Der zweite Lockdown in Israel
In Israel schnellen die Infektionszahlen wieder in die Höhe. Das Corona-Desaster ist nicht nur Folge verfehlter Regierungspolitik. Es zeigen sich die Probleme einer stark fraktionierten Gesellschaft und der Neigung zum Improvisieren, ohne Struktur und Strategie.
Israel kann sich einer neuen Superlative rühmen: als erstes Land weltweit erlebt einen zweiten Lockdown. Warum das so ist, ist inzwischen hinlänglich bekannt: Die Fehler, die die Regierung bei der Wiederöffnung des Landes nach dem ersten Lockdown gemacht hat, viele „Häuptlinge“, die alle etwas anderes wollen und vor lauter Ego das große Ganze außer acht lassen und permanent ihre eigenen Aussagen widerrufen, ein Premier Benjamin Netanyahu, der in erster Linie mit dem Machterhalt beschäftigt ist und mehr noch: mit dem Versuch, einer möglichen Verurteilung in seinem Prozess wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen zu entgehen. Oder, um es zu verkürzen: Ein Premier, der alles tut, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Und was das bedeutet, konnte man jetzt wieder sehen: Die Ultraorthodoxen wollten einen partiellen Lockdown in ihren Hochburgen nicht akzeptieren und drohten die Koalition zu verlassen. Schwups, wurde der Entscheid zurückgezogen. Und stattdessen das ganze Land „abgestraft“. Jetzt müssen halt alle daheim herumsitzen. Die Frommen können zufrieden sein.
Die offensichtlichen Fehler, die Netanyahu und seine Mannen (und wenige Frauen) in den vergangenen Wochen in der Bekämpfung des Virus gemacht haben, die Unfähigkeit zur medienwirksamen Kommunikation seines „Corona-Zaren“ Professor Ronni Gamzu, der das Richtige will, aber nicht weiß, wie er das der Bevölkerung vermitteln soll, weil er in seinen Pressekonferenzen so redet als ob er auf einer Fachärztetagung sei. Der Fakt, dass die Politiker ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine werfen – all das ist hinlänglich bekannt.
Doch es gibt weitere Gründe für das aktuelle Desaster. Es sind strukturelle Fehler in der israelischen Gesellschaft, die Jahrzehnte zurückliegen und sich seitdem immer weiter verfestigt haben.
Die Fraktionierung der israelischen Gesellschaft ist nicht nur eine Folge der populistischen Scharfmacherei von Premier Netanyahu, der, wie viele Populisten, die Gesellschaft spaltet, in dem er sie gegeneinander aufwiegelt, vor allem die „Rechten“ gegen die „Linken“, die „wahren Juden“ gegen die „hedonistische Elite“, quasi „Jerusalem“ gegen „Tel Aviv“. Nein, Israel war im Grunde nie eine einheitliche Gesellschaft. Allein der Status-Quo Brief von David Ben Gurion 1947, der den Ultraorthodoxen viel Macht und vor allem: innere Autonomie zugestand, war der Auslöser für das, was jetzt geschieht. Aus der Sicht der Ultras ist ihr heutiges Verhalten die logische Konsequenz eines Zustands, der einer echten Demokratie spottet: Ein Sektor der Gesellschaft handelt nach eigenen Regeln, hat seine eigenen Schulen und macht, was er für richtig hält, erst recht, seitdem er politisch zum Zünglein an der Waage auf dem Weg zur Macht für säkulare Politiker geworden ist. Da sind Anordnungen der Regierung nur nervig.
Ähnlich ist es bei den ideologischen Siedlern, die längst ihre politische Agenda zur Agenda des Staates gemacht haben. Ihre Strategie war seit ihren Anfängen immer dieselbe und zutiefst anti-demokratisch: Alles machen, auch wenn es die jeweilige Regierung verbietet. Solange, bis man endlich das Placet bekommen hat. Man erinnere sich nur an Sebastia in den 70er Jahren als die Armee immer wieder an diesen historischen Ort kam, um die Siedler zu vertreiben, bis schließlich ein Kompromiss gefunden wurde, aus dem dann die Siedlung „Kdumim“ und andere hervorgingen. Bis heute agieren diese Ideologen auf dieselbe Art und Weise. Inzwischen aber mit immer weniger Widerstand von Seiten der staatlichen Institutionen.
