Rechtsruck in der EU? Eine differenzierte Betrachtung der Wahlergebnisse
Trotz der Zugewinne der Rechtsextremen bleibt das Gesamtbild gemischt: deutliche Verluste einerseits, Rekordergebnisse andererseits – auch für neue rechtsextreme Parteien. Der Europa-Experte Nicolas Startin über schwierige Allianzen, das Wahlverhalten junger Menschen und die Zukunft des Green Deal.
Dr. Nicholas Startin ist Associate Professor für europäische Politik und internationale Beziehungen an der John Cabot University in Rom und Senior Fellow des Global Governance Institute in Brüssel. Seine Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen des Euroskeptizismus, auf nationale und transnationale Parteiensysteme sowie auf die radikale Rechte in Europa.
Herr Startin, das Gesamtbild ist recht eindeutig: Die Rechten und die Rechtsextremen haben bei den EU-Wahlen stark zugelegt. Verschiebt sich die Machtdynamik nun nach rechts?
Das Ergebnis ist keineswegs einheitlich. Ja, die Rechtsextremen, vertreten durch Marine Le Pen und Jordan Bardella vom Rassemblement National, haben in Frankreich besonders gut abgeschnitten, auf Grundlage ihres Durchbruchs bei den nationalen Parlamentswahlen 2022. In Deutschland schnitt die AfD bei den Wahlen ebenfalls gut ab, konnte ihr Ergebnis von 2019 aber nur um 4 Prozent steigern.
In Verbindung mit der extremen Rechten in Italien werden die Ergebnisse in Frankreich und Deutschland deutliche Auswirkungen haben: sie bedeuten, dass mehr als ein Zehntel der Sitze im Europaparlament von rechtsextremen Parteien aus diesen EU-Mitgliedstaaten stammen werden. Aber gleichzeitig haben sich die Medien zu einer Diskussion über einen generellen Rechtsruck hinreißen lassen.
Warum ist die Diskussion über einen generellen Rechtsruck Ihrer Meinung nach irreführend?
In Italien beispielsweise wurde die Lega von Manuel Salvini deutlich zurückgeworfen, nachdem sie bei den letzten EU-Wahlen 2019 noch fast ein Drittel der Stimmen erhalten hatte. Obwohl die Fratelli D’Italia von Georgia Meloni ihr Ergebnis von 2019 deutlich ausbauen konnten, haben die beiden rechtsextremen Parteien in Italien bei diesen Wahlen also insgesamt weniger Stimmen erhalten. In den nordischen Ländern haben beispielsweise die Wahren Finnen, die Schwedendemokraten und die Dänische Volkspartei weniger Stimmen erhalten als bei den Wahlen 2019.
Anderswo in Mittel- und Osteuropa, in Polen und Ungarn, haben PiS und Fidesz nicht so gut abgeschnitten, wie sie es sich erhofft hatten. Es gibt also einige Länder, in denen die Zahl der Stimmen für rechtsextreme Parteien zugenommen hat, aber auch andere, in denen die Zahl der Stimmen zurückgegangen ist. Darüber hinaus haben wir den Durchbruch einiger neuer rechtsextremer Parteien erlebt, so wie etwa Chega in Portugal. Es ist daher irreführend, von einem allgemeinen Aufschwung der extremen Rechten zu sprechen und damit zu implizieren, dass es sich um ein einheitliches Phänomen handelt.
Was bedeutet der allgemeine Zugewinn der Rechten für die Koalitionsbildung, die parlamentarische Zusammenarbeit und die künftige Politik?
Die rechte Mitte, vertreten durch die Europäische Volkspartei (EVP), hat sich bei diesen Wahlen konsolidiert. Die Sozialdemokraten, die zweitgrößte Partei, haben trotz des schlechten Resultats der deutschen SPD besser abgeschnitten als von vielen Kommentatoren vorhergesagt. Die liberale Erneuerungspartei hat deutlich an Boden verloren, ebenso wie die Grünen. Es scheint jedoch weiterhin eine Art Mehrheit zwischen den Pro-EU-Mainstream-Fraktionen zu geben, während das Gerangel um die transnationalen Gruppierungen für das neue Parlament beginnt.
Die beiden Gruppierungen, in denen derzeit rechtsextreme Parteien vertreten sind – das sind die verhalten euroskeptische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) sowie die deutlich euroskeptische Fraktion Identität und Demokratie (ID) – werden beide wahrscheinlich mehr Abgeordnete haben. Aber ich glaube nicht, dass sie Teil einer größeren Koalition sein werden. Vor den EU-Wahlen war viel davon die Rede, dass Giorgia Meloni zur Königsmacherin wird. Angesichts des Wahlergebnisses gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass die EVP ihre transnationalen Beziehungen zu den Fratelli D’Italia formalisieren wollen.
Bislang hat sich die extreme Rechte in Brüssel schwergetan, Allianzen zu schmieden.
