Musterland am Scheideweg

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Erstmals hat in Georgien eine Frau das Präsi­den­tenamt übernommen: Salome Surabi­schwili, die Ex-Außen­mi­nis­terin des Landes, setzte sich bei der Stichwahl gegen ihren Rivalen durch. Auf die selbst­be­wusste Frau warten große Herausforderungen.

Am Tag der Verei­digung von Georgiens neuem und letzt­malig direkt vom Volk gewählten Staats­ober­haupt strahlte die Sonne vom winter­lichen Himmel, als wollte sie vergessen machen, was alles geschehen war in den Wochen und Monaten davor.

Auch der Ort der Zeremonie sollte ein Zeichen der Versöhnung sein: Hier, in der ost-georgi­schen Provinz­stadt Telawi, knapp zwei Autostunden von Tbilisi entfernt, hatte die letztlich siegreiche Kandi­datin keine Mehrheit erhalten. An ihrer Aussage, dies sei der Grund dafür gewesen, ihre Verei­digung hierher zu verlegen, darf gleichwohl gezweifelt werden. Eher dürfte es die pracht­volle Kulisse einer frisch restau­rierten Festung gewesen sein, von der aus der Blick über die weite Ebene von Kachetien auf das prächtige Massiv des Kaukasus fällt. Eindrucks­voller kann man die faszi­nie­rende Seite von Georgien kaum in einem einzigen Bild erfassen. Dagegen hätten die Staats­gäste, die aus 55 Ländern angereist waren, um der ersten frei gewählten Frau in diesem Amt zu gratu­lieren, in Tbilisi an einer weniger illustren Zeltstadt und an Plakaten mit unschönen Aufschriften vorbei­ge­schleust werden müssen. Denn im Zentrum der Haupt­stadt Georgiens, auf dem Platz vor dem alten Parla­ments­ge­bäude, protes­tiert seit Bekanntgabe des offizi­ellen Wahler­geb­nisses die Opposition: Die Wahl sei unfair, gekauft und ein Betrug am georgi­schen Volk.

Im Westen wenig Aufmerksamkeit

Den westlichen Medien waren Wahl und Verei­digung des künftigen Staats­ober­hauptes von Georgien kaum mehr als ein paar kurze Meldungen wert. Verbunden allen­falls noch mit dem Hinweis, dass das Amt aufgrund einer Verfas­sungs­än­derung seine einstige Macht­fülle (vergleichbar dem franzö­si­schen Modell) an den Premier­mi­nister abgegeben hat und nun dem deutschen Modell folgt, mit einem nach außen stark reprä­sen­ta­tiven, nach innen überwa­chenden und die Legis­lative kontrol­lie­renden Profil.

Kleines Land, wenig bedeu­tendes Amt – kurze Meldung, keine Platz­ver­schwendung. Das ist nachvoll­ziehbar. Und zeugt doch von einer gewissen Kurzsich­tigkeit, die der politi­schen wie journa­lis­ti­schen Beobachtung der Vorgänge in Georgien seit vielen Jahren eigen ist. Dabei sollte nicht nur der georgische Konflikt mit Abchasien und Süd-Ossetien und sein Missbrauch seitens Putins Russland sehr zu denken geben.

Der Muster­schüler

Georgien gilt, seit der „Rosen­re­vo­lution“ 2003, als Muster­schüler unter den jungen Demokratien in Ost-Europa. Korruption und Vettern­wirt­schaft wurden besiegt, Reformen auf allen politi­schen Gebieten voran­ge­trieben, die Assozi­ierung an die EU besiegelt, eine enge Partner­schaft mit der NATO und visa-freies Reisen im Schen­genraum erreicht. Eine zunächst bürgernahe und sehr engagierte, dann hochmütig, korrupt und brutal gewordene Regierung unter Micheil „Mischa“ Saakashvili wurde 2012 durch eine unbean­standete Wahl und eine friedlich verlaufene Amtsübergabe abgelöst; ein Vorgang, der in dieser Region Europas alles andere als selbst­ver­ständlich ist.