Auch die israelischen Araber – die sich selbst Palästinenser in Israel oder israelische Palästinenser nennen – sind eine Gruppe für sich. Bis 1966 standen sie unter Militärrecht. Sich als integraler Bestandteil Israels zu fühlen, war natürlich unter diesen Umständen nicht möglich. Der Konflikt mit ihren Brüdern und Schwestern jenseits der Grünen Linie, machte ihnen die Solidarität mit „ihrem“ Staat über Jahrzehnte nahezu unmöglich. Hinzu kam ebenfalls eine gewisse Autonomie, wie bei den jüdischen Frommen. Ein eigenes Schulsystem und andere Einrichtungen haben auch in diesem Fall dafür gesorgt, dass hier ein eigener „Sektor“ entstand, der in der Corona-Krise zwar besser mit der Regierung zusammenarbeitet als die Ultraorthodoxen, aber dennoch „ganz natürlich“ sozusagen skeptisch gegen die Anweisungen aus Jerusalem reagiert und manche Entscheidungen bezüglich lokaler Lockdowns als „Rassismus“ ablehnt, selbst wenn die Infektionszahlen auch bei den Arabern, wie bei den Haredim, überdurchschnittlich hoch sind. Der Rassismus-Vorwurf mag in diesem Zusammenhang als ungebührlich angesehen werden. Doch er ist verständlich. Denn spätestens mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018, das unter anderem dafür sorgte, dass Arabisch nicht mehr die zweite Amtssprache des Staates ist, wurde deutlich: die jüdische Regierung sieht 1,8 Millionen (arabische) Bürger als Bürger zweiter Klasse an. Und nicht einmal linke „zionistische“ Parteien würden es wagen, mit der arabischen Partei „Joint List“eine Koalition zu bilden, weil man schließlich eine „jüdische Mehrheit“ braucht. Tribales Denken gegenüber demokratischem Denken.
Mit dieser Entwicklung parallel vollzogen sich weitere sektorale Separierungen, man denke nur an den „Evergreen“ der aschkenasischen und misrachischen Animositäten. Und: im öffentlichen Streit in der Corona-Krise konnte man von allen Seiten immerzu hören, dass „jene“ es besser oder schlechter hätten, wohingegen „wir“ dann ebenfalls bevorzugt oder benachteiligt werden. Wobei „jene“ und „wir“ dann auch gerne wechselnde Gruppierungen sind. Ein kollektives Wir gibt es in Israel nur noch in einer einzigen Situation: wenn Krieg herrscht. Dann, aber nur noch dann, ist die israelische Gesellschaft solidarisch. Und selbst das bröckelt in dem Augenblick, wenn klar wird, dass der jeweilige Krieg nicht mehr total bedrohlich ist.
Und schließlich der letzte Punkt. Eine israelische Eigenschaft, die in vielen Fällen als großes Plus gesehen wird: die Fähigkeit zu Improvisieren, „out of the box“ zu denken, im Chaos großartige Ideen zu entwickeln. Das führte nicht nur zum Phänomen der „Start-Up Nation“, sondern erwies sich auch in Kriegen als großes Glück. So etwa, als in einem der frühen Kriege bei einem Überfall ägyptischer Panzer, eine israelische Panzereinheit restlos unterlegen war. Um so zu tun als ob man „viele“ sei, fuhren die Panzer in der Wüste ununterbrochen herum, wirbelten massiv Staub auf und schossen nonstop aus allen Rohren ohne wirklich zu zielen – nur um den Eindruck zu vermitteln, man sei überlegen. Die List funktionierte.
Doch dieses Improvisieren, dieses jeweils nur „akute“ Handeln, ohne wirklichen Plan, ohne Struktur und langfristigem Ziel, ist in dieser Corona-Krise ein echtes Handicap. Jetzt bräuchte es eine Langzeit-Strategie, ein Ineinandergreifen verschiedener Organisationen und Institutionen, die nicht miteinander konkurrieren, sondern sich gegenseitig unterstützen, sich der großen Sache unterwerfen, die Teamarbeit, Voraussicht, Weitblick, Ruhe und Mass verlangt. Das aber ist in Israel seit jeher Mangelware. Und so wird einfach weitergewurstelt. In der Hoffnung, dass es schon irgendwie werden wird. Wie heißt es auf Hebräisch: Jihije Beseder, es wird in Ordnung sein. Und jeder, der Israel kennt, weiß, wenn das jemand sagt, dann kann man sicher sein, dass die Lage sehr sehr ernst ist.
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