Russland gehört zu uns

Kremlin.ru [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Die Annexion der Krim, die Einmi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­vention im syrischen Bürger­krieg: Russ­lands destruk­tives Verhalten ist Ausdruck einer Identi­täts­krise. Europa sollte Moskau eine Lösung für diese Krise anbieten und so auf das Land schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch dominierte Osteuropa schauten – als verlo­renes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­kehren wird.

In seinem im März veröf­fent­lichten Manifest hat Frank­reichs Präsident Emmanuel Macron dazu aufge­rufen, das Projekt eines vereinten Europas zu erneuern, eines Europas, das auf den Ideen von Freiheit, Schutz des Konti­nents und Fortschritt beruht. In Bezug auf den globalen Wettbewerb, in den die EU als politische und wirtschaft­liche Weltmacht verwi­ckelt ist, griff Macron auf europäi­schen Natio­na­lismus zurück, als er schrieb, dass „eine Bevor­zugung Europas bei strate­gi­schen Indus­trien und bei unseren öffent­lichen Aufträgen vorge­nommen werden [sollte], wie das auch unsere ameri­ka­ni­schen und chine­si­schen Konkur­renten tun“. 

Portrait von Anton Shekhovtsov

Anton Shekhovtsov forscht zu den Bezie­hungen des Kreml zu rechts­extremen Parteien im Westen und ist Dozent an der Univer­sität Wien.

Diese Worte sind auch deshalb bezeichnend, weil die USA und China die einzigen Nicht­mit­glieder der EU sind, die in Macrons Manifest direkt genannt werden. Dies erlaubt wohl einen umfas­senden Einblick in seine Vorstel­lungen von einer zukünf­tigen Macht­kon­stel­lation: Für die EU stellen allein die USA und China eine reale Heraus­for­derung dar, alle anderen inter­na­tio­nalen Probleme sind kaum mehr als lästige Ärgernisse.

Macron schien denn auch die Vorstellung von einem lästigen Störfaktor zu haben, als er auf Russland anspielte mit dem Hinweis, dass Wahlen in Europa vor „Cyber­at­tacken und Manipu­lation“ geschützt werden müssten, und mit dem Vorschlag, dass „die Finan­zierung europäi­scher Parteien durch fremde Mächte“ unter­bunden werden müsse. Vor dem Hinter­grund der aus Russland stammenden Cyber­an­griffe und Desin­for­ma­ti­ons­kam­pagnen während des franzö­si­schen Präsi­dent­schafts­wahl­kampfes 2017 waren Macrons Anspie­lungen nicht allzu kryptisch. Aus seiner Sicht bedeutet Russland Cyber­at­tacken, Manipu­lation und auslän­dische Unter­stützung für europäische Parteien. Das Land stellt – anders als die USA und China – nicht eine globale Konkurrenz dar, sondern verur­sacht Kopfschmerzen, die mit einem Schmerz­mittel wie der von Macron vorge­schla­genen „Europäi­schen Agentur zum Schutz der Demokratie“ zu beheben sind.

Russland ist nicht Störfaktor, sondern Katalysator

Dieser Ansatz ist berechtigt, doch wäre es politisch kurzsichtig, Russland ausschließlich als Störfaktor zu behandeln. Der einzige Grund, warum europäische Liberale wie Macron wegen Cyber­at­tacken, Desin­for­mation und Unter­stützung für rechts­po­pu­lis­tische Parteien besorgt sind, besteht darin, dass das Vorgehen Moskaus als etwas betrachtet wird, das die Geschlos­senheit Europas unter­gräbt. Aller­dings ist es nicht so, dass Russland diese Spaltungen erzeugt; es zieht lediglich Nutzen aus bereits bestehenden Konflikten. In dieser Rolle ist Russland nicht selbst der Störfaktor, sondern ein Katalysator.

In der Chemie ist ein Kataly­sator ein Stoff, der die Stärke einer chemi­schen Reaktion erhöht. Als Kataly­sator verschärft Russland soziale Spannungen in Europa, indem politische Anliegen unter­stützt werden, die an sich bereits zersetzend sind. Und Russland ist sich seiner Rolle bei der Desta­bi­li­sierung europäi­scher Gesell­schaften bewusst: Schließlich beschuldigt Moskau den Westen oft, in Russland soziale Spannungen zu schüren. Der Kreml weiß genau, was er im Westen betreibt.

