Musterland am Scheideweg
Erstmals hat in Georgien eine Frau das Präsidentenamt übernommen: Salome Surabischwili, die Ex-Außenministerin des Landes, setzte sich bei der Stichwahl gegen ihren Rivalen durch. Auf die selbstbewusste Frau warten große Herausforderungen.
Am Tag der Vereidigung von Georgiens neuem und letztmalig direkt vom Volk gewählten Staatsoberhaupt strahlte die Sonne vom winterlichen Himmel, als wollte sie vergessen machen, was alles geschehen war in den Wochen und Monaten davor.
Auch der Ort der Zeremonie sollte ein Zeichen der Versöhnung sein: Hier, in der ost-georgischen Provinzstadt Telawi, knapp zwei Autostunden von Tbilisi entfernt, hatte die letztlich siegreiche Kandidatin keine Mehrheit erhalten. An ihrer Aussage, dies sei der Grund dafür gewesen, ihre Vereidigung hierher zu verlegen, darf gleichwohl gezweifelt werden. Eher dürfte es die prachtvolle Kulisse einer frisch restaurierten Festung gewesen sein, von der aus der Blick über die weite Ebene von Kachetien auf das prächtige Massiv des Kaukasus fällt. Eindrucksvoller kann man die faszinierende Seite von Georgien kaum in einem einzigen Bild erfassen. Dagegen hätten die Staatsgäste, die aus 55 Ländern angereist waren, um der ersten frei gewählten Frau in diesem Amt zu gratulieren, in Tbilisi an einer weniger illustren Zeltstadt und an Plakaten mit unschönen Aufschriften vorbeigeschleust werden müssen. Denn im Zentrum der Hauptstadt Georgiens, auf dem Platz vor dem alten Parlamentsgebäude, protestiert seit Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses die Opposition: Die Wahl sei unfair, gekauft und ein Betrug am georgischen Volk.
Im Westen wenig Aufmerksamkeit
Den westlichen Medien waren Wahl und Vereidigung des künftigen Staatsoberhauptes von Georgien kaum mehr als ein paar kurze Meldungen wert. Verbunden allenfalls noch mit dem Hinweis, dass das Amt aufgrund einer Verfassungsänderung seine einstige Machtfülle (vergleichbar dem französischen Modell) an den Premierminister abgegeben hat und nun dem deutschen Modell folgt, mit einem nach außen stark repräsentativen, nach innen überwachenden und die Legislative kontrollierenden Profil.
Kleines Land, wenig bedeutendes Amt – kurze Meldung, keine Platzverschwendung. Das ist nachvollziehbar. Und zeugt doch von einer gewissen Kurzsichtigkeit, die der politischen wie journalistischen Beobachtung der Vorgänge in Georgien seit vielen Jahren eigen ist. Dabei sollte nicht nur der georgische Konflikt mit Abchasien und Süd-Ossetien und sein Missbrauch seitens Putins Russland sehr zu denken geben.
Der Musterschüler
Georgien gilt, seit der „Rosenrevolution“ 2003, als Musterschüler unter den jungen Demokratien in Ost-Europa. Korruption und Vetternwirtschaft wurden besiegt, Reformen auf allen politischen Gebieten vorangetrieben, die Assoziierung an die EU besiegelt, eine enge Partnerschaft mit der NATO und visa-freies Reisen im Schengenraum erreicht. Eine zunächst bürgernahe und sehr engagierte, dann hochmütig, korrupt und brutal gewordene Regierung unter Micheil „Mischa“ Saakashvili wurde 2012 durch eine unbeanstandete Wahl und eine friedlich verlaufene Amtsübergabe abgelöst; ein Vorgang, der in dieser Region Europas alles andere als selbstverständlich ist.
Was folgte war, von heute aus betrachtet, ein weiteres Mal wie der Höhenflug eines georgischen Ikarus: Der Begeisterung der Anfangsjahre und dem Gefühl eines „richtigen“ Aufschwungs folgte ein weiterer Absturz in die Ernüchterung.
