Russland gehört zu uns
Die Annexion der Krim, die Einmischung in Wahlen im Westen, die Intervention im syrischen Bürgerkrieg: Russlands destruktives Verhalten ist Ausdruck einer Identitätskrise. Europa sollte Moskau eine Lösung für diese Krise anbieten und so auf das Land schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowjetisch dominierte Osteuropa schauten – als verlorenes Schaf, das eines Tages zur Herde zurückkehren wird.
In seinem im März veröffentlichten Manifest hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dazu aufgerufen, das Projekt eines vereinten Europas zu erneuern, eines Europas, das auf den Ideen von Freiheit, Schutz des Kontinents und Fortschritt beruht. In Bezug auf den globalen Wettbewerb, in den die EU als politische und wirtschaftliche Weltmacht verwickelt ist, griff Macron auf europäischen Nationalismus zurück, als er schrieb, dass „eine Bevorzugung Europas bei strategischen Industrien und bei unseren öffentlichen Aufträgen vorgenommen werden [sollte], wie das auch unsere amerikanischen und chinesischen Konkurrenten tun“.
Diese Worte sind auch deshalb bezeichnend, weil die USA und China die einzigen Nichtmitglieder der EU sind, die in Macrons Manifest direkt genannt werden. Dies erlaubt wohl einen umfassenden Einblick in seine Vorstellungen von einer zukünftigen Machtkonstellation: Für die EU stellen allein die USA und China eine reale Herausforderung dar, alle anderen internationalen Probleme sind kaum mehr als lästige Ärgernisse.
Macron schien denn auch die Vorstellung von einem lästigen Störfaktor zu haben, als er auf Russland anspielte mit dem Hinweis, dass Wahlen in Europa vor „Cyberattacken und Manipulation“ geschützt werden müssten, und mit dem Vorschlag, dass „die Finanzierung europäischer Parteien durch fremde Mächte“ unterbunden werden müsse. Vor dem Hintergrund der aus Russland stammenden Cyberangriffe und Desinformationskampagnen während des französischen Präsidentschaftswahlkampfes 2017 waren Macrons Anspielungen nicht allzu kryptisch. Aus seiner Sicht bedeutet Russland Cyberattacken, Manipulation und ausländische Unterstützung für europäische Parteien. Das Land stellt – anders als die USA und China – nicht eine globale Konkurrenz dar, sondern verursacht Kopfschmerzen, die mit einem Schmerzmittel wie der von Macron vorgeschlagenen „Europäischen Agentur zum Schutz der Demokratie“ zu beheben sind.
Russland ist nicht Störfaktor, sondern Katalysator
Dieser Ansatz ist berechtigt, doch wäre es politisch kurzsichtig, Russland ausschließlich als Störfaktor zu behandeln. Der einzige Grund, warum europäische Liberale wie Macron wegen Cyberattacken, Desinformation und Unterstützung für rechtspopulistische Parteien besorgt sind, besteht darin, dass das Vorgehen Moskaus als etwas betrachtet wird, das die Geschlossenheit Europas untergräbt. Allerdings ist es nicht so, dass Russland diese Spaltungen erzeugt; es zieht lediglich Nutzen aus bereits bestehenden Konflikten. In dieser Rolle ist Russland nicht selbst der Störfaktor, sondern ein Katalysator.
In der Chemie ist ein Katalysator ein Stoff, der die Stärke einer chemischen Reaktion erhöht. Als Katalysator verschärft Russland soziale Spannungen in Europa, indem politische Anliegen unterstützt werden, die an sich bereits zersetzend sind. Und Russland ist sich seiner Rolle bei der Destabilisierung europäischer Gesellschaften bewusst: Schließlich beschuldigt Moskau den Westen oft, in Russland soziale Spannungen zu schüren. Der Kreml weiß genau, was er im Westen betreibt.
Putins Russland lediglich als Katalysator zu sehen, bringt uns – ganz wie seine Wahrnehmung als Ärgernis – allerdings auch nicht weiter, wenn es darum geht, das größere Bild zu verstehen. Hier sei an den Wirtschaftswissenschaftler Paul Romer von der Universität Stanford erinnert, der davor warnte, eine Krise ungenutzt zu lassen: Ich denke, dass Russland mit seiner Katalysatorrolle als Stresstest für die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität Europas gesehen werden sollte. Daher sollte man sich beim Umgang mit der „Russland-Frage“ in Europa weniger darauf konzentrieren, den Strom der Desinformationen zu entlarven. Vielmehr sollte man versuchen, jene Schwächen auszumachen, die es Russland erlauben, europäische Gesellschaften zu spalten. Diese besondere Perspektive ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil es – um zu Macrons Manifest zurückzukehren – nicht Russland ist, das für Europa eine echte Herausforderung darstellt.