Putins Russland lediglich als Kataly­sator zu sehen, bringt uns – ganz wie seine Wahrnehmung als Ärgernis – aller­dings auch nicht weiter, wenn es darum geht, das größere Bild zu verstehen. Hier sei an den Wirtschafts­wis­sen­schaftler Paul Romer von der Univer­sität Stanford erinnert, der davor warnte, eine Krise ungenutzt zu lassen: Ich denke, dass Russland mit seiner Kataly­sa­tor­rolle als Stresstest für die politische, wirtschaft­liche und soziale Stabi­lität Europas gesehen werden sollte. Daher sollte man sich beim Umgang mit der „Russland-Frage“ in Europa weniger darauf konzen­trieren, den Strom der Desin­for­ma­tionen zu entlarven. Vielmehr sollte man versuchen, jene Schwächen auszu­machen, die es Russland erlauben, europäische Gesell­schaften zu spalten. Diese besondere Perspektive ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil es – um zu Macrons Manifest zurück­zu­kehren – nicht Russland ist, das für Europa eine echte Heraus­for­derung darstellt.

Orwell hätte sich das Ausmaß der Überwa­chung in China nicht vorstellen können

Im September 2018 schrieb Edward Lucas, ein führender briti­scher Experte für Sicher­heits­po­litik, in der „The Times“, dass Putins Russland bei all seiner geogra­phi­schen Größe und all seinem Atomarsenal grund­sätzlich schwach sei, und dass „die wirkliche Heraus­for­derung für Europas wackelige Sicherheit eine Quelle [hat], die ernster zu nehmen [ist], nämlich China“. Der Mäzen und Investor George Soros äußerte am Rande des Weltwirt­schafts­forums in Davos eine ähnliche Ansicht, als er sagte, China sei das wohlha­bendste, stärkste und techno­lo­gisch fortschritt­lichste autoritäre Regime der Welt. Er fügte hinzu, dass Chinas Staatschef Xi Jinping „der gefähr­lichste Gegner all jener [ist], die an die Idee einer offenen Gesell­schaft glauben“. Soros verwies hierbei auf das sogenannte Sozial­kredit-System, ein Instrument, das von den chine­si­schen Behörden einge­setzt wird, um kritische Ansichten in China auszumerzen.

Die techno­lo­gi­schen Fortschritte in China, mit denen Kontrolle über die Bevöl­kerung errichtet werden soll, sind tatsächlich erschre­ckend und gehen über das hinaus, was „Orwell sich je hätte vorstellen können“, wie es ein Journalist formu­lierte. China kann nicht nur Millionen Leute im Live-Modus beobachten, einzelne Menschen identi­fi­zieren, sie aufspüren und Daten der Gesichts­er­kennung in Verbindung zu persön­lichen Details wie Reisen, Gesund­heits­zu­stand oder der Kredit­ge­schichte in Verbindung setzen. Chine­sische Techno­logie kann darüber hinaus das Verhalten von Menschen vorher­sagen. Das führt uns dann schon in die dysto­pische Welt der Kurzge­schichte „Minority Report“ von Philip K. Dick (die 1956 erschien und 2002 durch den gleich­na­migen Film von Steven Spielberg mit Tom Cruise bekannt wurde), in der eine Polizei­ab­teilung für „Prä-Verbrechen“ Menschen wegen Taten verhaftet, die sie nicht begangen haben, aber in der Zukunft verüben werden.

Die totalitäre Unter­drü­ckung in Xi Jipings China ist nicht nur futuris­tisch, sie ist auch von archai­scher Grausamkeit. Seit 2014 unterhält China Konzen­tra­ti­ons­lager, in denen die Regierung versucht, die turkspra­chige Minderheit der Uiguren sowie Muslime aus anderen ethni­schen Gruppen „umzuer­ziehen“; das Ziel sei die Abwehr von Extre­mismus und Terrorismus.

