Russlandpolitik als Bewährungsprobe
Die neue Bundesregierung muss sich zur Aggression Putins gegen die Ukraine neu positionieren. Erinnerungen an die Neunzigerjahre werden wach.
Ein kurzer Rückblick: Als die rot-grüne Bundesregierung im Herbst 1998 ihren Dienst antrat, waren ihre Ziele innenpolitisch: sie wollte Deutschland vom Muff der Kohl-Ära befreien und einen gesellschaftlichen Neustart wagen. Doch es kam anders. Die erste Herausforderung für Rot-Grün war der Kosovokrieg, ein Konflikt, der bereits länger schwelte und unmittelbar nach dem Antritt der Regierung eskalierte. Gerhard Schröder behauptete damals zwar: „Wir führen keinen Krieg“, doch schon bald kreisten die Tornados der Luftwaffe über dem Balkan. Das Resultat ist bekannt, Madeleine Albright setzte ihre Politik durch, der Diktator Milošević wurde in seine Schranken gewiesen, der Kosovo wurde unabhängig. Die Ergebnisse und die Legitimität dieses Krieges bleiben bis heute umstritten.
NordStream2 und Ukrainekrieg – die Realität holt den Wahlkampf ein
In diesem Winter droht der Ampel-Koalition ein ähnliches Schicksal wie ihren Vorgängern Ende der 1990er Jahre. Ohne dass dies im Wahlkampf des vergangenen Sommers groß thematisiert wurde, hat die Ära Merkel der neuen Regierung nämlich Nord Stream 2 und einen Krieg in der Ukraine hinterlassen – zwei bedeutende und miteinander verknüpfte europäische Probleme. Durch den Aufmarsch von Truppen und die aggressive russische Rhetorik gegenüber Kiew hat sich der Konflikt während des gesamten Jahres 2021 massiv verschärft. E wird zur ersten großen Herausforderung der Regierung Scholz. Sind die neuen Amtsträger darauf vorbereitet?
Deutschlands Diplomatie beruhigt sich seit Jahren damit, dass sie durch die Minsk-Verträge und das Normandie-Format den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine befriedet habe. Tatsächlich handelt es sich jedoch bestenfalls um einen Waffenstillstand, der für keine der beiden Kriegsparteien trägt. Kiew kann und wird seine Souveränität nicht abtreten, Moskau verfolgt weiter revisionistischen Ambitionen gegenüber dem Nachbarn im Süden. Zwischen diesen beiden Positionen – eine auf dem Völkerrecht basierend, die andere grob aggressiv – lässt sich kein Kompromiss vermitteln. Kompromisse sind aber die Stärke deutscher Politik. Deshalb wurde seit 2015 das Ukraine-Problem von Angela Merkel und Heiko Maas vertagt. Ihr Einsatz für NordStream2 ging ungebremst weiter (Atom- und Kohleausstieg lassen keine andere Wahl), Deutschlands Abhängigkeit gegenüber Moskau wuchs. Wie bei Schröder galt deshalb unter Merkel (nur leicht abgewandelt): „Es gibt keinen Krieg in Europa.“
Ein Konflikt mit Ansage
Die verdrängten Probleme im Osten werden die Ampel in diesem Winter einholen. Vladimir Putin hat bereits im Sommer 2021 in einem Essay ausführlich seine revisionistischen Absichten gegenüber der Ukraine begründet. Wer ihn ernst nimmt, kann keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit haben. Für Putin existiert die Ukraine nicht als legitimer Staat – sie ist ein westlicher Vorposten, der die Größe Russlands und seine Macht gefährdet. Den Aufmarsch russischer Truppen stilisiert er zu einem Akt der Selbstverteidigung. Es zeigt sich erneut, dass die westlichen Sanktionen seit 2014 nie hart genug waren, um weitere Aggressionen abzuschrecken. Damit steht Europe potentiell vor einem großen militärischen Konflikt. In den Jugoslawienkriegen war Deutschland gezwungen, Position zu beziehen. Dieses Mal wird es nicht anders sein.
Chance zum Neustart der deutschen Russlandpolitik
Mit Nord Stream 2 hinterlässt die scheidende der nachfolgenden Regierung ein schweres Erbe. Der Neustart der deutschen Politik unter Olaf Scholz beinhaltet jedoch auch Chancen: zu Beginn einer Kanzlerschaft fällt es sicherlich leichter, sich von altem Ballast zu trennen. Hat die Ampel den Mut zu einem Neustart deutscher Ostpolitik, der auch in Deutschland Kosten verursacht?