Was folgte war, von heute aus betrachtet, ein weiteres Mal wie der Höhenflug eines georgi­schen Ikarus: Der Begeis­terung der Anfangs­jahre und dem Gefühl eines „richtigen“ Aufschwungs folgte ein weiterer Absturz in die Ernüchterung.

Wie auf Lackmus-Papier haben der Verlauf des Wahlkampfs und die beiden Wahltage für diese Präsi­dent­schaftswahl gezeigt: Der Streber unter den osteu­ro­päi­schen Staaten strau­chelt. Hinzu kommt: Nie zuvor, seitdem sich Georgien aus der Umklam­merung Moskaus gelöst und, 1991, seine Unabhän­gigkeit wieder­erlangt hat, gab es weniger Alter­na­tiven zur herrschenden Partei. Georgiens junge Demokratie hat sich in eine Sackgasse manövriert. Warum aber wird das der Bevöl­kerung gerade jetzt so bewusst? Und welche Konse­quenzen könnte das nicht nur für Georgien, sondern für Europa haben?

„Glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“

Gründe gibt es durchaus: Nie ging es einer georgi­schen Durch­schnitts­fa­milie wirtschaftlich schlechter als derzeit. Während ein kleiner Kreis im Land immer reicher wird und diesen Reichtum immer protziger zur Schau stellt, wird die weit überwie­gende Mehrheit im Land immer ärmer. Und angesichts grotesk verzerrter, offizi­eller Statis­tiken auch immer verärgerter.

Offiziell ist von einer Arbeits­lo­sigkeit um die 20 Prozent die Rede. Das ist hoch. Aber die Wirklichkeit ist schlimmer. Die Quote dürfte bei weit über 70 Prozent liegen. Dann nämlich, wenn man die Gruppe derer mit einbe­zieht, die weder Anstellung, noch Aussicht auf Anstellung haben; die sich durch Selbst­ver­sorgung aus dem eigenen Garten, von ihrer Kuh und ihrem Schwein ernähren und sich als Taxifahrer, Touris­ten­führer, Gelegen­heits-Maurer, Haushalts­hilfe, Kinder­mädchen, Restau­rant­be­dienung oder Zimmer­mädchen noch etwas dazu verdienen. Man nennt das „geduldete Schwarz­arbeit“. Mehr als 300 bis 400 Lari kommen da selten zusammen. Das sind, nach aktuellem Kurs 100 bis 130 Euro. Ein einfacher Arbeiter in einer Fabrik kommt auf 600 bis 800 Lari monatlich. Ein Fachar­beiter mit Verant­wortung über ein Team und für die Qualität von Produkten, zum Beispiel in der Lebens­mit­tel­her­stellung, auf 1000 bis 1200 Lari. Ein Bäcker im Dorf, nach Abzug aller Kosten für Mehl, Wasser, Gas, Gehilfen, auf erheblich weniger. Wie das georgische Wirtschafts­mi­nis­terium auf den im Dezember stolz bekannt gegebenen Durch­schnitts­ver­dienst von 1250 Lari kommt, bleibt jedem ein Rätsel, der die Verhält­nisse kennt. Entspre­chend sind in der Bevöl­kerung mittler­weile die Reaktionen auf solche Verlaut­ba­rungen. „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“, lacht mein Friseur. „Auch wenn wir nichts mehr mit Moskau zu tun haben wollen: Das Polieren der Wirklichkeit haben wir bis zur Perfektion von den Russen gelernt.“ 15 Lari nimmt er für einen Herren­haar­schnitt – mit Waschen und Föhnen. Das sind umgerechnet fünf Euro, für eine dreiviertel Stunde Arbeit. Zu meinem Trinkgeld von zwei Lari sagt er: „Verdirb die Preise nicht, mein Freund!“ Im Super­markt bekommt er dafür keine Flasche Bier.