Dass China unge­straft bleibt, legi­ti­miert sein Vorgehen

Musli­mische Führer in aller Welt haben es unter­lassen, die Konzen­tra­ti­ons­lager gegenüber China anzusprechen, weil sie lieber Wirtschafts­be­zie­hungen zu diesem Land unter­halten. Bezeich­nen­der­weise hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (der von den Vereinten Nationen mit der Ermordung des Journa­listen Jamal Kaschoggi in Verbindung gebracht wird) sogar verteidigt, dass China das „Recht [hat], Maßnahmen gegen Terro­rismus und Extre­mismus zu ergreifen, um seine nationale Sicherheit zu gewähr­leisten“ – so geschehen, während er ein millio­nen­schweres Handels­ab­kommen mit China unter­zeichnete. Nachdem Staaten des Westens eine Stellung­nahme abgegeben hatten, in der die massen­hafte Inhaf­tierung von Uiguren verur­teilt wurde, veröf­fent­lichten Saudi-Arabien, die Verei­nigten Arabi­schen Emirate, Ägypten, Katar, Bahrein, Pakistan, Oman und 30 weitere Staaten ihrer­seits eine Stellung­nahme. Dort wurde China für seine „bemer­kens­werten Leistungen im Bereich der Menschen­rechte“ gelobt. In derselben Stellung­nahme wurden die Konzen­tra­ti­ons­lager als „Berufs­bil­dungs­zentren“ bezeichnet.

Nicht alle Muslime werden in diesen „Berufs­bil­dungs­zentren“ neue Fertig­keiten erlernen: Viele von ihnen dürften wohl – wie chine­sische politische Gefangene – Opfer eine zwangs­weisen Entnahme von Organen werden. Der inves­ti­gative Journalist Ethan Gutan argumen­tiert in seinen Artikeln, dass genau dies das Schicksal von Zehntau­senden Anhängern der Religi­ons­be­wegung Falun Gong war. Ihre Organe wurden auf dem lukra­tiven chine­si­schen Trans­plan­ta­ti­ons­markt verkauft.

Hierbei handelst es sich nicht nur um eine interne Abscheu­lichkeit Chinas: Das chine­sische Modell der gesell­schaft­lichen Kontrolle, der Unter­drü­ckung abwei­chender Meinungen und der absoluten Missachtung von Menschen­rechten, um wirtschaft­lichen Nutzen zu erringen, ist expor­tierbar. Dass China für seine ungeheu­er­liche Verletzung von Menschen- und Persön­lich­keits­rechten und der Meinungs­freiheit ungestraft bleibt, legiti­miert eine solche Missachtung in den Augen vieler autori­tärer Führer dieser Welt. Hier genügt ein Blick auf die Liste der Länder, die China für die „Förderung der Menschen­rechte durch Entwicklung“ gelobt haben.

Russ­land will zu einem Macht­zentrum der neuen Multi­po­la­rität werden

Zu den finsteren Aspekten des China von heute kommt seine wachsende militä­rische Stärke. John Friedman, mittler­weile verstor­bener Professor der Univer­sität Kalifornien, traf vor zehn Jahren die Vorhersage, dass „Chinas wachsende wirtschaft­liche Macht sich unwei­gerlich auch in politische und militä­rische Macht verwandeln“ werde. Seither sind die Militär­aus­gaben des Landes real um 83 Prozent gestiegen und Xi Jinping hofft, dass die chine­sische Armee bis 2050 „Weltklasse“ sein wird. „Weltklasse“ impli­ziert eine Qualität, mit der „Amerika geschlagen“ werden kann. Tradi­tio­nelle Bewaffnung wird gegen Mitte des Jahrhun­derts eindeutig eine sehr viel geringere Rolle spielen. Es ist davon auszu­gehen, dass künst­liche Intel­ligenz, Big Data und maschi­nelles Lernen vollständig zu Waffen gemacht werden.