Der Videogipfel zwischen den Präsidenten Putin und Biden hat verdeutlicht, dass beide Seiten trotz der erhöhten Spannungen im Gespräch bleiben werden. Biden scheint perspektivisch die europäischen Verbündeten in die Verhandlungen einzubeziehen. Hier muss die Bundesregierung zügig ihre Rolle definieren. Angela Merkel hat sich 16 Jahre lang darauf beschränkt, reaktive Russlandpolitik zu betreiben. Ihr Deutschland ließ sich vom Kreml treiben und hat am Ende häufig die Positionen Russlands unterstützt. Diese passive Akzeptanz geopolitischer Aggression in Europa, das Zusehen bei der Zerstörung der Ordnung von 1989 hat uns dahin geführt, wo wir jetzt stehen: in einer sicherheitspolitischen Sackgasse. Es bedarf der engen Koordination mit den USA und den Verbündeten in Europa – auch und gerade in Osteuropa – um durch eine geschlossene Position westliche Haltung und klarer Benennung der Kosten für weitere russische Aggressionen wieder verhandlungsfähig zu werden und die Sicherheit in Europa zu stärken.
Heute die Ukraine – morgen Estland?
Die Lage im Osten Europas ist ernst. Niemand weiß, ob Russland tatsächlich losschlägt. Die militärischen Kräfte dazu hat es längst an der Grenze zur Ukraine positioniert. In jedem Fall wird der Kreml so lange seine Armeen an der ukrainischen Grenze stehen, Politik mit coercive demands machen. Wer heute nachgibt, wird morgen das Opfer weiterer Erpressungen werden. Ob das jedermann in Berlin bewusst ist, ist schwer zu sagen. Sicher werden laute Stimmen hier und auch in Westeuropa einen Kompromiss mit Russland auf Kosten der Ukraine fordern. Wenn der Westen jedoch einknickt, dann wäre der Weg für Moskau zur nächsten Drohgebärde offen. Denn wie Chruschtschow zu Zeiten der Berlin-Krisen, versucht Putin den Westen militärisch und verbal einzuschüchtern. Er hofft, dass wir aus Angst zurückweichen. Wie damals so sind auch heute die Moskauer Forderungen inakzeptabel. Die Souveränität der Ukraine und die Entscheidungsfreiheit der NATO sind nicht verhandelbar – auch nicht unter der Androhung von Gewalt. In den Berlin-Krisen der 1960er Jahre blieb die NATO standhaft, wich nicht zurück und verteidigte den status quo. Heute ist die Lage volatiler. Doch eins ist sicher: Wenn Putin gegen die Ukraine Erfolg hat, wer garantiert uns dann, dass Moskau nicht im nächsten Jahr mit 100.000 Mann an der estnischen Grenze steht? Und welche Forderungen würden dann gestellt?
Der Grundkonflikt: Autokratien vs. Offene Gesellschaften
Im Zuge dieses Winters hat die neue Bundesregierung die Chance, Merkels russlandpolitische Fehler zu korrigieren. Dazu gehören neben NordStream2 und der deutschen Energiepolitik auch das Normandie-Format. Zukünftige Verhandlungen mit Russland müssen die USA stets einbeziehen. Deutschland und Frankreich alleine haben ihre Mittel erschöpft. Weitere russische Aggressionen sollten nicht nur wirtschaftliche Sanktionen, sondern auch militärische Hilfen des gesamten Westens für die Ukraine nach sich ziehen. Abschreckung und Eindämmung sind die stärksten Waffen, um den Frieden in Europa wiederherzustellen. Deutschland muss sich den Problemen im eurasischen Krisenbogen stellen, die Politik des Aussitzens und Verleugnens ist an ihr Ende gekommen. Denn machen wir uns nichts vor: die Ukraine ist nur ein Schauplatz des Konfliktes zwischen Autokratien und offenen Gesellschaften. Belarus, Syrien, der Süd-Kaukasus Iran und China sind auch Teil des eurasischen Krisenbogens, der die neue Regierung weit über das kommende Jahr hinaus beschäftigen wird.
Der russische Aufmarsch gegen die Ukraine zeigt: Die Ampel keine außenpolitische Probezeit. In den nächsten Monaten zeigt sich, ob Scholz Deutschland aus der Merkel’schen Mittellage zurück in den Westen führt, die Abhängigkeit gegenüber Russland verringert und ob er bereit ist, mutige Entscheidungen zu treffen. In Annalena Baerbock würde er vermutlich eine entschiedene Mitstreiterin haben. Deutschland, der Ukraine und Europa wäre dieser Kurswechsel sehr zu wünschen.
Die erste Fassung dieser Analyse erschien am 7.12.2021 bei den Salonkolumnisten.
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