Wachstum auf Subvention und Pump

Offiziell ist von 4 Prozent Wirtschafts­wachstum die Rede. Doch das ergibt sich, neben einer innerhalb von zwei Jahren um beinahe 300 Prozent gewach­senen Tourismus-Branche, vor allem aus einer grotesk boomenden Bauwirt­schaft, die allein in Tbilisi ganze Stadt­viertel in Hochhaus­quar­tiere verwandelt, aber allzu oft in halbfer­tigen Bauruinen oder leer stehenden Geister­häusern endet. Die georgische Haupt­stadt erlebt eine Immobi­li­en­blase, die eher früher als später verhee­rende Folgen haben wird.

Und: Die Statistik bezieht große, einmalige Infra­struktur-Projekte mit ein, die vom Staat an zum Teil extra hierfür gegründete, private Gesell­schaften zur Ausführung vergeben werden – etwa den Neubau und Ausbau von Autobahnen, Tunneln und des Eisen­bahn­netzes. Das ist sachlich nicht falsch, aber es sind Projekte, die ihren Beitrag zu einem nachhal­tigen Wirtschafts­wachstum in einem freien, globalen Markt erst noch beweisen müssen. Bis dahin belasten sie den Staats­haushalt. Denn sie werden über georgische Staats­kredite finan­ziert, über EU- Subven­tionen oder über Inves­ti­tionen staat­licher oder halbstaat­licher Koope­ra­tionen mit China oder, vor allem, mit Staaten aus dem arabi­schen Raum. Für ein kleines, oder soll man sagen: winziges Land wie Georgien, ohne jedes gegebene, solide wirtschaft­liche Fundament, kann dergleichen rasch zu einer erdrü­ckenden Last werden, oder gleich in eine fatale politische Abhän­gigkeit münden. Mit der chine­si­schen Regierung wurde ein Abkommen über eine riesige Freihan­delszone nahe Kutaisi getroffen. Saudi-Arabische Scheichs haben im Herzen von Tbilisi das derzeit größte, höchste und luxuriö­seste Hotel gebaut und gehören auch in anderen Branchen zu den derzeit aktivsten Investoren.

In Brüssel sieht man das mit wachsender Sorge: „In der EU-Kommission gibt es keinen Zweifel darüber, dass Georgien sich politi­schin Richtung Europäi­scher Union orien­tiert, und – wenn auch mit Korrek­tur­bedarf – entwi­ckelt“, sagt ein Spitzen­ver­treter der EU-Kommission. „Hinsichtlich seines wirtschafts­po­li­ti­schen­Kurses muss Georgien indes begreifen, dass der Spagat, den es derzeit versucht, eine Zerreiß­probe ist.“

Verfall der Landes­währung trotz Devisen

Verdrängt scheint von der georgi­schen Regierung außerdem zu werden, was der Durch­schnitts­bürger in Georgien derzeit erlebt: Die Preise für Wasser, Gas und Kraft­stoffe sind innerhalb weniger Monate um mehr als ein Drittel gestiegen. Im Lauf des Winters dürfte es zu weiteren Anstiegen kommen. Prognosen befürchten gar eine Verdop­pelung beim Preis für Gas. Parallel dazu verfällt die Landes­währung, der Georgische Lari (GEL), immer mehr. Seit Anfang des Jahres hat sie mehr als 30 Prozent verloren, Tendenz weiter fallend. In den Wochen vor der Präsi­dent­schaftswahl setzte ein derart rasanter Abwärts­trend ein, dass sich die georgische Notenbank zu einer Inter­vention entschloss, die in vergleich­barer Dimension nicht oft wiederholt werden kann. Dass sofort Verschwö­rungs­theorien kursierten, die entweder die Opposition oder die Russen oder beide dafür verant­wortlich machten, versteht sich von selbst.

