Ist 2019 das Ende des liberalen Israel?
Bei der Parlamentswahl hat Benjamin Netanjahus Likud gemeinsam mit anderen rechten und ultrareligiösen Parteien eine Mehrheit errungen. Seit einigen Jahren schon geht Netanjahu aggressiv gegen unabhängige Institutionen des Staates vor. Gibt es noch Kräfte, die verhindern können, dass die neue Regierung Israel zu einer illiberalen Demokratie macht?
Nein, noch ist die Katastrophe nicht eingetreten. Immerhin haben 47 Prozent der Israelis gegen Benjamin Netanjahu gestimmt, was ein gutes Zeichen ist für die Demokratiefähigkeit des jüdischen Staates. Dennoch könnte das, was in Israel bei den Wahlen am 9. April geschehen ist, das Ende des demokratisch-liberalen Systems einläuten.
Doch vielleicht muß das oben Geschriebene etwas modifiziert werden: Israel war nie ein liberal-demokratischer Staat, wie man ihn in Europa kennt. Allein das Prinzip, dass ein Staat stets der Staat all seiner Bürger ist, wurde in Israel von Anfang an anders gehandhabt. Ja, die Unabhängigkeitserklärung von 1948 besagt, dass alle Bürger des Staates gleichberechtigt sind. Doch in der Praxis sah das anders aus. Bis 1966 herrschte das Militärrecht über die israelischen Araber, also jene Palästinenser, die innerhalb Israels lebten.
Eine solche Konstellation hat es in Europa nie gegeben: Dass Menschen, die zu einem verfeindeten Volk gehören, Bürger des Staates sind, den ebendieses Volk (hier: Palästinenser und Araber) vernichten will. Auch das macht die Besonderheit Israels aus. Dort, wo das in Europa so war, wurden diese Menschen vertrieben oder gar umgebracht.
Araber genießen in Israel mehr Rechte als in jedem anderen muslimischen Land
Hinzu kam die im liberal-demokratischen Sinne komplizierte Definition des Begriffes „jüdischer Staat“. Denn schon in der Thora ist die Definition, wer Jude ist, einzigartig: Man gehört nicht nur einem bestimmten Glauben an, sondern ist zugleich Teil eines Volkes (nicht einer Rasse!). Der Zionismus hat als Produkt des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts aus dem jüdischen Volk die jüdische Nation mit ihrer nationalen Freiheits- und Emanzipationsbewegung gemacht.
So ist es eben auch kein Wunder, dass die israelische Nationalhymne von der „jüdischen Seele“ spricht, ein Text, den muslimische, christliche, drusische, tscherkessische und andere Israelis nicht wirklich singen können und wollen.
Trotz aller Probleme und Benachteiligungen der arabischen Minderheit in Israel, ist es eines der vielen Paradoxe Israels, dass die Araber in Israel mehr bürgerliche Rechte und Freiheiten haben als in jedem anderen muslimischen Land. Zudem gab es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren durchaus einen gewissen Anlass zur Hoffnung auf sich verbessernde Beziehungen zwischen Juden und Muslimen. Denn im Alltag ist Kooperation durchaus vorhanden: Man sehe sich nur mal das israelische Gesundheitswesen an, das ohne arabische Pfleger, Schwestern und Ärzte nicht funktionieren würde. Im persönlichen und geschäftlichen Umgang gibt es viele positive Beispiele und schließlich haben auch die arabischen Israelis allmählich begonnen, ihr Recht einzufordern, sich am Staat, dessen Bürger sie sind, zu beteiligen. Nicht nur in der Knesset, in der es seit jeher arabische Parteien gibt, sondern auch beim Äquivalent zum deutschen Zivildienst, dem Nationaldienst. Zwar absolvieren ihn noch nicht viele Palästinenser mit israelischem Pass. Aber die Zahl steigt stetig.
Die Siedlerbewegung hat von Anfang an einen anderen Staat im Sinn gehabt
Doch die israelische Rechte, allen voran die Siedlerbewegung, hat von Anfang an einen anderen Staat im Sinn gehabt. Nicht nur für Araber, sondern auch und gerade für die jüdische Bevölkerung. Jahrzehntelang konnte sie weitab von den Ballungszentren wie Tel Aviv oder Haifa ihre Ideologie und ihr politisches Gewicht ausbauen. Als in den Siebzigerjahren das Siedlungsprojekt mit Hilfe von Shimon Peres, aber mehr noch von Ariel Sharon zunehmend Realität wurde, ahnte zunächst niemand, welch politischer Sprengstoff da herangezüchtet wurde.
