Russland setzt den Ostseeraum enorm unter Druck

Im Baltikum ist man sich der Gefahr durch Russland schon sehr viel länger bewusst, so Oliver Moody. Der Berlin-Korre­spondent von The Times und Sunday Times hat gerade ein Buch über die „Konfliktzone Ostsee“geschrieben. Im Interview mit Till Schmidt erklärt er, was wir von den balti­schen Staaten lernen können.

Herr Moody, in ihrem neuen Buch beschäf­tigen Sie sich mit der Ostsee als geopo­li­ti­scher und geo-ökono­mi­scher Region. Was haben diese vielen unter­schied­lichen Länder – die nordi­schen Länder, die balti­schen Staaten, Polen und Deutschland – gemeinsam?

Auch wenn sich die militä­ri­schen Macht- und Souve­rä­ni­täts­kon­stel­lation immer wieder verändert haben, existieren in der Region seit jeher dichte Handels­netz­werke. Das geht sogar zurück bis in der Bronze- und Eisenzeit. Heute hat sich die Region zu einer der kulturell und wirtschaftlich am dichtesten vernetzte Region weltweit entwi­ckelt. Alle Länder teilen inzwi­schen die Bedrohung durch Russland. Fragen der Sicherheit haben seit dem Beginn der russi­schen Vollin­vasion nochmal enorm an Bedeutung gewonnen.

In der Ostsee­region herrscht seitdem höchste Alarm­be­reit­schaft. Das auch, weil die Bedrohung durch eine Reihe von Ausfällen von Strom­kabeln, Telekom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­bin­dungen und Gaspipe­lines sowie durch die russische Schat­ten­flotte konkreter geworden ist. Was genau hat sich seit dem Beginn der russi­schen Vollin­vasion 2022 verändert?

Die balti­schen Staaten haben Russland auch direkt nach dem Ende der Sowjet­union weiterhin als eindeutig Bedrohung wahrge­nommen. In den nordi­schen Ländern und auch für Deutschland war das lange Zeit anders. Inzwi­schen haben sich alle Länder der Ostsee-Region in ihrer Wahrnehmung der russi­schen Bedrohung stark angenähert. Dieser Prozess begann schon vor dem Beginn der russi­schen Vollin­vasion: mit dem russi­schen Einmarsch in Georgien 2000, den von Russland geschürten Unruhen in Estland 2007 und mit der russi­schen Annexion der Krim 2014. Die russische Vollin­vasion in die Ukraine hat besonders in Finnland die Bedro­hungs­wahr­nehmung verschärft, aber auch in Schweden.

Beide Staaten sind nun Teil der NATO. Recht­fertigt das allein schon die inzwi­schen häufiger gehörte, trium­phie­rende Rede von der Ostsee als „NATO-Meer“?

Ich möchte niemandem das Vergnügen nehmen, sich für die geopo­li­ti­schen Verän­de­rungen in Nordost­europa auf die Schulter zu klopfen. Und angesichts des aktuell gravie­renden Mangels an guten Nachrichten, sollte ein bisschen Trium­pha­lismus schon in Ordnung gehen. Ein Problem mit der „NATO-Meer“-Rhetorik habe ich aber dann, wenn sie selbst­ge­fällig wird und die militär­stra­te­gi­schen Reali­täten außer Acht lässt: nämlich, dass Russland den gesamten Ostseeraum und insbe­sondere die balti­schen Staaten nach wie vor enorm unter Druck setzt. Diese Situation hat auch der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO nicht entscheidend verändert.

Sind daher alle westlichen Staaten der Ostsee-Region nun „Front-Staaten“ im Kampf gegen Russland?