Friedmann war darüber hinaus zu dem Schluss gekommen, dass die Welt zukünftig von einem chine­sisch-ameri­ka­ni­schen Antago­nismus bestimmt sein werde, während die Europäische Union und Indien poten­tiell in der Lage sein würden, in ihrer Konkurrenz eine begrenzte Zurück­haltung zu üben. Eine solche Situation impli­ziert das Ende der unipo­laren Welt, wie sie seit dem Untergang der Sowjet­union und dem Kollaps des sozia­lis­ti­schen Blocks in Osteuropa bestanden hat. Das Entstehen von Multi­po­la­rität scheint unumkehrbar, und die einzige Frage besteht nun darin, wo die Zentren globaler Macht und ein zukünf­tiges Macht­gleich­ge­wicht zwischen diesen liegen werden. Auch Michael O’Sullivan schreibt in seinem jüngst erschie­nenen Buch „The Levelling: What’s Next After Globa­lization“ von vier Polen, die die multi­polare Zukunft bestimmen werden: den USA, China, Europa und poten­tiell Indien. Auch wenn Russland bei bestimmten Aspekten der Multi­po­la­rität punkten könnte (etwa militä­risch), dürfte es „in seinem gegen­wär­tigen Zustand […] kaum zu einem echten Pol werden“, schreibt O’Sullivan.

Die Erwar­tungen der russi­schen Führung – daran erinnern Anton Barba­schin und Alexander Graefin in ihrem bald erschei­nenden Bericht zur russi­schen Außen­po­litik – haben sich seit Mitte der Neunzi­ger­jahre stets von derlei Vorstel­lungen unter­schieden: „Sämtliche Varianten von Multi­po­la­rität, die in Russland disku­tiert wurden und werden, gingen und gehen davon aus, dass Russland einer dieser Pole sein und somit seinen Großmacht­status behalten werde.“ Nun aber, da sich schließlich eine Multi­po­la­rität entwi­ckelt, muss die geopo­li­tische Landschaft, so, wie sie Gestalt annimmt, für Russland beunru­higend und schmerzhaft sein. O’Sullivan schreibt, dass Multi­po­la­rität bei Ländern wie Japan oder Australien, die „sich nicht gänzlich innerhalb des Feldes eines der Pole befinden“ eine Identi­täts­krise auslösen werde, während das Ende der unipo­laren Welt für Länder wie Russland eine Krise der Ambitionen erzeuge: Russland wolle zu einem der Pole werden, sei dazu aber nicht in der Lage.

Das Land ähnelt einem Blinden, der wild um sich schlägt

Diese Krise der Ambitionen führt aller­dings notwen­di­ger­weise auch zu einer Identi­täts­krise. Das erklärt zum Teil Russlands Verhalten auf der inter­na­tio­nalen Bühne in den letzten Jahren – die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine, die Einmi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­vention im syrischen Bürger­krieg unter dem Deckmantel der Terro­ris­mus­be­kämpfung und die militä­ri­schen Abenteuer in Afrika. All diese Vorgehen können als etwas inter­pre­tiert werden, mit dem Russland das nachzu­ahmen sucht, was die USA – in Moskaus Wahrnehmung – als Weltmacht unter­nehmen. Russland versucht, seine Identi­täts­krise zu überwinden, indem es mit drauf­gän­ge­ri­schem Verhalten und den inter­na­tio­nalen Reaktionen darauf experi­men­tiert. Das Land ähnelt einer blinden Person, die des eigenen Körpers nicht durch ein behut­sames Ertasten gewahr wird, sondern dadurch, dass chaotisch getreten, geboxt und rundum alles zerschlagen wird.

Da Moskau seinen Platz in der entste­henden multi­po­laren Welt sucht, in der es wohl kaum zu einem der Pole werden wird, gerät es in eine Falle, und die heißt Peking. Im Zuge seines Konfliktes mit dem Westen, der sich nach der Annexion der Krim verschärft hat, ist Russland näher an China gerückt. Peking betrachtet Moskau nicht nur als Handels­partner, sondern auch als poten­ti­ellen Verbün­deten im Kampf gegen den Westen. Aller­dings bleibt Moskau gegenüber Peking argwöh­nisch. In Russland hegen einige immer noch die Hoffnung, dass das Land einer der Pole werden könne und sind voll Unbehagen, dass Russland eine „kleine Schwester“ des „großen Bruders“ aus China werden könne. Bruno Maçães, Portugals ehema­liger Staats­se­kretär für Europa­fragen, schrieb in einem aufschluss­reichen Artikel über die russisch-chine­si­schen Bezie­hungen: „Russland will ein unabhän­giger Pol in der neuen Weltordnung sein. Ein unabhän­giger Pol in enger Verbindung mit China zu sein, ist aber angesichts der Asymmetrie der Wirtschafts­kraft und Größe [der beiden Länder] schlichtweg unmöglich. Also wird Russland genötigt sein, einen gewissen Abstand zu seinem östlichen Nachbarn zu wahren.“