Wie auf Lackmus-Papier haben der Verlauf des Wahlkampfs und die beiden Wahltage für diese Präsidentschaftswahl gezeigt: Der Streber unter den osteuropäischen Staaten strauchelt. Hinzu kommt: Nie zuvor, seitdem sich Georgien aus der Umklammerung Moskaus gelöst und, 1991, seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat, gab es weniger Alternativen zur herrschenden Partei. Georgiens junge Demokratie hat sich in eine Sackgasse manövriert. Warum aber wird das der Bevölkerung gerade jetzt so bewusst? Und welche Konsequenzen könnte das nicht nur für Georgien, sondern für Europa haben?
„Glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“
Gründe gibt es durchaus: Nie ging es einer georgischen Durchschnittsfamilie wirtschaftlich schlechter als derzeit. Während ein kleiner Kreis im Land immer reicher wird und diesen Reichtum immer protziger zur Schau stellt, wird die weit überwiegende Mehrheit im Land immer ärmer. Und angesichts grotesk verzerrter, offizieller Statistiken auch immer verärgerter.
Offiziell ist von einer Arbeitslosigkeit um die 20 Prozent die Rede. Das ist hoch. Aber die Wirklichkeit ist schlimmer. Die Quote dürfte bei weit über 70 Prozent liegen. Dann nämlich, wenn man die Gruppe derer mit einbezieht, die weder Anstellung, noch Aussicht auf Anstellung haben; die sich durch Selbstversorgung aus dem eigenen Garten, von ihrer Kuh und ihrem Schwein ernähren und sich als Taxifahrer, Touristenführer, Gelegenheits-Maurer, Haushaltshilfe, Kindermädchen, Restaurantbedienung oder Zimmermädchen noch etwas dazu verdienen. Man nennt das „geduldete Schwarzarbeit“. Mehr als 300 bis 400 Lari kommen da selten zusammen. Das sind, nach aktuellem Kurs 100 bis 130 Euro. Ein einfacher Arbeiter in einer Fabrik kommt auf 600 bis 800 Lari monatlich. Ein Facharbeiter mit Verantwortung über ein Team und für die Qualität von Produkten, zum Beispiel in der Lebensmittelherstellung, auf 1000 bis 1200 Lari. Ein Bäcker im Dorf, nach Abzug aller Kosten für Mehl, Wasser, Gas, Gehilfen, auf erheblich weniger. Wie das georgische Wirtschaftsministerium auf den im Dezember stolz bekannt gegebenen Durchschnittsverdienst von 1250 Lari kommt, bleibt jedem ein Rätsel, der die Verhältnisse kennt. Entsprechend sind in der Bevölkerung mittlerweile die Reaktionen auf solche Verlautbarungen. „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“, lacht mein Friseur. „Auch wenn wir nichts mehr mit Moskau zu tun haben wollen: Das Polieren der Wirklichkeit haben wir bis zur Perfektion von den Russen gelernt.“ 15 Lari nimmt er für einen Herrenhaarschnitt – mit Waschen und Föhnen. Das sind umgerechnet fünf Euro, für eine dreiviertel Stunde Arbeit. Zu meinem Trinkgeld von zwei Lari sagt er: „Verdirb die Preise nicht, mein Freund!“ Im Supermarkt bekommt er dafür keine Flasche Bier.
Wachstum auf Subvention und Pump
Offiziell ist von 4 Prozent Wirtschaftswachstum die Rede. Doch das ergibt sich, neben einer innerhalb von zwei Jahren um beinahe 300 Prozent gewachsenen Tourismus-Branche, vor allem aus einer grotesk boomenden Bauwirtschaft, die allein in Tbilisi ganze Stadtviertel in Hochhausquartiere verwandelt, aber allzu oft in halbfertigen Bauruinen oder leer stehenden Geisterhäusern endet. Die georgische Hauptstadt erlebt eine Immobilienblase, die eher früher als später verheerende Folgen haben wird.