Wir haben uns sehr an eine bestimmte Vorstellung gewöhnt: dass die Bedro­hungs­wahr­nehmung und die Bereit­schaft, mehr als fünf Prozent des Brutto­in­lands­pro­duktes für Vertei­digung auszu­geben, zu den Waffen zu greifen und für das eigene Land zu sterben sowie, umso stärker sind, je näher wir der russi­schen Grenze kommen. Wegen der konti­nu­ier­lichen russi­schen Aggression unterhalb der militä­ri­schen Schwelle, würde ich den Begriff „Front-Staaten“ aber auch auf die nicht direkt an Russland angren­zenden Staaten ausweiten. Ohnehin sollten wir uns stärker für die Wahrneh­mungen des Konflikt­ge­schehens insbe­sondere in den balti­schen Staaten sowie in Finnland und in Polen interessieren.

In „Konfliktzone Ostsee“ arbeiten Sie immer wieder auch mit Zukunfts­sze­narien – ähnlich wie Carlo Masala mit seinem Buch „Wenn Russland gewinnt“. Das tun Sie beide nicht, um ihren Lesern Angst zu machen, sondern um zu zeigen, was auf dem Spiel steht, wenn es den europäi­schen Ländern nicht gelingt, ihre Politik voraus­schau­ender und ihre Gesell­schaften resili­enter zu machen. Was ist das Worst-Case-Szenario für den Ostseeraum? 

Es gibt zwei Arten von möglichen Szenarien: Erstens ein Szenario, wie es Carlo Masala skizziert hat. Darin sendet das Putin-Regime eine Botschaft in Form eines Überfalls auf das Baltikum. Amerika ist in diesem Szenario grund­sätzlich nicht bereit, darauf umfassend im Sinne eines NATO-Bündnis­falls zu reagieren. Dadurch werden die europäi­schen NATO-Mitglieder in eine Situation gedrängt, in der sie sich entscheiden müssen: Sind sie bereit, ihre Soldaten in den Kampf und in den Tod zu schicken und die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem mögli­cher­weise nuklearen Konflikt zu riskieren, um ein kleines Gebiet im Baltikum zu retten? Das Ende dieses Szenarios lässt Masala bewusst offen. Das zweite Szenario umfasst die Möglichkeit eines umfas­senden Angriffs Russlands auf die balti­schen Staaten, in der die Situation sehr schnell und sehr schlimm eskaliert.

Wie weit sind wir aktuell von diesen Szenarien entfernt?

Konkrete Daten in die Debatte zu bringen, vermittelt Dring­lichkeit. Doch im Grunde sind das willkür­liche Einschät­zungen – ob sie nun vom dänischen Geheim­dienst oder von der Bundeswehr stammen. Entscheidend sind daher die Parameter, die in diese Einschät­zungen einfließen. Das sind, erstens, die Einschätzung der Absichten des Putin-Regimes. Ich bin kein Russland-Experte. Aber ich war schockiert über das übertriebene Vertrauen der vielen Russland-Analysten, die vor Februar 2022 meinten, sie könnten die Gescheh­nisse gut vorher­sehen – und von der Vollin­vasion vollkommen überrascht wurden. Ich bin davon überzeugt, dass Putin noch nicht genau weiß, was er in Zukunft tun wird.

Russlands militä­rische Fähigkeit ist, zweitens, sehr stark vom Kriegs­verlauf in der Ukraine abhängig. Es ist zudem offen­sichtlich, dass Russland seine militä­ri­schen Struk­turen und seine Infra­struktur an den NATO-Grenzen, insbe­sondere der zu Finnland und Estland, erheblich umgestaltet hat und dass Belarus zu militä­ri­schen Zwecken Russland zunehmend angegliedert wird. Auf der Grundlage der derzei­tigen Produk­ti­ons­raten in der Rüstungs­in­dustrie und der Einbe­rufung von Soldaten dürften sich einige mittel­fristige Entwick­lungen gut vorher­sagen lassen. Ganz besondere Aufmerk­samkeit sollten wir aber, drittens, dem schenken, was wir am besten kontrol­lieren und steuern können: nämlich unserer Abschre­ckung, bestehend aus konven­tio­nellen militä­ri­schen Fähig­keiten, ihrem Erhalt und der Logistik für ihren Einsatz, aber auch aus politi­schen Signalen.