Aller­dings wird Russland nicht in der Lage sein, Abstand von China zu halten, solange es in einen Konflikt mit dem Westen steht. Es besteht eine beträcht­liche Wahrschein­lichkeit, dass das von Denis Sokolov, einem Experten der Free Russia Foundation, vorge­legte düstere Szenario tatsächlich realis­tisch ist: „Russland könnte nicht nur die politische und wirtschaft­liche Kontrolle über die meisten seiner Gebiete und Ressourcen verlieren, sondern zu einer riesigen, atomar bewaff­neten Stell­ver­treter-Super­macht werden, die im Interesse Chinas und chine­si­scher Unter­nehmen agiert.“ Mit anderen Worten: China als wichtiger Pol in der multi­po­laren Welt kann durch Russland gestärkt werden, während Moskau in einem Bündnis nicht einmal eine „kleine Schwester“ wäre, sondern lediglich eine Zweig­stelle von Peking. Während Russland sein autori­täres Experiment fortsetzt, die Zivil­ge­sell­schaft zerstört und die Menschen­rechte ignoriert, bereitet es sich auf seine Rolle als ein Vertreter Chinas vor.

Wenn Russ­land Europa zurück­weist, beweist es, dass es zu Europa gehört

Liegt es in Europas Interesse, dass China, das von der EU als „syste­mi­scher Rivale“ bezeichnet wird, zu einer noch größeren Heraus­for­derung wird, indem es Russland wirtschaftlich in sein Macht­zentrum integriert? Mir scheint, nur ein Verrückter würde hierin einen Nutzen für Europa erkennen. Es ist somit von entschei­dender Bedeutung, dass eine solche Entwicklung verhindert wird. Europa sollte Russland nicht in die Arme Chinas entlassen, sondern überlegen, wie es sich dadurch stärkt, dass Russland in sein eigenes Zentrum globaler Macht integriert wird.

Ivan Krastev erklärt die unver­hält­nis­mäßige Beschäf­tigung des Westens mit Moskaus verstö­rendem Verhalten damit, dass der Westen deshalb von Russland besessen sei, weil er in ihm ein Schreckbild einer möglichen Entwicklung seiner selbst sehe, also eine Entwicklung, die er selbst fürchtet. Aller­dings trifft auch das Umgekehrte zu: Wenn Russland versucht, seine Identi­täts­krise mittels äußerer Reaktionen auf sein drauf­gän­ge­ri­sches Vorgehen zu überwinden, so ist der äußere Adressat, von dem Hilfe zur Selbst­be­stimmung erwartet wird, nicht etwa China oder Indien, sondern der Westen. Wenn Russland Europa zurück­weist, kämpft es eigentlich mit der Erkenntnis, dass es zu Europa gehört.

Europa kann und sollte Russland nicht dabei helfen, seine Krise der Ambitionen in puncto Multi­po­la­rität zu überwinden. Europa sollte Russland eine Lösung für seine Identi­täts­krise anbieten. Es sollte so auf Russland schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch dominierte Osteuropa schauten – als verlo­renes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­kehren wird, und zwar – das ist wichtig – zu Bedin­gungen des Westens. „Osteuropa gehört zu uns“ verkün­deten seinerzeit westeu­ro­päische Idealisten beharrlich. Heute sollten wir insis­tieren: „Russland gehört zu uns“.