Orwell hätte sich das Ausmaß der Überwachung in China nicht vorstellen können
Im September 2018 schrieb Edward Lucas, ein führender britischer Experte für Sicherheitspolitik, in der „The Times“, dass Putins Russland bei all seiner geographischen Größe und all seinem Atomarsenal grundsätzlich schwach sei, und dass „die wirkliche Herausforderung für Europas wackelige Sicherheit eine Quelle [hat], die ernster zu nehmen [ist], nämlich China“. Der Mäzen und Investor George Soros äußerte am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos eine ähnliche Ansicht, als er sagte, China sei das wohlhabendste, stärkste und technologisch fortschrittlichste autoritäre Regime der Welt. Er fügte hinzu, dass Chinas Staatschef Xi Jinping „der gefährlichste Gegner all jener [ist], die an die Idee einer offenen Gesellschaft glauben“. Soros verwies hierbei auf das sogenannte Sozialkredit-System, ein Instrument, das von den chinesischen Behörden eingesetzt wird, um kritische Ansichten in China auszumerzen.
Die technologischen Fortschritte in China, mit denen Kontrolle über die Bevölkerung errichtet werden soll, sind tatsächlich erschreckend und gehen über das hinaus, was „Orwell sich je hätte vorstellen können“, wie es ein Journalist formulierte. China kann nicht nur Millionen Leute im Live-Modus beobachten, einzelne Menschen identifizieren, sie aufspüren und Daten der Gesichtserkennung in Verbindung zu persönlichen Details wie Reisen, Gesundheitszustand oder der Kreditgeschichte in Verbindung setzen. Chinesische Technologie kann darüber hinaus das Verhalten von Menschen vorhersagen. Das führt uns dann schon in die dystopische Welt der Kurzgeschichte „Minority Report“ von Philip K. Dick (die 1956 erschien und 2002 durch den gleichnamigen Film von Steven Spielberg mit Tom Cruise bekannt wurde), in der eine Polizeiabteilung für „Prä-Verbrechen“ Menschen wegen Taten verhaftet, die sie nicht begangen haben, aber in der Zukunft verüben werden.
Die totalitäre Unterdrückung in Xi Jipings China ist nicht nur futuristisch, sie ist auch von archaischer Grausamkeit. Seit 2014 unterhält China Konzentrationslager, in denen die Regierung versucht, die turksprachige Minderheit der Uiguren sowie Muslime aus anderen ethnischen Gruppen „umzuerziehen“; das Ziel sei die Abwehr von Extremismus und Terrorismus.
Dass China ungestraft bleibt, legitimiert sein Vorgehen
Muslimische Führer in aller Welt haben es unterlassen, die Konzentrationslager gegenüber China anzusprechen, weil sie lieber Wirtschaftsbeziehungen zu diesem Land unterhalten. Bezeichnenderweise hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (der von den Vereinten Nationen mit der Ermordung des Journalisten Jamal Kaschoggi in Verbindung gebracht wird) sogar verteidigt, dass China das „Recht [hat], Maßnahmen gegen Terrorismus und Extremismus zu ergreifen, um seine nationale Sicherheit zu gewährleisten“ – so geschehen, während er ein millionenschweres Handelsabkommen mit China unterzeichnete. Nachdem Staaten des Westens eine Stellungnahme abgegeben hatten, in der die massenhafte Inhaftierung von Uiguren verurteilt wurde, veröffentlichten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Katar, Bahrein, Pakistan, Oman und 30 weitere Staaten ihrerseits eine Stellungnahme. Dort wurde China für seine „bemerkenswerten Leistungen im Bereich der Menschenrechte“ gelobt. In derselben Stellungnahme wurden die Konzentrationslager als „Berufsbildungszentren“ bezeichnet.
Nicht alle Muslime werden in diesen „Berufsbildungszentren“ neue Fertigkeiten erlernen: Viele von ihnen dürften wohl – wie chinesische politische Gefangene – Opfer eine zwangsweisen Entnahme von Organen werden. Der investigative Journalist Ethan Gutan argumentiert in seinen Artikeln, dass genau dies das Schicksal von Zehntausenden Anhängern der Religionsbewegung Falun Gong war. Ihre Organe wurden auf dem lukrativen chinesischen Transplantationsmarkt verkauft.