Tatsächlich sahen viele Israelis die Siedlerbewegung „Gush Emunim“ als messianische Eiferer, die man nicht weiter ernst nehmen musste, es waren ja anfangs nur ein paar Hundert. Gleichzeitig gab es aber auch Mahner und Warner, die frühzeitig erkannten, welche Gefahr sich da in einer einigermaßen funktionierenden Demokratie auszubreiten drohte. Ob das der Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz war oder etwas später Amos Oz: Sie sahen und wußten, auf was dieser junge jüdische Staat zusteuerte. Dabei ging es nicht nur darum, dass die Siedlungen illegal sind oder den Palästinensern einen eigenen Staat verunmöglichten, sondern vor allem um eine nationalreligiöse, messianisch-theokratische Ideologie, die die Fundamente des säkularen Israel zum Einstürzen bringen wollte.
Solange sich die Siedlerbewegung „nach außen“ richtete, also: gegen die Palästinenser und ihre Aspiration auf einen eigenen Staat, war zwar das liberale israelische Establishment nicht einverstanden und protestierte manchmal zu Hunderttausenden auf der Straße. Aber irgendwo tief drinnen in der „jüdischen Seele“, in der Seele des Volkes aus dem Ghetto, des jahrtausendelang verfolgten Volkes, gab es auch immer ein wenig Zweifel am Friedenswillen der Palästinenser. Und so mancher fragte sich deswegen, ob es richtig sei, Judäa und Samaria, so die hebräischen Namen des Westjordanlands, zurückzugeben. Das Land, das das biblische Israel ist.
Die „Kippat Sruga“, das Zeichen der Siedler, wurde bald überall gesehen
Als die Siedlerbewegung schließlich ansetzte, den Staat von innen zu erobern, war es bereits zu spät. Die „Kippat Sruga“, die gehäkelte Kippa, das Zeichen der Siedler, wurde bald überall gesehen, zunehmend in Schlüsselpositionen des Staates, ob bei der Polizei, in den Ministerien, in der Armee oder sonstwo. Die Kippa alleine war zwar noch nicht automatisch Ausdruck einer Unterwanderung des aktuellen Systems. Der Ex-Polizeichef Ronni Alsheikh, selbst Siedler und „Kippat Sruga“-Träger, ließ sich beispielsweise nicht davon abhalten, gegen den amtierenden Premierminister Benjamin Netanjahu in mehreren Fällen wegen Korruption zu ermitteln und die Polizei gegen die massiven verbalen Attacken Bibis zu verteidigen. Als Sharon 2005 den Gaza-Streifen räumen ließ, gingen die Siedler nicht so weit, die Armee anzugreifen. Man leistete massiven, aber überwiegend passiven Widerstand. Ob das allerdings heute noch so wäre, ist zweifelhaft.
Mehr und mehr übernahmen Siedler und siedlerfreundliche Religiöse Positionen, um den Staat Israel von innen heraus zu revolutionieren, um aus dem säkularen Staat einen nationalreligiösen zu machen mit antidemokratischen Zügen, die gerne als „jüdisch“ bezeichnet werden, um darzulegen, dass es wichtiger sei, einen „jüdischen“ Staat statt eines „demokratischen“ zu haben. Wobei unterschlagen wird, dass diese Definition des „Jüdischen“ keine allgemeine Gültigkeit hat. Dass „jüdisch“ in der Diaspora anders definiert wird und – wie man am Beispiel der Mehrheit der US-Juden sehen kann – keineswegs im Widerspruch zu „liberal“ oder gar „demokratisch“ stehen muß. Ganz im Gegenteil: die große Mehrheit der US-Juden sehen „jüdisch“ als Synonym für „liberal“. Kein Wunder also, dass die beiden größten jüdischen Gemeinschaften des 21. Jahrhunderts sich politisch, moralisch und ideologisch auf Kollisionskurs befinden. Erst recht, seitdem Netanjahu an der Macht ist. Israel wird zum Darling der Republikaner, aber immer weniger der Demokraten. Doch mehr als 70 Prozent der US-Juden wählen demokratisch und tun sich mit der heutigen ideologischen Ausrichtung Israels schwer.