Die Bürger Europas müssen direkt mit den Men­schen in Russ­land sprechen

Gewiss ist das rückschritt­liche und revan­chis­tische Russland von heute kein Freund Europas, und jeder Versuch, mit der derzei­tigen Führung des Landes einen Dialog aufzu­nehmen, würde als Schwäche Europas inter­pre­tiert werden. Unter der russi­schen Elite gibt es praktisch niemanden, mit dem Europa vernünftig reden könnte, niemanden, mit dem Europa über die Zukunft sprechen könnte. Also muss Europa den richtigen Moment abwarten und dann Russlands insti­tu­tio­nelle Einbindung in den Westen einleiten. Andreas Umland hat in seinem wahrlich visio­nären Artikel über westliche Unter­stützung für eine Demokra­ti­sierung Russlands gefordert, dass der Westen über einen umfas­senden Aktionsplan für jenen Moment verfügen müsse, wenn Russland „für eine neuer­liche Annährung mit dem Westen“ bereit sei. Dieser Plan sollte seinem Geiste nach der Haltung des Westens gegenüber dem postfa­schis­ti­schen Westdeutschland entsprechen.

Den richtigen Augen­blick abzuwarten bedeutet aber nicht, einfach untätig zu bleiben, im Gegenteil. Neben der Aufgabe, einen Plan zur Integration Russlands in das globale Macht­zentrum Europas zu entwi­ckeln und diesen der Gesell­schaft in Russland zu vermitteln, gibt es eine Reihe von Ideen, die die europäische Führung berück­sich­tigen sollte.

Es hat zwar keinen Sinn, mit Russlands anmaßenden, paranoiden und moralisch korrum­pierten Eliten zu reden. Sie werden es nicht sein, die Russland reprä­sen­tieren, wenn der richtige Augen­blick für den Beginn der Integration Russlands in den Westen gekommen ist. Doch müssen die Führer und die Bürger Europas direkt mit den Menschen in Russland sprechen, besonders mit den jungen. Dies könnte über aktivere und ausge­weitete akade­mische Austausch­pro­gramme erfolgen; über eine Unter­stützung von Stiftungen und Organi­sa­tionen in der EU, die Studi­en­auf­ent­halte russi­scher Bürger in Europa fördern, wie auch von Organi­sa­tionen, die gute Verbin­dungen zur russi­schen Diaspora im Westen haben; über eine Wieder­be­lebung der bestehenden Netzwerke, an denen Russen beteiligt sind; über eine Ausrichtung inter­na­tio­naler und vor allem europäi­scher Sport‑, Kultur‑, Unter­hal­tungs- und Bildungs­ver­an­stal­tungen in Russland; und über die Schaffung und Förderung europäi­scher russisch­spra­chiger Medien.

Europa sollte darüber hinaus behutsam den Versuchen Chinas entge­gen­treten, in EU-Staaten und in der geogra­phi­schen und kultu­rellen Nachbar­schaft zu Russland eine wirtschaft­liche Präsenz zu etablieren. Länder wie Georgien, die Ukraine und Moldau, die nach dem Untergang der Sowjet­union von einer Aggression Russlands betroffen waren, mögen Chinas Präsenz als ein Gegen­ge­wicht zu Russlands Einfluss und als Ersatz für Wirtschafts­be­zie­hungen mit Russland betrachten. Doch auch hier ist es eher China, und nicht Russland, das für Europa die größere Heraus­for­derung bedeutet. Die EU muss diesen Ländern deutlich machen, dass die Integration Russlands in den Westen ihre Sicher­heits­pro­bleme löst, während sie die Einbindung in den chine­si­schen Einfluss­be­reich zu poten­ti­ellen Gegnern Europas macht.

Der Aufbau eines großen Europa wird nicht nur das Problem der Grauzone zwischen der EU und Russland beheben. Er würde es auch möglich machen, die Sicherheit des europäi­schen Macht­zen­trums zu erhöhen, der Gefahr des Islamismus besser zu begegnen, das Problem des Klima­schutzes effizi­enter anzugehen und schließlich die Position Europas gegenüber den anderen Polen der entste­henden multi­po­laren Welt zu konsolidieren.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Russia Is Ours“ auf der Inter­net­seite www.ridl.io

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.