Tatsächlich spiegelt der Sinkflug der georgi­schen Währung einen Verlust an Vertrauen wider, der vor allem westliche Inves­toren betrifft. Dabei geht es weniger um die Frage außen­po­li­ti­scher Stabi­lität, also, ob der „Große Bär“ von Moskau aus womöglich doch irgendwann seine Pranke hebt und sich das kleine Land, das er schon zu einem Fünftel besetzt hält, vollends einver­leibt. Davon ist derzeit aber nicht auszu­gehen. Putin hat ander­weitig genug zu tun und begnügt sich bezüglich Georgien mit einer „Politik der Nadel­stiche“ und der „dauer­haften Provo­kation“, was, man kann es nicht anders sagen, gut funktioniert.

Westliche Inves­toren verun­si­chert vielmehr, dass es nach wie vor keine wirklich schlüssige und konse­quent verfolgte wirtschafts­po­li­tische Strategie der georgi­schen Regierung gibt. Ein Vertreter der EU-Kommission sprach kürzlich von einem „Achterbahn-Kurs entlang von Hypes“: „Vor drei Jahren war – entgegen vieler Mahnungen von Experten, die vor überzo­genen Erwar­tungen warnten – bei Treffen mit georgi­schen Regie­rungs­ver­tretern von kaum etwas anderem die Rede als von der ‚Neuen Seiden­straße‘. Sie war das Heils­ver­sprechen für Arbeit und neuen Wohlstand. Heute, nachdem unver­kennbar ist, dass sich in diesem Fall selbst die Chinesen übernommen haben dürften und in enormen Finan­zie­rungs­schwie­rig­keiten stecken, spricht man auch in Georgien nicht mehr so viel von der ‚Neuen Seiden­straße‘. Die neuen Zauber­wörter sind jetzt ‚Digital Mining‘ und ‚Block­chain‘.  Aber wie viele Arbeits­plätze können durch Block­chain geschaffen werden?“ Eine rheto­rische Frage.

Kaum Fortschritte in der Landwirtschaft

Zwar hat die Weltbank in einem Ranking Georgien kürzlich auf Platz sechs der weltweit „inves­ti­ti­ons­freund­lichsten Länder“ gesetzt.  Doch berück­sichtigt dieses Ranking nur die formellen, gesetz­lichen Rahmen­be­din­gungen – nicht jedoch eine eventuell fehlende Infra­struktur für bestimmte Branchen oder eine bislang recht einseitig und wenig nachhaltig ausge­richtete Wirtschaftsstrategie.

Georgien hat keine Boden­schätze, könnte aber eine Landwirt­schaft wieder aufbauen, die das Land während der Sowjetzeit zum „Garten Moskaus“ machte. Das aber geschieht nicht wirklich bislang. Was exzellent funktio­niert, ist die Weinpro­duktion. Aber die ist nicht das Ergebnis gezielter Politik, sondern des Engage­ments von einzelnen privaten Unter­nehmern, die das Potenzial erkannten und entspre­chend inves­tierten. Die Politik kann die erfreu­lichen Ergeb­nisse auf dem Silber­ta­blett präsen­tieren, ohne dafür viel getan zu haben.

Alle übrigen landwirt­schaft­lichen Bereiche indes liegen nach wie vor weitgehend brach. So sehr man die Assozi­ierung an die EU als große Errun­gen­schaft feiert, so wenig erwähnt man die Tatsache, dass die meisten landwirt­schaft­lichen Produkte nach wie vor nicht in die EU expor­tiert werden können. Trotz einer von Brüssel zugestan­denen Verlän­ge­rungs­frist hat man es, zum Beispiel, noch immer nicht geschafft, die Standards der EU für Qualität und Sicherheit bei Lebens­mitteln einzu­führen. Was vor allem bedeutet: eine Infra­struktur für notwendige Kontrollen einzu­richten, Personal dafür auszu­bilden und einzu­stellen und, nicht zuletzt, die Landwirte entspre­chend intensiv zu schulen und Finan­zie­rungs­hilfen für notwendige technische Verän­de­rungen zu geben.  In Brüssel stehen dafür zig Millionen Euro bereit, von denen bislang kaum etwas abgerufen wurde.

