„Sicherheit im Wandel“ – eine Reportage aus Nordengland
In Bishop Auckland hinterlässt der Strukturwandel Ohnmacht und richtungslose Wut. Kluge Investitionen könnten helfen – doch viele Bürger haben die Hoffnung aufgegeben.
Auf den zentralen Einkaufsstraßen des nordenglische Städtchens Bishop Auckland stehen viele Läden leer, mit dunkeln Schaufenstern. Es gibt mehrere Secondhandläden und diverse Cafés, in denen sich Einwohner in diesen dunklen und nassen Spätherbsttagen auf eine Tasse Tee treffen. Eines davon wird schon in der dritten Generation von der Familie von Sam Zair betrieben. Zairs Großeltern sind aus Italien nach Nordengland eingewandert. Doch trotz der familiären Verbindung zu Kontinentaleuropa macht er klar, dass er den Austritt Großbritanniens aus der EU unterstützt. Zair vertritt Bishop Auckland im Bezirksparlament der Grafschaft Durham. Ursprünglich war er bei den Liberaldemokraten, inzwischen ist er unabhängig. Und vor den Parlamentswahlen sagt er: „Nur die Konservative Partei kann den Brexit umsetzten“. Deshalb glaubt Zair, dass die Tories gute Chancen haben, am 12. Dezember im diesem Wahlkreis zu gewinnen – zum ersten Mal seit Jahrzehnten.
Eigentlich ist Bishop Auckland, eine Stadt mit rund 25.000 Einwohnern, eine Labour-Hochburg, wie andere Orte in der Region. Seit 1918 wird die Stadt im Parlament durch Labour vertreten – mit einer kurzen Unterbrechung in den 1930er Jahren. Die Affinität für Labour wurde hier von einer Generation an die nächste weitergegeben. Für viele Menschen aus der Arbeiterklasse was es ein Teil ihrer Identität, für sie käme es einem Bruch mit der Familie und der Gemeinde gleich, eine andere Partei zu wählen. Nur zehn Meilen entfernt liegt Sedgefield, der legendäre Wahlkreis von Tony Blair.
Und so verbreitet sich unter den Wählern in Bishop Auckland ein Gefühl der Machtlosigkeit, das für eine Demokratie nicht Gutes verheißt.
Doch schon bei den vergangenen Wahlen konnte die jetzige Abgeordnete Helen Goodman nur mit einer sehr knappen Mehrheit von 502 Stimmen gewinnen. Für Boris Johnson sind solche Wahlkreise in Nord- und Mittelengland ein wichtiges Ziel – er braucht sie unbedingt, um eine Mehrheit im Parlament für sich zu sichern. Und die letzten Umfragen zeigen, dass einige der Labour-Hochburgen in die Hände von Johnson fallen könnten. Der Grund dafür ist der Brexit. In Bishop Auckland haben knapp 61 Prozent der Wähler für den Austritt aus der EU gestimmt.
Sehnsucht nach vergangener Größe
Auch drei Jahre Chaos nach dem Brexit-Referendum haben Sam Zair nicht davon überzeugt, dass es unvernünftig sein könnte, die EU zu verlassen. Ganz im Gegenteil – er glaubt, dass der Austritt jetzt endlich nötig ist. Wenn er über den Brexit redet, sind es nicht konkrete Zahlen und Details der möglichen Vereinbarung mit der EU, die ihn begeistern. Es ist eher ein Gefühl der Hoffnung, das er mit dem Brexit verbindet. „Wenn diese Entscheidung getroffen ist, kann sich das Land weiterentwickeln“, sagt er. „Wir können die Arbeit, die Investitionen und die Herstellung zurückholen. Wenn diese Entscheidung getroffen ist, können wir in unsere Zukunft schauen und daran arbeiten, dieses Land wieder groß zu machen.“
Eine Sehnsucht nach der angeblichen vergangenen Größe ist hier im Norden mit einem Gefühl verbunden, jahrelang von London vernachlässigt worden zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts blühte hier die Bergbauindustrie. Bishop Auckland war eine Marktstadt, wo Bergarbeiter aus der Umgebung ihr Geld in den Läden und Pubs ausgaben. Doch seit den 1950er Jahren machten die Gruben zu. Das hatte Einfluss auf die Lebensqualität in der Stadt, auf das Stadtbild und die politische Stimmung.