Der Schock, der nach den Wahlen am 9. April das liberale, demokratische Lager in Israel erfasst hat, ist echt und sitzt tief. Allerdings ist er auch das Ergebnis des Wegschauens, des Laufenlassens, eines Gefühls des „Es betrifft mich ja nicht direkt“, das viele über zehn, zwanzig Jahre gepflegt haben, insbesondere in Tel Aviv, das sich innerhalb Israels in einer ähnlichen Inselsituation befindet wie New York in den USA.
Israel und die USA sind auf Kollisionskurs
Damit wurde zwar das Treiben der Siedlerbewegung nicht gut geheißen oder gar unterstützt, absolut nicht. Aber über Jahrzehnte waren die Siedler ja quasi „da drüben“ aktiv, jenseits der grünen Linie, dort, wo sich der Normalisraeli nicht hin verirrt, es sei denn als Soldat. Doch hinter dieser Ausrede steckt auch Ignoranz: der Versuch zu rechtfertigen, dass man nicht gesehen hat, welche Realität die Siedler in Judäa und Samaria über Jahrzehnte geschaffen haben.
Natürlich muß man die säkularen Parteien mit verantwortlich machen für diese Entwicklung. Insbesondere der Likud, aber durchaus auch die Arbeitspartei, haben die Siedler finanziell unterstützt, weil man einen Koalitionspartner brauchte. Oder auch schlicht, was für den Likud gilt: aus übereinstimmender Ideologie.
In diesem Verbund spielen auch die ultra-orthodoxen Parteien eine gewichtige Rolle. Sie waren anfänglich nicht unbedingt Unterstützer der Siedlerbewegung. Manche halten den Staat Israel nach wie vor für Blasphemie, weil nur der Messias einen jüdischen Staat ins Leben rufen darf. Andere, wie etwa Schas, befanden anfänglich unter ihrem mittlerweile verstorbenen spirituellen Mentor Rabbi Ovadia Josef, dass „jüdisches Blut heiliger sei als jüdische Erde“, dass es also legitim sei, zum Schutze des Volkes auf Land zu verzichten. Ähnlich äußerte sich auch der große Führer des litauischen Judentums, Raw Shach, der 2001 verstarb.
Die Palästinenser spielten den Rechten in die Hände
Doch allmählich bezogen die Ultraorthodoxen Position für die Beibehaltung der „Gebiete“, mehr noch aber waren sie immer schon gegen den säkularen Staat und dessen Gesetze, die man für weniger bindend ansieht als das Religionsgesetz Gottes.
Zugegeben, die Palästinenser spielten dieser Entwicklung in die Hände. Der Terror, die Unwilligkeit und die Unfähigkeit der palästinensischen Führung, Frieden zu schaffen und die eigene Bevölkerung auf einen Kompromiss vorzubereiten und das Beharren auf der Rückkehr aller palästinensischen „Flüchtlinge“ in das Kernland Israel, das für sie ebenfalls „Palästina“ ist, ist nichts anderes als die Zerstörung des jüdischen Staates mit friedlichen Mitteln. (Ich setze „Flüchtlinge“ übrigens in Anführungszeichen, weil sich nur bei den Palästinensern der Flüchtlingsstatus mit Hilfe einer UN-Entscheidung vererbt. 1948 gab es 750 Tausend Flüchtlinge. Heute sind es fünf Millionen.)
All das wurde häufig als Vorwand, aber durchaus auch zu Recht als Argument der Rechten in Israel verwendet, um die eigene Position gegen einen Palästinenserstaat zu zementieren.
Die Koalition unter Bibi hat sich getraut, Institutionen des Staates zu attackieren
Was spätestens mit dem Wahlsieg Netanjahus im Jahr 2015 offensichtlicher wurde, sind die Folgen dieser jahrzehntelangen Entwicklung: Aus unterschiedlichen Motiven, die bei Netanjahu zum Teil ideologisch, zum Teil machtpolitisch zu erklären sind, hat sich die letzte Koalition immer aggressiver getraut, die Institutionen des Staates anzugreifen.
