12 und 14 Prozent der jüdischen Israelis definieren sich als stark oder als gemäßigt links. Das verdeutlicht das durchweg geringe Potential, aus dem Labor und Meretz schöpfen können. Selbst die brillanteste Kampagne bringt keinen Rechten dazu, für Meretz zu stimmen. Meretz‚ ganz knapp verpasster Einzug in die Knesset war letztlich einfach Pech.
Wie charakterisieren Sie die Wahlkampagnen von Yesh Atid, Meretz und Labor?
Yesh Atid hat vor allem die eigenen Verdienste als Regierungspartei hervorgehoben. Entgegen der Behauptungen der Rechten wurde Netanjahu dabei nicht einmal erwähnt. Labor und Meretz haben sich auf das Verhältnis von Religion und Staat sowie auf soziale Fragen fokussiert. Der israelisch-palästinensische Konflikt wurde wenig thematisiert, um zentristische Wähler nicht zu verlieren.
Wie hat das linke und zentristische Spektrum den Wahlausgang diskutiert?
Jeder hat den anderen beschuldigt. Eine interessante Idee war die Gründung einer gemeinsamen jüdisch-arabischen Kraft, also eine inklusivere Idee des Zionismus, die Araber anspricht. Die wenigen Versuche, das auch wirklich anzugehen, waren allerdings sehr beschränkt und wirkten wenig erfolgsversprechend, nicht zuletzt aufgrund des hohen Alters der Beteiligten.
Für die vergangenen Wahlen haben Sie zentristischen und linken Parteien beraten.
Mein Punkt war und ist: Fokussiert Euch stärker auf die populistischen Attacken auf die Demokratie im Allgemeinen und die unabhängige Justiz im Besonderen. Das Thema wurde allerdings rechten Parteien, Kommentatoren und Think Tanks überlassen. Seit Jahren schon betreibt die Rechte eine massive Delegitimierung und Dämonisierung der Gerichte und Richter, der Idee der Gewaltenteilung und der Beschränkungen der Macht der Exekutive. Das hätten die zentristischen und linken Parteien in ihre Kampagnen und Agenda einweben sollen.
Auch aus Israel war immer wieder zu hören, die extremistischen Kräfte der neuen Regierung könnten durch die Erfordernisse der Realpolitik und den im Vergleich moderaten und pragmatischen Netanjahu eingehegt werden. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?
Äußere Zwänge sollten wir nicht überschätzen. Dass israelische Regierungen hier viel machen können, zeigt etwa die de-facto-Annexion der Westbank in den letzten Jahren. Und in Bezug auf die angestrebte Justizreform gibt es ja nicht einmal äußere Zwänge. Das Weiße Haus kann seine Sorgen äußern – aber es ist es nahezu unvorstellbar, dass die massive US-Militärhilfe an Bedingungen geknüpft wird.
Netanjahu war schon immer clever im Taktieren. Er muss seine extrem rechten Koalitionspartner ermahnen und zurechtweisen, sie aber gleichzeitig in ihren Attacken auf die Unabhängigkeit der Justiz zum Zweck der territorialen Expansion, Annexion und dem Ausbau der Siedlungen gewähren lassen. Wir sollten nicht vergessen, dass Netanjahu von seinen Koalitionspartnern abhängig ist. Er braucht sie als Partner – weil er selbst vor Gericht steht.
Deshalb halte ich es für einen Fehler, Netanjahu als jemanden zu verstehen, der die extremen Rechten mäßigt. In den letzten 14 Jahren hat er den Likud umgeformt in eine Partei illiberaler Populisten und den Aufstieg von Religiöser Zionismus und anderen extrem rechten Parteien ermöglicht.
Wird Netanjahu für die Auflösung der neuen Regierung sorgen, sobald ihm auf Grundlage der angestrebten Justizreform Immunität gewährt wird?
Die Koalitionspartner haben natürlich Meinungsverschiedenheiten, und kaum etwas wiegt schwerer als der Narzissmus der kleinen Unterschiede mitsamt seiner selbstzerstörenden Dynamiken. Und Netanjahu muss auch Druck aus Israel selbst abschwächen – es gibt Demonstrationen, öffentliche Oppositionen und offene Briefe von lokalen Autoritäten, Schulleitern, medizinischen Vereinigungen, der israelischen Rechtsanwaltskammer, Politikwissenschaftlern und aus dem privaten Sektor, inklusive Banken.
Ich könnte nun Argumente für verschiedene Szenarien hervorbringen, aber ich gebe der Koalition mindestens zwei Jahre. Denn sie hat ein großes Interesse zu beweisen, dass Israel nur von Rechten geführt werden kann, und nicht von Zentristen oder einer Mitte-Links-Regierung. Nun an der Macht zu sein ist ein Momentum, dass die Koalitionsregierung nicht so schnell aufgeben will.
Wie genau bewerten Sie die Koalitionsvereinbarung?
Mit der Formulierung: „Das jüdische Volk hat ein alleiniges und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel“ wird letztlich die Existenz einer palästinensischen Nation und ihr Recht auf Selbstbestimmung geleugnet. Für ebenfalls sehr gefährlich halte ich den Loyalitätsschwur, mit dem sich die Koalitionspartner dazu bekennen, alle Versuche des Justizministers zur Unterminierung der Unabhängigkeit der Justiz unkritisch zu unterstützen und dieses Vorhaben zur höchsten legislativen Priorität zu machen. Denn ohne diese Beschränkungen der Justiz können all die undemokratischen und illiberalen Pläne gar nicht durchgesetzt werden.
Sollte es der Koalition gelingen, auch nur die Hälfte der in der Übereinkunft festgehaltenen Punkte zu realisieren – Israel würde sich zum Teil ein einen anderen Ort verwandeln. Das Land wäre in manchen Bereichen aber auch eine extremere Version dessen, was es schon seit langem ist.
Dazu würde wohl auch die Diskriminierung von Frauen und LGBT im Privatsektor gehören. Ein Hotel könnte demnach beispielsweise ein homosexuelles Paar aus religiösen Gründen abweisen.
Das ist der wohl sichtbarste Aspekt. Schon jetzt ist das Familienrecht – und damit Heirat und Scheidung – unter orthodoxer Kontrolle, und auch im Erb- und Sorgerecht gibt es neben dem Zivilrecht auch sehr viel religiösen Einfluss. Dem allen ist die Diskriminierung von Frauen und LGBT bereits inhärent. Über die Jahrzehnte hat die Zivilgesellschaft hier allerdings enorme Fortschritte erkämpft, auch über parteiübergreifend beschlossene Gesetzesänderungen und über Urteile des von den Rechten so verteufelten Obersten Gerichts. Der Rollback durch die neue Regierung ist sehr gefährlich.
Das Interview führte Till Schmidt am 10.01.2023.
Dr. Dahlia Scheindlin ist Meinungsforscherin und Strategieberaterin mit Fokus auf progressive und liberale Anliegen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem den israelisch-palästinensischen Konflikt, regionale Außenpolitik, Menschen- und Bürgerrechte sowie das Verhältnis von Religion und Staat. Seit 2021 moderiert Scheindlin zusammen mit Anshel Pfeffer den Podcast „Election Overdose“ der israelischen Zeitung Haaretz, in der sie als Kolumnistin regelmäßig veröffentlicht.
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