Der zweite Lockdown in Israel

Foto: abu adel – photo/​shutterstock

In Israel schnellen die Infek­ti­ons­zahlen wieder in die Höhe. Das Corona-Desaster ist nicht nur Folge verfehlter Regie­rungs­po­litik. Es zeigen sich die Probleme einer stark frak­tio­nierten Gesell­schaft und der Neigung zum Impro­vi­sieren, ohne Struktur und Strategie.

Israel kann sich einer neuen Super­la­tive rühmen: als erstes Land weltweit erlebt einen zweiten Lockdown. Warum das so ist, ist inzwi­schen hinläng­lich bekannt: Die Fehler, die die Regierung bei der Wieder­öff­nung des Landes nach dem ersten Lockdown gemacht hat, viele „Häupt­linge“, die alle etwas anderes wollen und vor lauter Ego das große Ganze außer acht lassen und permanent ihre eigenen Aussagen wider­rufen, ein Premier Benjamin Netanyahu, der in erster Linie mit dem Macht­er­halt beschäf­tigt ist und mehr noch: mit dem Versuch, einer möglichen Verur­tei­lung in seinem Prozess wegen mutmaß­li­cher Korrup­tion in drei Fällen zu entgehen. Oder, um es zu verkürzen: Ein Premier, der alles tut, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Und was das bedeutet, konnte man jetzt wieder sehen: Die Ultra­or­tho­doxen wollten einen parti­ellen Lockdown in ihren Hoch­burgen nicht akzep­tieren und drohten die Koalition zu verlassen. Schwups, wurde der Entscheid zurück­ge­zogen. Und statt­dessen das ganze Land „abge­straft“. Jetzt müssen halt alle daheim herum­sitzen. Die Frommen können zufrieden sein.

Die offen­sicht­li­chen Fehler, die Netanyahu und seine Mannen (und wenige Frauen) in den vergan­genen Wochen in der Bekämp­fung des Virus gemacht haben, die Unfä­hig­keit zur medi­en­wirk­samen Kommu­ni­ka­tion seines „Corona-Zaren“ Professor Ronni Gamzu, der das Richtige will, aber nicht weiß, wie er das der Bevöl­ke­rung vermit­teln soll, weil er in seinen Pres­se­kon­fe­renzen so redet als ob er auf einer Fach­ärz­te­ta­gung sei. Der Fakt, dass die Politiker ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine werfen – all das ist hinläng­lich bekannt.

Doch es gibt weitere Gründe für das aktuelle Desaster. Es sind struk­tu­relle Fehler in der israe­li­schen Gesell­schaft, die Jahr­zehnte zurück­liegen und sich seitdem immer weiter verfes­tigt haben.

Die Frak­tio­nie­rung der israe­li­schen Gesell­schaft ist nicht nur eine Folge der popu­lis­ti­schen Scharf­ma­cherei von Premier Netanyahu, der, wie viele Popu­listen, die Gesell­schaft spaltet, in dem er sie gegen­ein­ander aufwie­gelt, vor allem die „Rechten“ gegen die „Linken“, die „wahren Juden“ gegen die „hedo­nis­ti­sche Elite“, quasi „Jerusalem“ gegen „Tel Aviv“. Nein, Israel war im Grunde nie eine einheit­liche Gesell­schaft. Allein der Status-Quo Brief von David Ben Gurion 1947, der den Ultra­or­tho­doxen viel Macht und vor allem: innere Autonomie zugestand, war der Auslöser für das, was jetzt geschieht. Aus der Sicht der Ultras ist ihr heutiges Verhalten die logische Konse­quenz eines Zustands, der einer echten Demo­kratie spottet: Ein Sektor der Gesell­schaft handelt nach eigenen Regeln, hat seine eigenen Schulen und macht, was er für richtig hält, erst recht, seitdem er politisch zum Zünglein an der Waage auf dem Weg zur Macht für säkulare Politiker geworden ist. Da sind Anord­nungen der Regierung nur nervig.

Ähnlich ist es bei den ideo­lo­gi­schen Siedlern, die längst ihre poli­ti­sche Agenda zur Agenda des Staates gemacht haben. Ihre Strategie war seit ihren Anfängen immer dieselbe und zutiefst anti-demo­kra­tisch: Alles machen, auch wenn es die jeweilige Regierung verbietet. Solange, bis man endlich das Placet bekommen hat. Man erinnere sich nur an Sebastia in den 70er Jahren als die Armee immer wieder an diesen histo­ri­schen Ort kam, um die Siedler zu vertreiben, bis schließ­lich ein Kompro­miss gefunden wurde, aus dem dann die Siedlung „Kdumim“ und andere hervor­gingen. Bis heute agieren diese Ideologen auf dieselbe Art und Weise. Inzwi­schen aber mit immer weniger Wider­stand von Seiten der staat­li­chen Institutionen.