Bibis verbale Angriffe gegen die Polizei, seine Abneigung gegenüber dem Generalsstab der Armee, sein Widerwillen gegen die freie, „linke“ Presse und vor allem der Hass auf das Oberste Gericht von Seiten seiner ultrarechten Koalitionspartner – all das sind Zeichen einer tiefgreifenden Veränderung des gesellschaftlichen Konsens gegenüber der Demokratie. Der öffentliche Diskurs, den Bibi und seine Anhänger anheizten, wonach alles, was „links“ ist, zugleich „anti-zionistisch“ oder gar „anti-jüdisch“ sei, hat mit dazu beigetragen, dass viele den von den säkularen Sozialisten gegründeten Staat in seiner jetzigen Form nicht mehr haben wollen. Wenn Polizei, Justiz, freie Presse „links“ sind, sind die Institutionen des zionistischen Staates selbst quasi „anti-zionistisch“ und „anti-jüdisch“.
Ayelet Shaked, die jetzt abgewählte Justizministerin, ging im Wahlkampf spielerisch damit um, dass sie als Faschistin angesehen wird. Sie machte einen Wahlkampfspot, in dem sie – eine schöne Frau – sich ein neues Parfum zulegt, das „Faschismus“ heißt. Am Ende des Spots spricht sie in die Kamera: „Für mich riecht’s nach Demokratie.“ Shaked war angetreten, die Freiheit und Unabhängigkeit des Obersten Gerichts Israels, das inzwischen als letzte Bastion liberaler Werte gilt, zu beschneiden. Sie wollte in der neuen Legislaturperiode ihre Arbeit krönen und nicht nur die Ernennung von Richtern durch die Regierung festschreiben, sondern obendrein dem Gericht die Möglichkeit nehmen, verabschiedete Gesetze über den Haufen zu werfen. Es ist ein schwacher Trost, dass Shaked in der neuen Knesset nicht mehr vertreten sein wird, weil ihre Partei die 3,25-Prozent-Hürde nicht genommen hat. Es sind genug andere faschistoide Gruppierungen vorhanden, die das Werk Shakeds mit Begeisterung fortführen wollen.
Netanjahu hat mit dafür gesorgt, dass Rechtsextreme Teil der Knesset wurden
Im Wahlkampf hatte Netanjahu es zum Sündenfall kommen lassen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Siedlerpartei ein Bündnis mit „Otzma Jehudit“ einging, um so eine stärkere Fraktion bilden zu können. „Otzma Jehudit“ („Jüdische Kraft“) ist die Nachfolgepartei der in Israel verbotenen Kach-Partei des 1991 ermordeten radikalen Rabbi Meir Kahane. Kahane und seine Gefolgsleute waren offen faschistisch, rassistisch und sexistisch. Seine Nachfolger, von denen einige noch bei ihm „gelernt“ haben, sind es nicht minder. Netanjahu, ein Rechter, gewiß, aber doch jemand, den man lange innerhalb des demokratischen Spektrums wußte, hat nun mit dafür gesorgt, dass Faschisten Teil der Knesset wurden und wohl bald auch in der Regierungskoalition sitzen werden.
Und so ist zu befürchten, dass die Ultrarechte ihren Weg weitergehen wird, ob mit oder ohne Shaked. Netanjahu muß inzwischen auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Als noch Barack Obama im Weißen Haus saß, achtete Bibi minutiös darauf, besonders extremistische Gesetzesentwürfe in die unterste Schublade verschwinden zu lassen, wußte er doch, dass er ansonsten massive Schwierigkeiten mit den USA bekommen würde. Doch seitdem ein Bruder im Geiste US-Präsident ist, hat Bibi alle Freiheiten. Die Europäer sind zu schwach und politisch zu unbedeutend, als dass Netanjahu sie ernst nehmen würde. Putin, selbst ein autokratischer Herrscher, spricht eine ähnliche Sprache wie Bibi, wenngleich Netanjahu weit von der Machtfülle des russischen Präsidenten entfernt ist.
Wer von außen könnte die fünfte Regierung Netanjahu aufhalten, das Undenkbare Realität werden zu lassen und aus Israel einen totalitären Staat zu machen? Wer von innen?
Nur 44 Prozent der wahlberechtigten Araber gingen wählen
Doch halt! Diese Begrifflichkeit ist veraltet und falsch, diese Staatsform entspricht nicht mehr dem 21. Jahrhundert. Die Grenzen werden nicht dicht gemacht, politische Gegner nicht ins Gefängnis geworden oder gefoltert, Wahlen werden nicht abgeschafft. Das Zauberwort hat Viktor Orbán, einer der Buddys Netanjahus, kreiert: „Die illiberale Demokratie“, also jenes hybride Konstrukt eines Staates, der dem Einzelnen individuelle Freiheiten lässt, aber politische Opposition unterdrückt.