Druck aus Brüssel

Entspre­chend enttäuscht bis empört über diese Versäum­nisse zeigt sich die EU-Kommission. Im Oktober dieses Jahres stand das Thema auf der Tages­ordnung der regel­mäßig statt­fin­denden Konferenz zwischen der EU-Kommission und der georgi­schen Regierung. Dabei haben die EU-Vertreter, wie aus vertrau­lichen Quellen zu hören war, deutlich gemacht, dass an eine weitere Frist­ver­län­gerung für die Einführung der Standards nicht zu denken sei. In Tbilisi muss man nun überlegen, wie man in weniger als zwei Jahren erledigen kann, was bereits von der Vorgänger-Regierung aufge­schoben, aber auch von dieser Regierung nie richtig angegangen wurde.

Statt­dessen lud die Regierung in diesem Sommer zum „World Digital Mining Summit“, einer Konferenz, die mehr als zweitausend Vertreter der Krypto-Währungs­branche nach Georgien brachte. Gerüchte behaupten, dies sei das neue Betäti­gungsfeld des in Georgien alles beherr­schenden Milli­ardärs Bidzina Ivanishvili. Aber auch die Bevöl­kerung von Georgien weiß, wie wenig Arbeits­plätze durch diese Branche geschaffen werden, wie speku­lativ und riskant sie ist – und, dass sie nur deshalb an Georgien inter­es­siert ist, weil der Strom, den sie in großen Mengen verbraucht, hier noch vergleichs­weise günstig zu haben ist.

Derzeit befinden sich mindestens drei Großkraft­werke in Georgien im Bau. Hochsub­ven­tio­niert. Und höchst umstritten, weil es sich erneut um Wasser­kraft­werke handelt – mit den damit verbun­denen, gravie­renden Folgen für die regionale Natur. Derweil ziehen große Krypto-Währungs- und Block­chain-Unter­nehmen bereits nach Kanada weiter, wo Elektri­zität kaum teurer, die politische Lage indes klarer und sicherer ist. Und wo die Geologie kein Erdbe­ben­risiko kennt, wie in Georgien; was für den Betrieb von Hochleis­tungs-Rechen­zentren von einiger Bedeutung ist.

Die Angst, die nächste Wahl zu verlieren

Die aktuelle georgische Situation ist ein Lehrbuch-Beispiel für die Folgen, die einer Regierung drohen, wenn erkannte Notwen­dig­keiten nicht angegangen werden, aus Angst, Wähler und womöglich die nächste Wahl zu verlieren.

Dass vieles aber vor allem ein Kommu­ni­ka­ti­ons­problem ist, wird dabei übersehen. Ein Dialog mit der Bevöl­kerung findet kaum statt. Kommu­ni­kation wird mit PR verwechselt. Presse­stellen werden in den Minis­terien zu „Erfolgs­mel­de­stellen“ degra­diert. Kriti­schen Sachfragen wird Verbrü­derung mit der Opposition unter­stellt. TV-Inter­views werden zur minuten­langen Antwort-Einbahn­straße umfunk­tio­niert, über der in großen, unsicht­baren Lettern gleichsam das Wort „Propa­ganda“ steht. Auf längere Sicht trägt dergleichen wenig bei zur Erhöhung der Glaub­wür­digkeit der Regierenden.