Auch die israe­li­schen Araber – die sich selbst Paläs­ti­nenser in Israel oder israe­li­sche Paläs­ti­nenser nennen – sind eine Gruppe für sich. Bis 1966 standen sie unter Mili­tär­recht. Sich als inte­graler Bestand­teil Israels zu fühlen, war natürlich unter diesen Umständen nicht möglich. Der Konflikt mit ihren Brüdern und Schwes­tern jenseits der Grünen Linie, machte ihnen die Soli­da­rität mit „ihrem“ Staat über Jahr­zehnte nahezu unmöglich. Hinzu kam ebenfalls eine gewisse Autonomie, wie bei den jüdischen Frommen. Ein eigenes Schul­system und andere Einrich­tungen haben auch in diesem Fall dafür gesorgt, dass hier ein eigener „Sektor“ entstand, der in der Corona-Krise zwar besser mit der Regierung zusam­men­ar­beitet als die Ultra­or­tho­doxen, aber dennoch „ganz natürlich“ sozusagen skeptisch gegen die Anwei­sungen aus Jerusalem reagiert und manche Entschei­dungen bezüglich lokaler Lockdowns als „Rassismus“ ablehnt, selbst wenn die Infek­ti­ons­zahlen auch bei den Arabern, wie bei den Haredim, über­durch­schnitt­lich hoch sind. Der Rassismus-Vorwurf mag in diesem Zusam­men­hang als unge­bühr­lich angesehen werden. Doch er ist verständ­lich. Denn spätes­tens mit dem Natio­nal­staats­ge­setz von 2018, das unter anderem dafür sorgte, dass Arabisch nicht mehr die zweite Amts­sprache des Staates ist, wurde deutlich: die jüdische Regierung sieht 1,8 Millionen (arabische) Bürger als Bürger zweiter Klasse an. Und nicht einmal linke „zionis­ti­sche“ Parteien würden es wagen, mit der arabi­schen Partei „Joint List“eine Koalition zu bilden, weil man schließ­lich eine „jüdische Mehrheit“ braucht. Tribales Denken gegenüber demo­kra­ti­schem Denken.

Mit dieser Entwick­lung parallel vollzogen sich weitere sektorale Sepa­rie­rungen, man denke nur an den „Evergreen“ der asch­ke­na­si­schen und misra­chi­schen Animo­si­täten. Und: im öffent­li­chen Streit in der Corona-Krise konnte man von allen Seiten immerzu hören, dass „jene“ es besser oder schlechter hätten, wohin­gegen „wir“ dann ebenfalls bevorzugt oder benach­tei­ligt werden. Wobei „jene“ und „wir“ dann auch gerne wech­selnde Grup­pie­rungen sind. Ein kollek­tives Wir gibt es in Israel nur noch in einer einzigen Situation: wenn Krieg herrscht. Dann, aber nur noch dann, ist die israe­li­sche Gesell­schaft soli­da­risch. Und selbst das bröckelt in dem Augen­blick, wenn klar wird, dass der jeweilige Krieg nicht mehr total bedroh­lich ist.

Und schließ­lich der letzte Punkt. Eine israe­li­sche Eigen­schaft, die in vielen Fällen als großes Plus gesehen wird: die Fähigkeit zu Impro­vi­sieren, „out of the box“ zu denken, im Chaos groß­ar­tige Ideen zu entwi­ckeln. Das führte nicht nur zum Phänomen der „Start-Up Nation“, sondern erwies sich auch in Kriegen als großes Glück. So etwa, als in einem der frühen Kriege bei einem Überfall ägyp­ti­scher Panzer, eine israe­li­sche Panzer­ein­heit restlos unter­legen war. Um so zu tun als ob man „viele“ sei, fuhren die Panzer in der Wüste unun­ter­bro­chen herum, wirbelten massiv Staub auf und schossen nonstop aus allen Rohren ohne wirklich zu zielen – nur um den Eindruck zu vermit­teln, man sei überlegen. Die List funktionierte.

Doch dieses Impro­vi­sieren, dieses jeweils nur „akute“ Handeln, ohne wirk­li­chen Plan, ohne Struktur und lang­fris­tigem Ziel, ist in dieser Corona-Krise ein echtes Handicap. Jetzt bräuchte es eine Langzeit-Strategie, ein Inein­an­der­greifen verschie­dener Orga­ni­sa­tionen und Insti­tu­tionen, die nicht mitein­ander konkur­rieren, sondern sich gegen­seitig unter­stützen, sich der großen Sache unter­werfen, die Team­ar­beit, Voraus­sicht, Weitblick, Ruhe und Mass verlangt. Das aber ist in Israel seit jeher Mangel­ware. Und so wird einfach weiter­ge­wurs­telt. In der Hoffnung, dass es schon irgendwie werden wird. Wie heißt es auf Hebräisch: Jihije Beseder, es wird in Ordnung sein. Und jeder, der Israel kennt, weiß, wenn das jemand sagt, dann kann man sicher sein, dass die Lage sehr sehr ernst ist.

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