Gerade das kleine, insulare Israel ist darauf angewiesen, dass seine Bürger reisen und Geschäfte mit und im Ausland machen, anders ist das Überleben des Staates nicht möglich. Es wird also auch bis auf weiteres keine echte Veränderung für den einzelnen Bürger geben, solange er jüdisch und nicht arabisch ist. Denn mit dem Nationalstaat-Gesetz, das 2018 verabschiedet wurde und das bis zu einem gewissen Grad die Unabhängigkeitserklärung von 1948 in Frage stellt, ist deutlich, dass sich der Staat in Zukunft primär um seine jüdischen Bürger kümmern wird, selbst wenn die „Basic Laws“, das Äquivalent zum deutschen Grundgesetz, nach wie vor garantieren, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Netanjahus Regierung ficht das nicht an, sondern macht jüdische Bürger einfach etwas „gleicher“. Eine Quadratur des Kreises, gewiß, doch wer will das anfechten? Die arabischen Bürger Israels, die sich über den wachsenden Rassismus in Israel beschweren?
Diese haben bei der Wahl einen kapitalen Fehler begangen. Aus Frust über das Auseinanderbrechen der arabischen Parteien, die 2015 als Einheitspartei immerhin drittstärkste Fraktion in der Knesset wurden, aber mehr noch aus Protest gegen den Rassismus in Israel, gingen gerade mal 44 Prozent der wahlberechtigten Araber zu den Wahlurnen. Wenn man bedenkt, dass die arabischen Wähler 17 Prozent aller wahlberechtigten Israelis ausmachen, dann wird klar, dass sie mit ihrer Stimme dem oppositionellen Lager vier bis sechs Mandate zusätzlich hätten bringen können und damit Netanjahu möglicherweise hätten hindern können, ein fünftes Mal an die Macht zu gelangen.
Die zehn Jahre unter Bibi waren die ruhigsten, die Israel je gehabt hat
Doch die taktisch kurzsichtige Entscheidung ist gepaart mit dem Unwillen beispielsweise des Bündnisses „Blauweiß“ von Herausforderer Benny Gantz, sich im Umfeld arabischer Wähler sehen zu lassen. Aus Angst, damit Stimmen von jüdischen Israelis zu verlieren, die Bibi nicht wollen, Araber aber auch nicht.
Doch die Wahrheit ist, dass das Mitte-Links-Lager in Israel längst keine Mehrheit mehr hat. Zumindest keine jüdische Mehrheit (wobei noch die Frage gestellt werden müßte, wie „mittig“ Benny Gantz‘ Bündnis tatsächlich ist). Wenn also das liberale Lager jemals wieder an die Macht kommen und sich als echte Alternative aufstellen will, wird es nicht umhin kommen, die arabischen Israelis endlich offen und ehrlich zu umarmen und sie in ihre Mitte aufzunehmen (und ebenso die frommen Parteien). Und damit in Kauf zu nehmen, dass die rechtsradikalen Zeloten sie endgültig als „Anti-Zionisten“ und „Verräter“ brandmarken – was sie ja jetzt schon tun.
Dass längst nicht alle arabischen Israelis „Liberale“ sind, dass viele von ihnen anti-israelisch und sogar islamistisch sind, ist klar. Dennoch gibt es genug, die endlich in „ihrem“ Staat Israel ankommen und gehört werden möchten. Das Problem für die jüdische Anti-Bibi-Lobby ist allerdings, dass ein Zusammengehen mit der arabischen Minderheit kaum vermittelbar und womöglich karriere- und erfolgsschädigend ist. Das alles ist auch eine Folge massiver demographischer Veränderungen in der israelischen Gesellschaft. Und dass die extremistische Umgebung des Nahen Ostens die Menschen immer weniger zu Experimenten einlädt und immer weniger Mut macht, existentielle Risiken einzugehen, ist klar. Vor diesem Hintergrund war es von den Israelis geradezu vernünftig, Bibi zu wählen. Die zehn Jahre, die er nun schon an der Macht ist, waren die ruhigsten Jahre, die Israel je in seiner Geschichte gehabt hat.
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