Ja, wir haben dies kürzlich bei den Entwicklungen innerhalb der Fraktion Identität und Demokratie (ID) gesehen, als der Rassemblement National (RN) kurz vor den Wahlen für den Ausschluss der AfD aus der Fraktion gesorgt hat. Die Trennung hat auch nach dem Ausschluss von Maximilian Krah aus der EU-Delegation der AfD Bestand. Ich erwarte, dass wir bis zu den Neuwahlen in Frankreich Anfang Juli nicht viel über die Pläne des RN für künftige Bündnisse im Europäischen Parlament erfahren werden. Die rechtsextremen Parteien in beiden Gruppen werden weiterhin versuchen, ihr Kernthema Migration sowohl aus nationaler als auch aus europäischer Perspektive anzugehen. Darüber hinaus gibt es aber keine politische Einigkeit.
Wo sehen Sie die wichtigsten Themen und Streitpunkte der extremen Rechten?
Ein Streitpunkt ist der Krieg in der Ukraine, wobei einige der rechtsextremen Parteien historisch gesehen Russland recht nahestehen. Ein weiteres wichtiges Thema ist die künftige Ausrichtung der EU. Auch hier vertreten die Rechtsextremen keine einheitlichen Positionen. Dazu gehört auch die Frage, wie auf praktische, die Bürger im Alltag direkt betreffende Fragen zu reagieren ist, wie etwa die Freizügigkeit und der Schengen-Raum.
Kluge Rechtsextremisten sind sich bewusst, dass viele der jüngeren Generation, vertreten durch die 18- bis 30-Jährigen, mit dem Schengener Abkommen aufgewachsen sind und ihn befürworten – weil sie schlicht gerne ohne Grenzen und Pässe durch Europa reisen möchten. Wenn es also um Migration geht, erwarte ich, dass professionalisierte rechtsextreme Parteien wie der Rassemblement National (RN) sich auf illegale Migration konzentrieren und dies mit nationalen Werten und Identitätspolitik im weiteren Sinne verknüpfen.
In den Schlagzeilen der deutschen Medien ist derzeit auch die gestiegene Zahl junger AfD-Wähler. Was wissen Sie über die Wahltrends junger Menschen für rechtsextreme Parteien in ganz Europa?
In Frankreich hat der RN mit Jordan Bardella als Spitzenkandidat und einer koordinierten Social-Media-Strategie bei den jüngeren Wählern gut abgeschnitten. Aber der Prozentsatz der abgegebenen Stimmen bei den 18- bis 34-Jährigen war den ersten Ergebnissen zufolge nicht höher als das Gesamtergebnis der Partei. In Italien gewann Meloni in allen Altersgruppen, außer bei den 18- bis 29-Jährigen, wo sie nur 14 Prozent der Stimmen erhielt und in dieser Altersgruppe an vierter Stelle lag. Zudem stimmten nur 5 Prozent dieser Altersgruppe für Salvinis Lega, was unter seinem Gesamtergebnis liegt.
In Deutschland haben 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen für die AfD gestimmt. Das entspricht allerdings mehr oder weniger dem Gesamtergebnis, ist also nicht höher ist als der Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist jedoch klar, dass die direkte Ansprache der jüngeren Generationen durch den Spitzenkandidaten Maximilian Krah in den Sozialen Medien hier einen gewissen Effekt hatte.
Woher genau kommt die Unterstützung der extremen Rechten durch junge Menschen?
Unter den jungen Wählern kommt der Zuspruch höchstwahrscheinlich weiterhin von jenen, die sich am unteren Ende des sozio-ökonomischen Spektrum befinden und sich vom politischen Mainstream im Hinblick beispielsweise auf die hohen Lebenshaltungskosten im Stich gelassen fühlen. Sie haben das Gefühl, nicht wirklich gehört zu werden. Die Vorstellung, dass die extreme Rechte bei jungen Wählern allgemein dramatisch an Boden gewinnt, ist jedoch ein wenig übertrieben. Bei einem noch ausstehenden breiteren Überblick über die rechtsextremen Parteien in der EU und die jüngere Wählerschaft vermute ich, dass die Daten in dieser Hinsicht ähnlich gemischt sein werden wie bei der extremen Rechten insgesamt.
Was können Sie aus dieser Wahl mitnehmen?
Sicherlich hat es eine gewisse Konsolidierung der extremen Rechten gegeben, aber das, wie gesagt, ist bei weitem nicht einheitlich. Der massive Verlust von Sitzen für die Grünen ist in vielerlei Hinsicht ist wohl die größte Erkenntnis. In der Folge erwarte ich, dass das Flaggschiff der EU, die europäische Green-Deal-Politik unter stärkeren Druck gerät. Die Argumente über deren wirtschaftliche Auswirkungen werden in der gesamten Rechten, einschließlich der Mitte-Rechts-Partei EVP, an Bedeutung gewinnen.
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