Verlorene Glaub­wür­digkeit

Und genau dieser Punkt scheint in Georgien erreicht. Da brauchte es nur noch einiger grober handwerk­licher Fehler im Zusam­menhang mit der Aufstellung der vom Regie­rungs­lager auser­ko­renen, angeblich unabhän­gigen, in Wahrheit längst mit der Regie­rungs­partei verbün­deten Kandi­datin, nebst einiger Fettnäpfchen, in die diese Kandi­datin zielsicher tappte – und der Volkszorn öffnete sein Ventil. Zunächst noch in Form von Kreuzen auf Wahlzetteln: Im ersten Wahlgang verwei­gerten mehr als 60 Prozent der Wähler der regie­renden Partei „Georgi­scher Traum“ die Gefolg­schaft. Deutlicher konnte die Botschaft kaum sein. Immerhin, im zweiten Wahlgang hatte die Mehrheit begriffen, worüber zu entscheiden war:  Grigol Vashadze, der Kandidat der vereinten Opposition,  war schon in seiner Zeit als Außen­mi­nister unter „Mischa“ Saakashvili als Scharf­macher gefürchtet und hat auch im Wahlkampf wenig Zweifel daran gelassen, wes Geistes Kind er ist. Keine Schublade, aus der er sich für seine Reden bediente, war ihm zu tief, keine persön­liche Diffa­mierung zu beschämend. Ein Zyniker, der allen Ernstes versprach – oder drohte – dass seine erste Amtshandlung als Präsident die Begna­digung seines Freundes „Mischa“ Saakashvili sein werde. Also die Begna­digung des geschassten, ehema­ligen Präsi­denten, der wegen Amtsmiss­brauchs in Abwesenheit zu mehreren Jahren Haft verur­teilt ist und derzeit als Staaten­loser in den Nieder­landen lebt.

„Georgien steht am Scheideweg“

„Georgien steht am Schei­deweg.“ Das sagen nicht nur externe Beobachter. Zu diesem Schluss kamen, wörtlich und wortgleich, der Parteichef des „Georgi­schen Traums“, Bidzina Ivanishvili, und die neue Staats­prä­si­dentin Salome Zurabishvili. Er in einer bemer­kens­werten Rede an das Volk, nachdem der erste Wahlgang beinahe schief gegangen war, und er, der sich so gut wie nie öffentlich äußert, sich zu einer halbstün­digen Fernseh­an­sprache genötigt sah. Sie in einer nicht minder bemer­kens­werten Rede im Anschluss an ihre Verei­digung. Ob beide daraus auch die gleichen Schluss­fol­ge­rungen ziehen, wird sich zeigen.

Exil-Kind als Präsidentin

Die neue georgische Präsi­dentin wurde nicht in Georgien geboren, sondern in Frank­reich, wo sie auch aufwuchs und ihre Ausbildung als Karriere-Diplo­matin erhielt, als Kind von Eltern, die während der Stalin-Zeit aus Georgien geflohen waren. Ausge­rechnet Saakashvili hat sie dann 2004 als Außen­mi­nis­terin nach Georgien geholt. Doch das Glück gemein­samer Arbeit währte nur wenige Monate, dann schmiss „Madame“, wie alle sie hier nennen, hin.

Schon lange wurden Zurabishvili von Insidern Ambitionen auf das höchste Staatsamt nachgesagt. Nun hat sie erreicht, wonach sie angeblich so ehrgeizig strebte. Eine Ja-Sagerin, so viel steht fest, haben die Georgier nicht gewählt. Sondern eine äußerst selbst­be­wusste, zutiefst westeu­ro­päisch verwur­zelte Frau. Die Distanz, die sie zur georgi­schen Menta­lität mitbringt , wäre ihr im Wahlkampf beinahe zum Verhängnis geworden. In ihrem Amt könnte sich das als Vorteil erweisen. Als Stärkung der demokra­ti­schen Kultur im Land. Aber auch als Potenzial für viele Konflikte mit der Elite des georgi­schen Macht­ap­parats, der im Zweifelsfall nur aus einer einzigen Person besteht: Bidzina Ivanishvili. Dem Milli­ardär, der angetreten war, das Land von „Mischa“ Saakashvili zu befreien, dem mittler­weile aber immer mehr Beobachter ein stark zuneh­mendes Eigen­in­teresse nachsagen.

 FAZ spricht von „Staats­ka­perung“

Die Frank­furter Allge­meine Zeitung (FAZ) sprach in einem kürzlich erschie­nenen Artikel davon, dass Ivanishvili Staat und Wirtschaft in Georgien „kapere“.