Und: Die Statistik bezieht große, einmalige Infrastruktur-Projekte mit ein, die vom Staat an zum Teil extra hierfür gegründete, private Gesellschaften zur Ausführung vergeben werden – etwa den Neubau und Ausbau von Autobahnen, Tunneln und des Eisenbahnnetzes. Das ist sachlich nicht falsch, aber es sind Projekte, die ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum in einem freien, globalen Markt erst noch beweisen müssen. Bis dahin belasten sie den Staatshaushalt. Denn sie werden über georgische Staatskredite finanziert, über EU- Subventionen oder über Investitionen staatlicher oder halbstaatlicher Kooperationen mit China oder, vor allem, mit Staaten aus dem arabischen Raum. Für ein kleines, oder soll man sagen: winziges Land wie Georgien, ohne jedes gegebene, solide wirtschaftliche Fundament, kann dergleichen rasch zu einer erdrückenden Last werden, oder gleich in eine fatale politische Abhängigkeit münden. Mit der chinesischen Regierung wurde ein Abkommen über eine riesige Freihandelszone nahe Kutaisi getroffen. Saudi-Arabische Scheichs haben im Herzen von Tbilisi das derzeit größte, höchste und luxuriöseste Hotel gebaut und gehören auch in anderen Branchen zu den derzeit aktivsten Investoren.
In Brüssel sieht man das mit wachsender Sorge: „In der EU-Kommission gibt es keinen Zweifel darüber, dass Georgien sich politischin Richtung Europäischer Union orientiert, und – wenn auch mit Korrekturbedarf – entwickelt“, sagt ein Spitzenvertreter der EU-Kommission. „Hinsichtlich seines wirtschaftspolitischenKurses muss Georgien indes begreifen, dass der Spagat, den es derzeit versucht, eine Zerreißprobe ist.“
Verfall der Landeswährung trotz Devisen
Verdrängt scheint von der georgischen Regierung außerdem zu werden, was der Durchschnittsbürger in Georgien derzeit erlebt: Die Preise für Wasser, Gas und Kraftstoffe sind innerhalb weniger Monate um mehr als ein Drittel gestiegen. Im Lauf des Winters dürfte es zu weiteren Anstiegen kommen. Prognosen befürchten gar eine Verdoppelung beim Preis für Gas. Parallel dazu verfällt die Landeswährung, der Georgische Lari (GEL), immer mehr. Seit Anfang des Jahres hat sie mehr als 30 Prozent verloren, Tendenz weiter fallend. In den Wochen vor der Präsidentschaftswahl setzte ein derart rasanter Abwärtstrend ein, dass sich die georgische Notenbank zu einer Intervention entschloss, die in vergleichbarer Dimension nicht oft wiederholt werden kann. Dass sofort Verschwörungstheorien kursierten, die entweder die Opposition oder die Russen oder beide dafür verantwortlich machten, versteht sich von selbst.
Tatsächlich spiegelt der Sinkflug der georgischen Währung einen Verlust an Vertrauen wider, der vor allem westliche Investoren betrifft. Dabei geht es weniger um die Frage außenpolitischer Stabilität, also, ob der „Große Bär“ von Moskau aus womöglich doch irgendwann seine Pranke hebt und sich das kleine Land, das er schon zu einem Fünftel besetzt hält, vollends einverleibt. Davon ist derzeit aber nicht auszugehen. Putin hat anderweitig genug zu tun und begnügt sich bezüglich Georgien mit einer „Politik der Nadelstiche“ und der „dauerhaften Provokation“, was, man kann es nicht anders sagen, gut funktioniert.
Westliche Investoren verunsichert vielmehr, dass es nach wie vor keine wirklich schlüssige und konsequent verfolgte wirtschaftspolitische Strategie der georgischen Regierung gibt. Ein Vertreter der EU-Kommission sprach kürzlich von einem „Achterbahn-Kurs entlang von Hypes“: „Vor drei Jahren war – entgegen vieler Mahnungen von Experten, die vor überzogenen Erwartungen warnten – bei Treffen mit georgischen Regierungsvertretern von kaum etwas anderem die Rede als von der ‚Neuen Seidenstraße‘. Sie war das Heilsversprechen für Arbeit und neuen Wohlstand. Heute, nachdem unverkennbar ist, dass sich in diesem Fall selbst die Chinesen übernommen haben dürften und in enormen Finanzierungsschwierigkeiten stecken, spricht man auch in Georgien nicht mehr so viel von der ‚Neuen Seidenstraße‘. Die neuen Zauberwörter sind jetzt ‚Digital Mining‘ und ‚Blockchain‘. Aber wie viele Arbeitsplätze können durch Blockchain geschaffen werden?“ Eine rhetorische Frage.