Wut auf Amazon in Nordengland
Heute sind es mehrere Faktoren, die zum Gefühl der Verunsicherung beitragen. Die Ladenbesitzer erklären den Verfall von Einkaufsstraßen mit der Digitalisierung und dem Erfolg des Online-Handels. „Amazon ist der größte Räuber und er kommt davon, ohne Steuern zu zahlen“, sagt etwa Gordon Draper, Besitzer einer antiquarischen Buchhandlung. Er macht auch die Sparpolitik der konservativen Regierungen dafür verantwortlich, dass sich die Menschen zunehmend unsicher gefühlt haben. Und wenn man Joy Allen, die Bürgermeisterin der Stadt, die zu der Labour-Partei gehört, danach fragt, warum hier so viele für den Brexit stimmten, antwortet sie: „Die Einwanderung war für viele der Grund. Die Menschen haben Angst vor dem Neuen.“
Allen ist trotzdem überzeugt, dass Labour keine so schlechten Chancen hat, auch in diesem Dezember die Wahlen zu gewinnen. Statt Brexit konzentriert sich die Partei hier auf andere konkretere Probleme: die Infrastruktur, das Gesundheitssystem, die Investitionen in die neuen Arbeitsplätze. Wenn es zu der Brexit-Frage kommt, wird die unentschlossene Politik der Partei deutlich. Die Abgeordnete Helen Goodman machte vor dem Referendum Kampagne gegen den Austritt. Jetzt sagt Allen, dass Labour einen „sanften“ Brexit will, um die negativen Konsequenzen für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze abzufedern. Der Labour-Chef Jeremy Corbyn verspricht, ein besseres Abkommen mit der EU auszuhandeln. Aber vor allem verspricht er mehr Umverteilung und ein gerechteres System, von dem nicht nur die Eliten profitieren würden. „Es ist Zeit für echte Veränderungen“, lautet ein Motto der Labour-Partei.
Ironischerweise versucht die Konservative Partei mit einer ähnlichen Botschaft hier die Wähler anzuwerben. „Die Menschen sind müde davon, dass sich nichts in ihrem Leben zum Besseren verändert. Ich verkaufe die Botschaft der Veränderungen“, sagt Dehenna Davison, die Kandidatin der Konservativen Partei. Sie ist 25 Jahre alt und behauptet, schon seit ihrem Studium der Politik an der EU gezweifelt zu haben. Wenn sie jetzt von zu Tür zu Tür in Bishop Auckland geht, versucht sie vor allem die Labour-Wähler anzusprechen, die gleichzeitig Brexit-Anhänger sind, die Ukip-Wähler und die Anhänger der Konservativen Partei, die nicht immer wählen gehen. Sie verspricht vor allem den Brexit, aber auch eine bessere Gesundheitsversorgung, bessere Infrastruktur und mehr Arbeitsplätze für junge Menschen, damit sie die Stadt nicht verlassen.
„Die Regierung gewinnt, nicht wir“
Die beiden großen Parteien verkaufen also den frustrierten Wählern im Grunde eine Hoffnung auf bessere Zeiten. Doch inzwischen müssen sie mit einem massiven Vertrauensverlust kämpfen. Viele Wähler entscheiden sich nur im letzten Moment, weil sie von keiner Partei überzeugt sind. „Ich bin stark gegen Boris Johnson. Er war nie vertrauenswürdig gewesen, er hat die Queen betrogen“, sagt etwa Peter Storey, ein pensionierter Lehrer. „Aber ich habe auch nicht so viel Vertrauen in Corbyn. Er verspricht viel Geld, doch niemand sagt, woher es kommen soll“.
Und so verbreitet sich unter den Wählern in Bishop Auckland ein Gefühl der Machtlosigkeit, das für eine Demokratie nicht Gutes verheißt. Viele Menschen auf der Straße sagen, sie vertrauen den Politikern und ihren Versprechen nicht, fühlen sich belogen und glauben, es mache keinen Sinn, sich in die Details der Versprechen einzulesen. Der Buchhändler Draper sagt resigniert: „Ein Vogel hat zwei Flügel, wir können für den einen oder den anderen abstimmen, aber es ist immer die Regierung, die gewinnt, und nicht wir“.
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