Hierbei handelst es sich nicht nur um eine interne Abscheulichkeit Chinas: Das chinesische Modell der gesellschaftlichen Kontrolle, der Unterdrückung abweichender Meinungen und der absoluten Missachtung von Menschenrechten, um wirtschaftlichen Nutzen zu erringen, ist exportierbar. Dass China für seine ungeheuerliche Verletzung von Menschen- und Persönlichkeitsrechten und der Meinungsfreiheit ungestraft bleibt, legitimiert eine solche Missachtung in den Augen vieler autoritärer Führer dieser Welt. Hier genügt ein Blick auf die Liste der Länder, die China für die „Förderung der Menschenrechte durch Entwicklung“ gelobt haben.
Russland will zu einem Machtzentrum der neuen Multipolarität werden
Zu den finsteren Aspekten des China von heute kommt seine wachsende militärische Stärke. John Friedman, mittlerweile verstorbener Professor der Universität Kalifornien, traf vor zehn Jahren die Vorhersage, dass „Chinas wachsende wirtschaftliche Macht sich unweigerlich auch in politische und militärische Macht verwandeln“ werde. Seither sind die Militärausgaben des Landes real um 83 Prozent gestiegen und Xi Jinping hofft, dass die chinesische Armee bis 2050 „Weltklasse“ sein wird. „Weltklasse“ impliziert eine Qualität, mit der „Amerika geschlagen“ werden kann. Traditionelle Bewaffnung wird gegen Mitte des Jahrhunderts eindeutig eine sehr viel geringere Rolle spielen. Es ist davon auszugehen, dass künstliche Intelligenz, Big Data und maschinelles Lernen vollständig zu Waffen gemacht werden.
Friedmann war darüber hinaus zu dem Schluss gekommen, dass die Welt zukünftig von einem chinesisch-amerikanischen Antagonismus bestimmt sein werde, während die Europäische Union und Indien potentiell in der Lage sein würden, in ihrer Konkurrenz eine begrenzte Zurückhaltung zu üben. Eine solche Situation impliziert das Ende der unipolaren Welt, wie sie seit dem Untergang der Sowjetunion und dem Kollaps des sozialistischen Blocks in Osteuropa bestanden hat. Das Entstehen von Multipolarität scheint unumkehrbar, und die einzige Frage besteht nun darin, wo die Zentren globaler Macht und ein zukünftiges Machtgleichgewicht zwischen diesen liegen werden. Auch Michael O’Sullivan schreibt in seinem jüngst erschienenen Buch „The Levelling: What’s Next After Globalization“ von vier Polen, die die multipolare Zukunft bestimmen werden: den USA, China, Europa und potentiell Indien. Auch wenn Russland bei bestimmten Aspekten der Multipolarität punkten könnte (etwa militärisch), dürfte es „in seinem gegenwärtigen Zustand […] kaum zu einem echten Pol werden“, schreibt O’Sullivan.
Die Erwartungen der russischen Führung – daran erinnern Anton Barbaschin und Alexander Graefin in ihrem bald erscheinenden Bericht zur russischen Außenpolitik – haben sich seit Mitte der Neunzigerjahre stets von derlei Vorstellungen unterschieden: „Sämtliche Varianten von Multipolarität, die in Russland diskutiert wurden und werden, gingen und gehen davon aus, dass Russland einer dieser Pole sein und somit seinen Großmachtstatus behalten werde.“ Nun aber, da sich schließlich eine Multipolarität entwickelt, muss die geopolitische Landschaft, so, wie sie Gestalt annimmt, für Russland beunruhigend und schmerzhaft sein. O’Sullivan schreibt, dass Multipolarität bei Ländern wie Japan oder Australien, die „sich nicht gänzlich innerhalb des Feldes eines der Pole befinden“ eine Identitätskrise auslösen werde, während das Ende der unipolaren Welt für Länder wie Russland eine Krise der Ambitionen erzeuge: Russland wolle zu einem der Pole werden, sei dazu aber nicht in der Lage.