Kaum Fortschritte in der Landwirtschaft
Zwar hat die Weltbank in einem Ranking Georgien kürzlich auf Platz sechs der weltweit „investitionsfreundlichsten Länder“ gesetzt. Doch berücksichtigt dieses Ranking nur die formellen, gesetzlichen Rahmenbedingungen – nicht jedoch eine eventuell fehlende Infrastruktur für bestimmte Branchen oder eine bislang recht einseitig und wenig nachhaltig ausgerichtete Wirtschaftsstrategie.
Georgien hat keine Bodenschätze, könnte aber eine Landwirtschaft wieder aufbauen, die das Land während der Sowjetzeit zum „Garten Moskaus“ machte. Das aber geschieht nicht wirklich bislang. Was exzellent funktioniert, ist die Weinproduktion. Aber die ist nicht das Ergebnis gezielter Politik, sondern des Engagements von einzelnen privaten Unternehmern, die das Potenzial erkannten und entsprechend investierten. Die Politik kann die erfreulichen Ergebnisse auf dem Silbertablett präsentieren, ohne dafür viel getan zu haben.
Alle übrigen landwirtschaftlichen Bereiche indes liegen nach wie vor weitgehend brach. So sehr man die Assoziierung an die EU als große Errungenschaft feiert, so wenig erwähnt man die Tatsache, dass die meisten landwirtschaftlichen Produkte nach wie vor nicht in die EU exportiert werden können. Trotz einer von Brüssel zugestandenen Verlängerungsfrist hat man es, zum Beispiel, noch immer nicht geschafft, die Standards der EU für Qualität und Sicherheit bei Lebensmitteln einzuführen. Was vor allem bedeutet: eine Infrastruktur für notwendige Kontrollen einzurichten, Personal dafür auszubilden und einzustellen und, nicht zuletzt, die Landwirte entsprechend intensiv zu schulen und Finanzierungshilfen für notwendige technische Veränderungen zu geben. In Brüssel stehen dafür zig Millionen Euro bereit, von denen bislang kaum etwas abgerufen wurde.
Druck aus Brüssel
Entsprechend enttäuscht bis empört über diese Versäumnisse zeigt sich die EU-Kommission. Im Oktober dieses Jahres stand das Thema auf der Tagesordnung der regelmäßig stattfindenden Konferenz zwischen der EU-Kommission und der georgischen Regierung. Dabei haben die EU-Vertreter, wie aus vertraulichen Quellen zu hören war, deutlich gemacht, dass an eine weitere Fristverlängerung für die Einführung der Standards nicht zu denken sei. In Tbilisi muss man nun überlegen, wie man in weniger als zwei Jahren erledigen kann, was bereits von der Vorgänger-Regierung aufgeschoben, aber auch von dieser Regierung nie richtig angegangen wurde.
Stattdessen lud die Regierung in diesem Sommer zum „World Digital Mining Summit“, einer Konferenz, die mehr als zweitausend Vertreter der Krypto-Währungsbranche nach Georgien brachte. Gerüchte behaupten, dies sei das neue Betätigungsfeld des in Georgien alles beherrschenden Milliardärs Bidzina Ivanishvili. Aber auch die Bevölkerung von Georgien weiß, wie wenig Arbeitsplätze durch diese Branche geschaffen werden, wie spekulativ und riskant sie ist – und, dass sie nur deshalb an Georgien interessiert ist, weil der Strom, den sie in großen Mengen verbraucht, hier noch vergleichsweise günstig zu haben ist.
Derzeit befinden sich mindestens drei Großkraftwerke in Georgien im Bau. Hochsubventioniert. Und höchst umstritten, weil es sich erneut um Wasserkraftwerke handelt – mit den damit verbundenen, gravierenden Folgen für die regionale Natur. Derweil ziehen große Krypto-Währungs- und Blockchain-Unternehmen bereits nach Kanada weiter, wo Elektrizität kaum teurer, die politische Lage indes klarer und sicherer ist. Und wo die Geologie kein Erdbebenrisiko kennt, wie in Georgien; was für den Betrieb von Hochleistungs-Rechenzentren von einiger Bedeutung ist.
