Trüge­rische Erleich­terung: Frank­reich nach den Parlamentswahlen

Foto: Imago

Frank­reich atmet durch: das Schreckbild einer rechts­extremen Regierung angeführt vom Rassem­blement National wurde vorerst abgewendet. Was jetzt folgt ist aller­dings ein Sprung ins Ungewisse. Frank­reich steht nun eine schwierige Regie­rungs­bildung bevor.

Natürlich darf man erleichtert sein, wenn sich eine Demokratie in einem wichtigen Moment resilient zeigt. Man darf sich sogar darüber freuen, dass sich die franzö­si­schen Wähler von den so plötzlich angesetzten Parla­ments­wahlen in ungeahntem Maße mobili­sieren ließen. An zwei Sommer-Sonntagen in Folge lag die Wahlbe­tei­ligung über 65%. Mehr als zweieinhalb Millionen Bürger haben auf die lästige Prozedur der Proku­ration zurück­ge­griffen, um trotz Abwesenheit vom Wohnort ihre Stimme nicht verfallen zu lassen – darunter übrigens ein guter Teil der gerade in Deutschland weilenden Fußball­na­tio­nal­mann­schaft. Das Angebot der Links- und Mitte-Rechts-Parteien, mit dem freiwil­ligen Rückzug von dritt­plat­zierten Kandi­daten in 215 Wahlkreisen ein Zeichen zu setzen, wurde nicht als niedriges politi­sches Manöver abgetan, sondern als Gelegenheit ergriffen, sich gemein­samer Grund­werte zu vergewissern.

Was jetzt ansteht, ist aller­dings ein Sprung ins Ungewisse, wie ihn die Fünfte Republik noch nicht gesehen hat!

Das sieht man schon mit einem Blick auf die franzö­si­schen Medien: Für sie sind es ungewohnte Tage, hatten sie ihre Aufmerk­samkeit doch jahrzehn­telang gänzlich auf die Person des Präsi­denten fokus­siert. Jetzt auf einmal müssen sie in aller Eile den Bürgern erklären, dass sie eigentlich in einer parla­men­ta­ri­schen Demokratie leben, in der die Regierung von einer gewählten Mehrheit von Abgeord­neten getragen – oder auch gestürzt – wird, und die Macht zu großen Teilen beim Regie­rungschef liegt und eben nicht vom Präsidenten.

Gleich­zeitig müssen sie die nackten Zahlen der Wahler­geb­nisse aufar­beiten und daraus mögliche Szenarien ableiten, um den Bürgern einen Ausblick darauf zu geben, was jetzt passieren wird. Oder auch nicht passieren wird. Keine einfache Übung: sowohl für die Journa­listen als auch für die Wähler sind ein entmach­teter Präsident und eine Natio­nal­ver­sammlung ohne erkennbare Mehrheit echtes Neuland.

Die Zahlen

Tatsächlich sind die Ergeb­nisse schwierig zu lesen, insbe­sondere aus deutscher Sicht. Hier ist man, anders als in Frank­reich, an ein propor­tio­nales Wahlrecht gewöhnt. Dass der Rassem­blement National mit seinen Alliierten trotz zehn Millionen Wählern nur auf 143 Sitze kommt, während die linke Volks­front und Macrons Bewegung „Ensemble“ mit ungefähr sieben Millionen Stimmen respektive 178 und 150 Sitze an sich reißen, ist für viele nicht nachvollziehbar.

Um das zu verstehen, ist es wichtig nachzu­voll­ziehen, dass im franzö­si­schen Mehrheits­wahl­recht 577 Wahlkreise ebenso viele Einzel­wahlen austragen, aus denen sich dann die Sitze in der Natio­nal­ver­sammlung ergeben. Im ersten Durchgang wird in der Regel nach politi­schen Überzeu­gungen gewählt. Und nur dieser erste Durchgang erlaubt es, sich ein Bild über die Kräfte­ver­hält­nisse im Land zu machen.

Bei genauerer Betrachtung der publi­zierten Ergeb­nisse zeigt sich dabei, dass sich der Rassem­blement National als stärkste Partei etabliert hat – so wie bereits bei der Europawahl am 9. Juni, aus der der RN mit 33% der Stimmen als stärkste Partei hervorging – gefolgt von der linken Volks­front mit 28% und von Macrons Zentristen, die etwas über 20% erreichten.

Im zweiten Durchgang, noch dazu bei massivem freiwil­ligem Rückzug zahlreicher Kandi­daten, sind Prozent­zahlen nicht mehr aussa­ge­kräftig. Sinn macht hier nur ein Blick auf die Sitzver­teilung – die legt heute eine Konso­li­dierung der sich seit Jahren abzeich­nenden Dreiteilung der franzö­si­schen Partei­en­land­schaft nahe. In dieser Konfi­gu­ration stehen sich „links“ und „rechts“ gegenüber – eine Termi­no­logie, die im Übrigen von der ersten franzö­si­schen Natio­nal­ver­sammlung 1789 erfunden wurde. Beide Lager werden heute von radikalen Stimmen dominiert. Dazwi­schen kämpft eine bürgerlich-liberale Mitte, deren Spielraum zunehmend einge­schränkt ist, um ihr Überleben.