Das Land ähnelt einem Blinden, der wild um sich schlägt
Diese Krise der Ambitionen führt allerdings notwendigerweise auch zu einer Identitätskrise. Das erklärt zum Teil Russlands Verhalten auf der internationalen Bühne in den letzten Jahren – die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine, die Einmischung in Wahlen im Westen, die Intervention im syrischen Bürgerkrieg unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung und die militärischen Abenteuer in Afrika. All diese Vorgehen können als etwas interpretiert werden, mit dem Russland das nachzuahmen sucht, was die USA – in Moskaus Wahrnehmung – als Weltmacht unternehmen. Russland versucht, seine Identitätskrise zu überwinden, indem es mit draufgängerischem Verhalten und den internationalen Reaktionen darauf experimentiert. Das Land ähnelt einer blinden Person, die des eigenen Körpers nicht durch ein behutsames Ertasten gewahr wird, sondern dadurch, dass chaotisch getreten, geboxt und rundum alles zerschlagen wird.
Da Moskau seinen Platz in der entstehenden multipolaren Welt sucht, in der es wohl kaum zu einem der Pole werden wird, gerät es in eine Falle, und die heißt Peking. Im Zuge seines Konfliktes mit dem Westen, der sich nach der Annexion der Krim verschärft hat, ist Russland näher an China gerückt. Peking betrachtet Moskau nicht nur als Handelspartner, sondern auch als potentiellen Verbündeten im Kampf gegen den Westen. Allerdings bleibt Moskau gegenüber Peking argwöhnisch. In Russland hegen einige immer noch die Hoffnung, dass das Land einer der Pole werden könne und sind voll Unbehagen, dass Russland eine „kleine Schwester“ des „großen Bruders“ aus China werden könne. Bruno Maçães, Portugals ehemaliger Staatssekretär für Europafragen, schrieb in einem aufschlussreichen Artikel über die russisch-chinesischen Beziehungen: „Russland will ein unabhängiger Pol in der neuen Weltordnung sein. Ein unabhängiger Pol in enger Verbindung mit China zu sein, ist aber angesichts der Asymmetrie der Wirtschaftskraft und Größe [der beiden Länder] schlichtweg unmöglich. Also wird Russland genötigt sein, einen gewissen Abstand zu seinem östlichen Nachbarn zu wahren.“
Allerdings wird Russland nicht in der Lage sein, Abstand von China zu halten, solange es in einen Konflikt mit dem Westen steht. Es besteht eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass das von Denis Sokolov, einem Experten der Free Russia Foundation, vorgelegte düstere Szenario tatsächlich realistisch ist: „Russland könnte nicht nur die politische und wirtschaftliche Kontrolle über die meisten seiner Gebiete und Ressourcen verlieren, sondern zu einer riesigen, atomar bewaffneten Stellvertreter-Supermacht werden, die im Interesse Chinas und chinesischer Unternehmen agiert.“ Mit anderen Worten: China als wichtiger Pol in der multipolaren Welt kann durch Russland gestärkt werden, während Moskau in einem Bündnis nicht einmal eine „kleine Schwester“ wäre, sondern lediglich eine Zweigstelle von Peking. Während Russland sein autoritäres Experiment fortsetzt, die Zivilgesellschaft zerstört und die Menschenrechte ignoriert, bereitet es sich auf seine Rolle als ein Vertreter Chinas vor.
Wenn Russland Europa zurückweist, beweist es, dass es zu Europa gehört
Liegt es in Europas Interesse, dass China, das von der EU als „systemischer Rivale“ bezeichnet wird, zu einer noch größeren Herausforderung wird, indem es Russland wirtschaftlich in sein Machtzentrum integriert? Mir scheint, nur ein Verrückter würde hierin einen Nutzen für Europa erkennen. Es ist somit von entscheidender Bedeutung, dass eine solche Entwicklung verhindert wird. Europa sollte Russland nicht in die Arme Chinas entlassen, sondern überlegen, wie es sich dadurch stärkt, dass Russland in sein eigenes Zentrum globaler Macht integriert wird.
Ivan Krastev erklärt die unverhältnismäßige Beschäftigung des Westens mit Moskaus verstörendem Verhalten damit, dass der Westen deshalb von Russland besessen sei, weil er in ihm ein Schreckbild einer möglichen Entwicklung seiner selbst sehe, also eine Entwicklung, die er selbst fürchtet. Allerdings trifft auch das Umgekehrte zu: Wenn Russland versucht, seine Identitätskrise mittels äußerer Reaktionen auf sein draufgängerisches Vorgehen zu überwinden, so ist der äußere Adressat, von dem Hilfe zur Selbstbestimmung erwartet wird, nicht etwa China oder Indien, sondern der Westen. Wenn Russland Europa zurückweist, kämpft es eigentlich mit der Erkenntnis, dass es zu Europa gehört.