Unbestreitbar ist, dass hinter einer Vielzahl grosser Wirtschafts­pro­jekte eine der Firmen des weit verzweigten Ivanishvili-Imperiums steht. Ein seit langem disku­tiertes Gesetz, das den Verkauf von Land an Ausländer restrik­tiver regeln soll, sieht im letzten Entwurf vor, dass über entspre­chende Anträge ein Gremium entscheiden soll, dessen Vorsitz der Premier­mi­nister haben soll. Der Mann, der seine Tage in aller Regel mit einer Bespre­chung im Hause Ivanishvili’s beginnt. Im Klartext: Künftig  entscheidet Ivanishvili darüber, welche auslän­di­schen Inves­toren in Georgien Land kaufen können.

Nachdem der erste Wahlgang nicht zur erwar­teten Mehrheit für die von der Regierung ausge­wählte Kandi­datin führte, erklärte der Premier­mi­nister kurzerhand, dass 600.000 Bürge­rinnen und Bürgern (von 3.8 Millionen) die Schulden erlassen würden, die sie in Form von Klein­kre­diten aufge­nommen hatten und nun nicht zurück­zahlen konnten. Übernommen werden sollen die Schulden von einer Stiftung, hinter der niemand anderes als die Privatbank von Bidzina Ivanishvili steht. Von der heftigen inter­na­tional  Kritik und einem Verdacht auf „Wählerkauf“ wollte man aber nichts hören.

Wahlkampf für eine Abwesende

Oberflächlich betrachtet war es ein ungeschickt einge­fä­delter und von allen Seiten höchst unschön geführter Wahlkampf. Die seit 2012 regie­rende, seit 2016 sogar mit verfas­sungs­ge­bender Zwei-Drittel-Mehrheit dominie­rende Partei „Georgi­scher Traum“ hatte erheb­liche Mühe, die von ihr unter­stützte Kandi­datin ins Ziel zu bringen. So große Mühe, dass sich Partei­spitze und Kampa­gnen­leitung nach dem blamablen Ergebnis in der ersten Runde entschlossen, das Konterfei der Kandi­datin von allen Plakaten zu nehmen und durch Bidzina Ivanishvili und den amtie­renden Parla­ments­prä­si­denten zu ersetzen. Vier Wochen Wahlkampf für eine öffentlich nahezu komplett abgetauchte Kandi­datin – das dürfte weltweit ein Novum gewesen sein.

Näher betrachtet ging es den Wähle­rinnen und Wählern in der kleinen, strate­gisch indes nicht unbedeu­tenden Süd-Kaukasus-Republik aber nicht nur um eine Kandi­datin, die es geschafft hatte, binnen kürzester Zeit eine große Zahl natio­naler Empfind­sam­keiten zu verletzen und sich selbst als „Madame Arroganz“ (Überschrift einer führenden, georgi­schen Online-Plattform) zu positionieren.

Der Protest gegen die Kandi­datin war eher das Zeichen für den wachsenden Unmut gegenüber einer Regierung, die außen­po­li­tisch Fortschritte erzielt haben mag, innen­po­li­tisch aber wenig Verbes­se­rungen vorweisen kann.

So wenig, dass sich der alles beherr­schende Milli­ardär Ivanishvili im Augen­blick der drohenden Niederlage zur öffent­lichen Selbst­kritik und einem in dieser Form in Georgien noch nie gehörten Mea culpa gezwungen sah. Wer sich zu einer solchen Rede an das Volk entschließt, will nicht nur eine drohende politische Niederlage abwenden, sondern muss von geradezu panischer Furcht davor befallen sein, die errungene Kontrolle wieder zu verlieren. Und so war es wohl auch.

„Mann vom Berg“ und „Puppen­spieler“

Bidzina Ivanishvili sprach von Versäum­nissen in Regierung und Verwaltung und teilte die Enttäu­schung der Menschen über die nach wie katastro­phale wirtschaft­liche Situation, den Verfall der natio­nalen Währung und die schlei­chende Wiederkehr kleiner und großer Korruption. Er zeigte Verständnis für Frustration und „versprach“, er werde persönlich dafür sorgen, dass Konse­quenzen gezogen würden.

