Israel: Keine Annexion. Erst mal.

Sperr­an­lage im West­jor­dan­land. Foto: Rostislav Glinsky/​Shutterstock

Für den 1. Juli 2020 war die Annexion von Teilen des West­jor­dan­landes ange­kün­digt worden. Doch passiert ist erst einmal nichts. LibMod-Kolumnist Richard C. Schneider erörtert, aus welchen Gründen die Annexion ausge­blieben ist und was das für Vorhaben insgesamt bedeutet.

Die Zahlen sind verhee­rend: über 1.000 Neuin­fek­tionen pro Tag. Dabei hatte es so gut begonnen. Israel war führend in der Bekämp­fung des Coro­na­virus. Im inter­na­tio­nalen Vergleich lag der jüdische Staat lange auf Platz eins der sichersten Länder, gefolgt von Deutsch­land auf Platz zwei. Doch dann fiel alles ausein­ander. Zu schnell wurden Schulen, Geschäfte und Restau­rants wieder geöffnet. Die Grund­re­geln – Maske, Distanz, Hände­wa­schen – wurden mißachtet und vor allem: das wachsende Desin­ter­esse der israe­li­schen Regierung führte schnell zu der zweiten Welle. Desin­ter­esse, weil der 1.  Juli immer näher rückte. Dieses Datum, auf das nicht nur Israelis und Paläs­ti­nenser starrten wie das Karnickel auf die Schlange. Das Datum, ab dem Premier Netanyahu 30 Prozent des West­jor­dan­lands oder doch zumindest Teile der im Frie­dens­plan von US-Präsi­denten Trump für Israel vorge­se­henen Gebiete annek­tieren wollte. Oder, wie es in Regie­rungs­kreisen in Jerusalem hieß, die „Souve­rä­nität ausweiten“ wollte. Ein ideo­lo­gisch aufge­heizter Begriff.

Nach Ansicht der israe­li­schen Rechten kann man nur etwas „annek­tieren“, was einem nicht gehört. Judäa und Samaria, so die bibli­schen Namen für das West­jor­dan­land, gehörten nach Ansicht der Rechten schon immer dem jüdischen Volk. Wort­klau­be­reien. Was soll’s. Denn: es geschah nichts am 1. Juli. Das an diesem Tag nicht annek­tiert werden würde, wurde mit der Zeit immer klarer, denn die Wider­stände und Schwie­rig­keiten wuchsen von Tag zu Tag, je näher dieses Datum kam. Was man maximal erwartete war eine symbo­li­sche Annek­tie­rung von Sied­lungen, die selbst bei einem vernünf­tigen Frieden mit den Paläs­ti­nen­sern bei Israel verbleiben würden, Sied­lungen, über die man sich schon in früheren Verhand­lungen im Prinzip geeinigt hatte. Nicht einmal dazu ist es gekommen. Zunächst einmal.

Zu viele Wider­stände, Bedenken und ein möglicher US-Präsident Biden

Das hat viele Gründe. Wider­stände von allen Seiten, Drohungen, Konse­quenzen, die den Gewinn einer Annek­tie­rung immer mehr in Frage stellten. Vor allem aber: Die Trump-Admi­nis­tra­tion hatte Bedenken die Annexion so zuzu­lassen, wie sich Netanyahu dies vorstellte. Es hieß, Washington wolle nur die Einver­lei­bung einiger Sied­lungen ganz nahe an Jerusalem akzep­tieren. Doch was Netanyahu ebenfalls daran gehindert haben könnte, die Annexion jetzt sofort durch­zu­ziehen, ist die wachsende Wahr­schein­lich­keit, dass Trumps Heraus­for­derer Joe Biden die Wahl gewinnen könnte. Zwar wollte Netanyahu genau deswegen diesen „histo­ri­schen Schritt“ so schnell wie möglich, noch vor den November-Wahlen in den USA durch­ziehen, um diese „window of oppor­tu­nity“ zu nutzen. Aber nachdem sich Biden sehr deutlich, sehr klar, sehr aggressiv gegen eine Annexion ausge­spro­chen hatte, muß Bibi wohl fürchten, dass das Verhältnis zwischen den USA und Israel unter einem US-Präsi­denten Biden massiv beschä­digt sein dürfte. Und das kann sich selbst Netanyahu kaum leisten.

Gab es gar kein Szenario für eine Annexion?

Im Ausland ist kaum aufge­fallen, dass die israe­li­schen Sicher­heits­in­sti­tu­tionen und ‑kräfte bis zuletzt im Dunkeln tappten. Es gab keine Karten, keine Pläne, keine Angaben, was ab dem 1. Juli geschehen könnte. Militär, Polizei, Geheim­dienste – sie hatten keinerlei Chance, sich auf ein Szenario vorzu­be­reiten. Hatte es also gar keins gegeben? Hatte Netanyahu innerlich längst seine eigene Idee aufge­geben? Wie hätte eine Annexion vollzogen werden sollen, ohne die entspre­chenden Sicher­heits­vor­keh­rungen zu treffen?

Zu früh für Entwarnungen

Ist damit das Thema also gegessen? So einfach ist es sicher nicht. Natürlich wird Netanyahu alles versuchen, um mit Washington einen Kompro­miss zu finden. Denn er will, er muss sein Gesicht wahren. Zumindest gegenüber seinen Wählern. Denn die große Mehrheit der Israelis inter­es­siert sich nicht für die Annexion. Israelis reisen nicht in die „besetzten Gebiete“, wenn sie zum Beispiel am Wochen­ende in die Naherho­lungs­ge­biete fahren. Judäa und Samaria mögen ja biblisch-jüdisches Mutter­land sein, aber es ist zu gefähr­lich dort. Wozu hinfahren, wenn man nicht ideo­lo­gisch beseelt ist?

Im Augen­blick hat das Land ganz andere Probleme, insbe­son­dere die zweite Welle der Pandemie und die durch das Coro­na­virus ausge­löste Wirt­schafts­krise mit fast 25 Prozent Arbeits­lo­sig­keit. Die meisten Israelis sind mit Überleben beschäf­tigt und nicht mit bibli­schem Land. Und Netan­yahus Beliebt­heits­werte werden schnell fallen, wenn er sich nicht den drän­genden Problemen des Landes stellt. Immerhin: Die öffent­liche Diskus­sion um die Annexion hat ihr wich­tigstes Ziel erreicht: niemand spricht mehr über den Korrup­ti­ons­pro­zess Netan­yahus. Doch dessen Angst, am Ende mögli­cher­weise doch verur­teilt zu werden und ins Gefängnis zu müssen, ist so groß, dass er doch noch etwas „Grosses“ schaffen will: Die Ausdeh­nung Israels auf das biblische Mutter­land. Für immer wäre Netan­yahus Namen damit in den Geschichts­bü­chern verbunden. Aller­dings auch für die Folgen, die dies lang­fristig für Israel bedeuten könnte. Doch wie heißt es so schön: Après moi, le déluge! Es ist also zu früh, Entwar­nung zu geben.

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