Die Angst, die nächste Wahl zu verlieren
Die aktuelle georgische Situation ist ein Lehrbuch-Beispiel für die Folgen, die einer Regierung drohen, wenn erkannte Notwendigkeiten nicht angegangen werden, aus Angst, Wähler und womöglich die nächste Wahl zu verlieren.
Dass vieles aber vor allem ein Kommunikationsproblem ist, wird dabei übersehen. Ein Dialog mit der Bevölkerung findet kaum statt. Kommunikation wird mit PR verwechselt. Pressestellen werden in den Ministerien zu „Erfolgsmeldestellen“ degradiert. Kritischen Sachfragen wird Verbrüderung mit der Opposition unterstellt. TV-Interviews werden zur minutenlangen Antwort-Einbahnstraße umfunktioniert, über der in großen, unsichtbaren Lettern gleichsam das Wort „Propaganda“ steht. Auf längere Sicht trägt dergleichen wenig bei zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit der Regierenden.
Verlorene Glaubwürdigkeit
Und genau dieser Punkt scheint in Georgien erreicht. Da brauchte es nur noch einiger grober handwerklicher Fehler im Zusammenhang mit der Aufstellung der vom Regierungslager auserkorenen, angeblich unabhängigen, in Wahrheit längst mit der Regierungspartei verbündeten Kandidatin, nebst einiger Fettnäpfchen, in die diese Kandidatin zielsicher tappte – und der Volkszorn öffnete sein Ventil. Zunächst noch in Form von Kreuzen auf Wahlzetteln: Im ersten Wahlgang verweigerten mehr als 60 Prozent der Wähler der regierenden Partei „Georgischer Traum“ die Gefolgschaft. Deutlicher konnte die Botschaft kaum sein. Immerhin, im zweiten Wahlgang hatte die Mehrheit begriffen, worüber zu entscheiden war: Grigol Vashadze, der Kandidat der vereinten Opposition, war schon in seiner Zeit als Außenminister unter „Mischa“ Saakashvili als Scharfmacher gefürchtet und hat auch im Wahlkampf wenig Zweifel daran gelassen, wes Geistes Kind er ist. Keine Schublade, aus der er sich für seine Reden bediente, war ihm zu tief, keine persönliche Diffamierung zu beschämend. Ein Zyniker, der allen Ernstes versprach – oder drohte – dass seine erste Amtshandlung als Präsident die Begnadigung seines Freundes „Mischa“ Saakashvili sein werde. Also die Begnadigung des geschassten, ehemaligen Präsidenten, der wegen Amtsmissbrauchs in Abwesenheit zu mehreren Jahren Haft verurteilt ist und derzeit als Staatenloser in den Niederlanden lebt.
„Georgien steht am Scheideweg“
„Georgien steht am Scheideweg.“ Das sagen nicht nur externe Beobachter. Zu diesem Schluss kamen, wörtlich und wortgleich, der Parteichef des „Georgischen Traums“, Bidzina Ivanishvili, und die neue Staatspräsidentin Salome Zurabishvili. Er in einer bemerkenswerten Rede an das Volk, nachdem der erste Wahlgang beinahe schief gegangen war, und er, der sich so gut wie nie öffentlich äußert, sich zu einer halbstündigen Fernsehansprache genötigt sah. Sie in einer nicht minder bemerkenswerten Rede im Anschluss an ihre Vereidigung. Ob beide daraus auch die gleichen Schlussfolgerungen ziehen, wird sich zeigen.
Exil-Kind als Präsidentin
Die neue georgische Präsidentin wurde nicht in Georgien geboren, sondern in Frankreich, wo sie auch aufwuchs und ihre Ausbildung als Karriere-Diplomatin erhielt, als Kind von Eltern, die während der Stalin-Zeit aus Georgien geflohen waren. Ausgerechnet Saakashvili hat sie dann 2004 als Außenministerin nach Georgien geholt. Doch das Glück gemeinsamer Arbeit währte nur wenige Monate, dann schmiss „Madame“, wie alle sie hier nennen, hin.