Europa kann und sollte Russland nicht dabei helfen, seine Krise der Ambitionen in puncto Multipolarität zu überwinden. Europa sollte Russland eine Lösung für seine Identitätskrise anbieten. Es sollte so auf Russland schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowjetisch dominierte Osteuropa schauten – als verlorenes Schaf, das eines Tages zur Herde zurückkehren wird, und zwar – das ist wichtig – zu Bedingungen des Westens. „Osteuropa gehört zu uns“ verkündeten seinerzeit westeuropäische Idealisten beharrlich. Heute sollten wir insistieren: „Russland gehört zu uns“.
Die Bürger Europas müssen direkt mit den Menschen in Russland sprechen
Gewiss ist das rückschrittliche und revanchistische Russland von heute kein Freund Europas, und jeder Versuch, mit der derzeitigen Führung des Landes einen Dialog aufzunehmen, würde als Schwäche Europas interpretiert werden. Unter der russischen Elite gibt es praktisch niemanden, mit dem Europa vernünftig reden könnte, niemanden, mit dem Europa über die Zukunft sprechen könnte. Also muss Europa den richtigen Moment abwarten und dann Russlands institutionelle Einbindung in den Westen einleiten. Andreas Umland hat in seinem wahrlich visionären Artikel über westliche Unterstützung für eine Demokratisierung Russlands gefordert, dass der Westen über einen umfassenden Aktionsplan für jenen Moment verfügen müsse, wenn Russland „für eine neuerliche Annährung mit dem Westen“ bereit sei. Dieser Plan sollte seinem Geiste nach der Haltung des Westens gegenüber dem postfaschistischen Westdeutschland entsprechen.
Den richtigen Augenblick abzuwarten bedeutet aber nicht, einfach untätig zu bleiben, im Gegenteil. Neben der Aufgabe, einen Plan zur Integration Russlands in das globale Machtzentrum Europas zu entwickeln und diesen der Gesellschaft in Russland zu vermitteln, gibt es eine Reihe von Ideen, die die europäische Führung berücksichtigen sollte.
Es hat zwar keinen Sinn, mit Russlands anmaßenden, paranoiden und moralisch korrumpierten Eliten zu reden. Sie werden es nicht sein, die Russland repräsentieren, wenn der richtige Augenblick für den Beginn der Integration Russlands in den Westen gekommen ist. Doch müssen die Führer und die Bürger Europas direkt mit den Menschen in Russland sprechen, besonders mit den jungen. Dies könnte über aktivere und ausgeweitete akademische Austauschprogramme erfolgen; über eine Unterstützung von Stiftungen und Organisationen in der EU, die Studienaufenthalte russischer Bürger in Europa fördern, wie auch von Organisationen, die gute Verbindungen zur russischen Diaspora im Westen haben; über eine Wiederbelebung der bestehenden Netzwerke, an denen Russen beteiligt sind; über eine Ausrichtung internationaler und vor allem europäischer Sport‑, Kultur‑, Unterhaltungs- und Bildungsveranstaltungen in Russland; und über die Schaffung und Förderung europäischer russischsprachiger Medien.
Europa sollte darüber hinaus behutsam den Versuchen Chinas entgegentreten, in EU-Staaten und in der geographischen und kulturellen Nachbarschaft zu Russland eine wirtschaftliche Präsenz zu etablieren. Länder wie Georgien, die Ukraine und Moldau, die nach dem Untergang der Sowjetunion von einer Aggression Russlands betroffen waren, mögen Chinas Präsenz als ein Gegengewicht zu Russlands Einfluss und als Ersatz für Wirtschaftsbeziehungen mit Russland betrachten. Doch auch hier ist es eher China, und nicht Russland, das für Europa die größere Herausforderung bedeutet. Die EU muss diesen Ländern deutlich machen, dass die Integration Russlands in den Westen ihre Sicherheitsprobleme löst, während sie die Einbindung in den chinesischen Einflussbereich zu potentiellen Gegnern Europas macht.
Der Aufbau eines großen Europa wird nicht nur das Problem der Grauzone zwischen der EU und Russland beheben. Er würde es auch möglich machen, die Sicherheit des europäischen Machtzentrums zu erhöhen, der Gefahr des Islamismus besser zu begegnen, das Problem des Klimaschutzes effizienter anzugehen und schließlich die Position Europas gegenüber den anderen Polen der entstehenden multipolaren Welt zu konsolidieren.
Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Russia Is Ours“ auf der Internetseite www.ridl.io.
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