Vielen Staaten und Gesell­schaften des Ostsee­raums blieben im Laufe der Zeit gar nichts anderes übrig, als einen voraus­schau­enden und resili­enten Umgang mit strate­gi­schen Bedro­hungen und Krieg zu entwi­ckeln. In ihrem Buch portrai­tieren Sie die Länder vor allem unter diesem Gesichts­punkt. Wer oder was hat Sie am meisten beeindruckt?

Die außer­ge­wöhn­liche Trans­for­mation der balti­schen Staaten in den letzten vierzig Jahren. Das politische und gesell­schaft­liche Gespräch, das im Estland der 1990er Jahre geführt wurde, ging so: Gerade haben wir unsere Unabhän­gigkeit wieder­erlangt, und nun sind wir so stark verwundbar, dass jeder erwartet, dass wir sofort wieder in die russische Einfluss­sphäre hinein­ge­zogen werden. Um das eigene Überleben zu sichern, setzte man Priori­täten. Im Ergebnis haben die Esten einen Staat aufgebaut, der nicht nur weitaus resili­enter im Krisen- und Kriegsfall ist als viele westeu­ro­päische Länder. Aus dieser Situation heraus hat Estland zusätz­lichen Vorteile ziehen können. Dazu gehören vor allem ein unglaublich gutes Bildungs­system, der berühmte Techno­lo­gie­sektor sowie die Erfolge in der digitalen Gover­nance. Resilienz bedeutet in Estland nicht nur, dafür zu sorgen, dass die Bürge­rinnen und Bürger wissen, was sie bei einem Raketen­an­griff auf ihre Heimat­stadt zu tun haben.

Was bedeutet das ganz konkret?

Mir imponiert der Versuch Estlands, kognitive Schutz­maß­nahmen gegen Desin­for­ma­tionen zu entwi­ckeln. Schon in den ersten Schul­jahren wird in Estland ein Schwer­punkt auf die Vermittlung von Medien­kom­petenz gelegt. Da geht es etwa um die Prüfung von Nachrichten-Quellen auf Serio­sität; oder um die Fähigkeit, einzu­ordnen, woher Dinge, die in den sozialen Medien kursieren, stammen; sowie darum, ein Gespür dafür zu entwi­ckeln, Dinge erstmal zu hinter­fragen, bevor man sie weiter­ver­breitet. Das alles klingt vielleicht banal. Aber in vielen Ländern ist es immer wieder verblüffend zu beobachten, wie leicht­gläubig viele Menschen mit den Infor­ma­tionen aus den Sozialen Medien wie auch den herkömm­lichen Medien umgehen. Hier können wir von Estland lernen.

Wie würden Sie die gesell­schaft­liche Stimmung vor dem Hinter­grund der Unklarheit über die zukünf­tigen Dynamiken vor Ort beschreiben?

In den balti­schen Staaten sind sich die Menschen der Tatsache sehr bewusst, dass die Existenz ihres Landes sehr schnell ausge­löscht werden könnte. Aber mit diesem Bewusstsein leben sie schon seit 30 Jahren, wenn man es vorsichtig schätzt – oder schon seit 700 Jahren, wenn man sehr tief in die Geschichte einsteigen will. Über einen so langen Zeitraum kann man eigentlich keine Angst haben. Man entwi­ckelt eine gewisse Gelas­senheit und kann Bedro­hungen daher klarer einschätzen und bewerten. Deutlich hat sich das auch in Finnland gezeigt, wo es nicht nur gelingt, einen öffent­lichen Konsens in Sicher­heits­fragen zu mobili­sieren, sondern diesen auch sehr plötzlich zu verändern, wenn das – wie bei der Entscheidung, infolge der russi­schen Vollin­vasion in die Ukraine der NATO beizu­treten – notwendig ist.

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