Schon lange wurden Zurabishvili von Insidern Ambitionen auf das höchste Staatsamt nachgesagt. Nun hat sie erreicht, wonach sie angeblich so ehrgeizig strebte. Eine Ja-Sagerin, so viel steht fest, haben die Georgier nicht gewählt. Sondern eine äußerst selbstbewusste, zutiefst westeuropäisch verwurzelte Frau. Die Distanz, die sie zur georgischen Mentalität mitbringt , wäre ihr im Wahlkampf beinahe zum Verhängnis geworden. In ihrem Amt könnte sich das als Vorteil erweisen. Als Stärkung der demokratischen Kultur im Land. Aber auch als Potenzial für viele Konflikte mit der Elite des georgischen Machtapparats, der im Zweifelsfall nur aus einer einzigen Person besteht: Bidzina Ivanishvili. Dem Milliardär, der angetreten war, das Land von „Mischa“ Saakashvili zu befreien, dem mittlerweile aber immer mehr Beobachter ein stark zunehmendes Eigeninteresse nachsagen.
FAZ spricht von „Staatskaperung“
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) sprach in einem kürzlich erschienenen Artikel davon, dass Ivanishvili Staat und Wirtschaft in Georgien „kapere“.
Unbestreitbar ist, dass hinter einer Vielzahl grosser Wirtschaftsprojekte eine der Firmen des weit verzweigten Ivanishvili-Imperiums steht. Ein seit langem diskutiertes Gesetz, das den Verkauf von Land an Ausländer restriktiver regeln soll, sieht im letzten Entwurf vor, dass über entsprechende Anträge ein Gremium entscheiden soll, dessen Vorsitz der Premierminister haben soll. Der Mann, der seine Tage in aller Regel mit einer Besprechung im Hause Ivanishvili’s beginnt. Im Klartext: Künftig entscheidet Ivanishvili darüber, welche ausländischen Investoren in Georgien Land kaufen können.
Nachdem der erste Wahlgang nicht zur erwarteten Mehrheit für die von der Regierung ausgewählte Kandidatin führte, erklärte der Premierminister kurzerhand, dass 600.000 Bürgerinnen und Bürgern (von 3.8 Millionen) die Schulden erlassen würden, die sie in Form von Kleinkrediten aufgenommen hatten und nun nicht zurückzahlen konnten. Übernommen werden sollen die Schulden von einer Stiftung, hinter der niemand anderes als die Privatbank von Bidzina Ivanishvili steht. Von der heftigen international Kritik und einem Verdacht auf „Wählerkauf“ wollte man aber nichts hören.
Wahlkampf für eine Abwesende
Oberflächlich betrachtet war es ein ungeschickt eingefädelter und von allen Seiten höchst unschön geführter Wahlkampf. Die seit 2012 regierende, seit 2016 sogar mit verfassungsgebender Zwei-Drittel-Mehrheit dominierende Partei „Georgischer Traum“ hatte erhebliche Mühe, die von ihr unterstützte Kandidatin ins Ziel zu bringen. So große Mühe, dass sich Parteispitze und Kampagnenleitung nach dem blamablen Ergebnis in der ersten Runde entschlossen, das Konterfei der Kandidatin von allen Plakaten zu nehmen und durch Bidzina Ivanishvili und den amtierenden Parlamentspräsidenten zu ersetzen. Vier Wochen Wahlkampf für eine öffentlich nahezu komplett abgetauchte Kandidatin – das dürfte weltweit ein Novum gewesen sein.
Näher betrachtet ging es den Wählerinnen und Wählern in der kleinen, strategisch indes nicht unbedeutenden Süd-Kaukasus-Republik aber nicht nur um eine Kandidatin, die es geschafft hatte, binnen kürzester Zeit eine große Zahl nationaler Empfindsamkeiten zu verletzen und sich selbst als „Madame Arroganz“ (Überschrift einer führenden, georgischen Online-Plattform) zu positionieren.
Der Protest gegen die Kandidatin war eher das Zeichen für den wachsenden Unmut gegenüber einer Regierung, die außenpolitisch Fortschritte erzielt haben mag, innenpolitisch aber wenig Verbesserungen vorweisen kann.
So wenig, dass sich der alles beherrschende Milliardär Ivanishvili im Augenblick der drohenden Niederlage zur öffentlichen Selbstkritik und einem in dieser Form in Georgien noch nie gehörten Mea culpa gezwungen sah. Wer sich zu einer solchen Rede an das Volk entschließt, will nicht nur eine drohende politische Niederlage abwenden, sondern muss von geradezu panischer Furcht davor befallen sein, die errungene Kontrolle wieder zu verlieren. Und so war es wohl auch.