Spätestens da hätten die Bürge­rinnen und Bürger Georgiens aufhorchen müssen: Er wird dafür sorgen, dass Konse­quenzen gezogen werden? Wie könnte er das, wenn alles verfas­sungs­rechtlich ordnungs­gemäß ablaufen soll? Ist er vom Volk gewählt? Von einer dazu befugten Insitution ernannt? Hat er ein exeku­tives Mandat?

Ivanishvili ist, seit Sommer dieses Jahres wieder, Vorsit­zender der Partei, die er einst gegründet und dann an andere übergeben hat. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Oder doch? Der Volksmund nennt ihn den „Mann vom Berg“. Journa­listen und Beobachter sprechen mitunter vom „Puppen­spieler“. Von seinem gigan­ti­schen Glaspalast aus schaut er nicht nur über die Haupt­stadt hinweg, sondern hält auch die Fäden zu allen Entschei­dungs­trägern fest in der Hand. Gemurmelt wird viel darüber. Aber niemand steht auf, geht auf die Straße, protes­tiert, oder fragt: Was geht hier vor? Persön­liches Engagement für eine junge Demokratie oder, wie die FAZ befürchtet, „Staats­ka­perung“?

„Kehre dem Bären nie den Rücken zu“

Ein Fünftel von Georgien ist seit dem August­krieg 2008 von Russland besetzt. Von den rund vier Millionen Einwohnern sind etwa 300.000 Menschen Binnen­flücht­linge aus den besetzten Gebieten. Die Zahl der Zwischen­fälle entlang der „Teilungs­linie“ hat in diesem Jahr erheblich zugenommen. Auch Bundes­kanz­lerin Angela Merkel vernahm das bei ihrem Georgien-Besuch im Sommer mit Sorge. Eine kürzlich verab­schiedete, neue „Friedens­in­itiative“ zeigt die enorme Anstrengung, zu der man bereit ist, um eine fried­liche Lösung der Situation zu finden. Beharrlich spricht man auch davon, dies seien keine Konflikte mit Russland, sondern Konflikte zwischen Georgien und Abchasien, bzw. zwischen Georgien und Süd-Ossetien. Das mag für die Entstehung stimmen, aber nicht mehr für die Gegenwart. Und so war die Ausführung eines Programm­punkts während der Amtsein­führung der neuen Staats­prä­si­dentin wohl auch kein Zufall, sondern wohl bedachte Symbolik: Die Salut­schüsse aus Flakge­schützen der georgi­schen Armee konnten in zwei Richtungen abgegeben werden. Entweder Richtung Westen und damit über den Hauptteil des Landes. Oder Richtung Nord-Ost und damit gen Russland. Man entschied sich für Letzteres. Getreu der Weisheit, dass man dem Bären niemals den Rücken zukehren soll.

Starke Person, schwaches Amt

Georgien hat nun, daran besteht kein Zweifel, eine starke Persön­lichkeit in einem vergleichs­weise schwachen Amt. Zurabishvili ist zuzutrauen, dass sie die Zweifel an ihrer Eignung schon sehr bald zerstreuen kann. Mit Sicherheit wird sie gegenüber der Regierung nicht milder und weniger kritisch auftreten als ihr Vorgänger im Amt. Auch wird sie die Demütigung nicht vergessen haben, dass ausge­rechnet dieje­nigen, die sie aufge­stellt haben, von allen Plakaten nahmen, um sich selbst dorthin zu setzen. Ob ihr Einfluss indessen ausreicht, um eine Verbes­serung auf den vielen Feldern zu bewirken, auf denen sie dringend notwendig ist, bleibt abzuwarten.

Georgien, das Musterland, steht an einem Schei­deweg. Immerhin: Noch hat es sein Schicksal selbst in der Hand.

Textende

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