„Mann vom Berg“ und „Puppenspieler“
Bidzina Ivanishvili sprach von Versäumnissen in Regierung und Verwaltung und teilte die Enttäuschung der Menschen über die nach wie katastrophale wirtschaftliche Situation, den Verfall der nationalen Währung und die schleichende Wiederkehr kleiner und großer Korruption. Er zeigte Verständnis für Frustration und „versprach“, er werde persönlich dafür sorgen, dass Konsequenzen gezogen würden.
Spätestens da hätten die Bürgerinnen und Bürger Georgiens aufhorchen müssen: Er wird dafür sorgen, dass Konsequenzen gezogen werden? Wie könnte er das, wenn alles verfassungsrechtlich ordnungsgemäß ablaufen soll? Ist er vom Volk gewählt? Von einer dazu befugten Insitution ernannt? Hat er ein exekutives Mandat?
Ivanishvili ist, seit Sommer dieses Jahres wieder, Vorsitzender der Partei, die er einst gegründet und dann an andere übergeben hat. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Oder doch? Der Volksmund nennt ihn den „Mann vom Berg“. Journalisten und Beobachter sprechen mitunter vom „Puppenspieler“. Von seinem gigantischen Glaspalast aus schaut er nicht nur über die Hauptstadt hinweg, sondern hält auch die Fäden zu allen Entscheidungsträgern fest in der Hand. Gemurmelt wird viel darüber. Aber niemand steht auf, geht auf die Straße, protestiert, oder fragt: Was geht hier vor? Persönliches Engagement für eine junge Demokratie oder, wie die FAZ befürchtet, „Staatskaperung“?
„Kehre dem Bären nie den Rücken zu“
Ein Fünftel von Georgien ist seit dem Augustkrieg 2008 von Russland besetzt. Von den rund vier Millionen Einwohnern sind etwa 300.000 Menschen Binnenflüchtlinge aus den besetzten Gebieten. Die Zahl der Zwischenfälle entlang der „Teilungslinie“ hat in diesem Jahr erheblich zugenommen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vernahm das bei ihrem Georgien-Besuch im Sommer mit Sorge. Eine kürzlich verabschiedete, neue „Friedensinitiative“ zeigt die enorme Anstrengung, zu der man bereit ist, um eine friedliche Lösung der Situation zu finden. Beharrlich spricht man auch davon, dies seien keine Konflikte mit Russland, sondern Konflikte zwischen Georgien und Abchasien, bzw. zwischen Georgien und Süd-Ossetien. Das mag für die Entstehung stimmen, aber nicht mehr für die Gegenwart. Und so war die Ausführung eines Programmpunkts während der Amtseinführung der neuen Staatspräsidentin wohl auch kein Zufall, sondern wohl bedachte Symbolik: Die Salutschüsse aus Flakgeschützen der georgischen Armee konnten in zwei Richtungen abgegeben werden. Entweder Richtung Westen und damit über den Hauptteil des Landes. Oder Richtung Nord-Ost und damit gen Russland. Man entschied sich für Letzteres. Getreu der Weisheit, dass man dem Bären niemals den Rücken zukehren soll.
Starke Person, schwaches Amt
Georgien hat nun, daran besteht kein Zweifel, eine starke Persönlichkeit in einem vergleichsweise schwachen Amt. Zurabishvili ist zuzutrauen, dass sie die Zweifel an ihrer Eignung schon sehr bald zerstreuen kann. Mit Sicherheit wird sie gegenüber der Regierung nicht milder und weniger kritisch auftreten als ihr Vorgänger im Amt. Auch wird sie die Demütigung nicht vergessen haben, dass ausgerechnet diejenigen, die sie aufgestellt haben, von allen Plakaten nahmen, um sich selbst dorthin zu setzen. Ob ihr Einfluss indessen ausreicht, um eine Verbesserung auf den vielen Feldern zu bewirken, auf denen sie dringend notwendig ist, bleibt abzuwarten.
Georgien, das Musterland, steht an einem Scheideweg. Immerhin: Noch hat es sein Schicksal selbst in der Hand.
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