Die Akteure

Auf eine solche Konstel­lation, die vom Mehrheits­wahl­recht durch aggressive Wahlkämpfe ganz auf Konfron­tation ausge­richtet ist, ist die Republik nicht vorbe­reitet. Wie darin einer wie auch immer geformten Regierung das Vertrauen ausge­sprochen werden soll, weiß niemand. Und Mehrheiten für einzelne Geset­zes­vor­lagen zu finden, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Es sei denn, die politische Klasse Frank­reichs unter­zieht sich tatsächlich einem Minimum an Selbst­kritik und nähert sich zaghaft der Option einer breiten Koalition, die notwen­di­ger­weise eine Anzahl an Kompro­missen und wechsel­sei­tigen Zugeständ­nissen nach sich ziehen würde. Wie schmerzhaft ein solcher Schritt für die betrof­fenen Akteure ist, können die koali­ti­ons­er­probten Nachbarn in Deutschland, Belgien, Spanien oder den Nieder­landen kaum nachvollziehen.

Natürlich sind franzö­sische Politiker nicht von Natur aus unfähig zum Kompromiss. In Brüssel und Straßburg lässt sich das gut belegen: dort arbeiten franzö­sische Abgeordnete, die sich gerade noch in den natio­nalen Medien vehement gegen­seitig beleidigt haben, respektvoll zusammen. Im Pariser Mikro­kosmos hingegen sind sie Getriebene eines Systems. Dieses wurde 1958 ganz auf den aus dem Vorru­he­stand zurück­ge­holten Charles de Gaulle zugeschnitten, um eine schwere Krise zu meistern, mit dem Haupt­an­liegen der „Regier­barkeit“. In einer fragmen­tierten, polari­sierten und teilweise stark radika­li­sierten Politik­land­schaft funktio­niert dieses System nicht mehr. Und es gilt dennoch als unantastbar.

Was von den handelnden Akteuren im Juli 2024 verlangt wird, ist ein Akt der Emanzi­pation von ihrer politi­schen Sozia­li­sierung. Wie schwer ihnen das fallen wird, darf nicht unter­schätzt werden. „Wir werden wohl Dinge tun müssen, die noch keiner gemacht hat.“ Mit diesem simplen, aber treffenden Satz brachte die Vorsit­zende der franzö­si­schen Grünen, Marine Tondelier, die Dinge letzte Woche sehr präzise auf den Punkt. Es wird viel Mut, Pragmatik, und Offenheit brauchen – Quali­täten, die in den Fluren der Assemblée Nationale nicht im Überfluss vorhanden sind.

Die Szenarien

Die erste Heraus­for­derung wird sein, dem Präsi­denten jetzt einen Regie­rungschef vorzu­schlagen, der von einer Mehrheit als akzep­table Persön­lichkeit gesehen wird und nicht gleich bei seinen Antritt von einem Misstrau­ens­votum nach Hause geschickt wird.

Emmanuel Macron wird voraus­sichtlich erst einmal auf Zeit spielen, und die Organi­sation der Olympi­schen Spiele (26. Juli-11. August) liefert ihm einen Vorwand, um die aktuelle Regierung ziemlich unver­ändert für ein paar Wochen im Amt zu lassen.

Angesichts des überra­schenden Sieges der Volks­front wäre es eigentlich angebracht, eine angesehene Persön­lichkeit aus dem linken Lager mit der Regie­rungs­bildung zu beauf­tragen. Dort werden aller­dings schon rote Linien gezogen, insbe­sondere von Jean-Luc Mélenchon bei seiner Stellung­nahme – eine knappe Viertel­stunde nach Bekannt­werden der ersten Resultate. Er schien in eine Paral­lelwelt abgedriftet, meinte er doch, mit seiner „France Insoumise“ (78 Sitze) eine Art Plebiszit zum Regieren per Dekret erhalten zu haben. Dabei hat seine ganz auf Konfron­tation ausge­richtete Rhetorik die Atmosphäre in der Natio­nal­ver­sammlung während der letzten zwei Jahre nachhaltig vergiftet. Gleich­zeitig ist es absurd, anzunehmen, das absolut nicht mehrheits­fähige Programm der Linken ohne Koali­ti­ons­partner durch­boxen zu können.

Realis­tisch gesehen kann das Ziel der Regier­barkeit nur erreicht werden, wenn die hastig zusam­men­ge­flickte Volks­front ausein­an­der­bricht und sich die rekon­va­les­zenten Sozia­listen, die Grünen, und womöglich die Kommu­nisten Zwang antun – um mit einer breiten Mehrheit an einem Kompro­miss­pro­gramm zu arbeiten.

Selbst dann wäre es nicht einfach, eine Persön­lichkeit aus der Zivil­ge­sell­schaft zu finden, die mit der Formierung einer Koalition betraut werden könnte. Die Wahrschein­lichkeit wäre hoch, dass jede eventuelle Kandi­datin sofort von einer Gruppierung als rotes Tuch delegi­ti­miert würde. Aus gutem Grund hält man sich im Elysée im Moment noch mit Vorschlägen zurück.

Oder kommt es anders und Emmanuel Macron wird tatsächlich eine auf zwölf Monate begrenzte Exper­ten­re­gierung aufstellen? Gefolgt von neuer­lichen Wahlen? Theore­tisch steht ihm die Option offen, wobei ihm natürlich klar ist, dass dies keine dauer­hafte Lösung ist. Aber vielleicht hat er ja Gefallen daran gefunden, sein Ego über das Wohl der Republik zu stellen und mit den Insti­tu­tionen zu spielen. Wundern würde man sich nicht mehr.

 Die Zukunft

Obwohl man eine Wendung zum Guten nicht ganz ausschließen möchte, wird sich die Agonie der Fünften Republik aller Voraus­sicht nach verlängern. Selbst die kurzfristig unwahr­schein­liche Einführung des Propor­tio­nal­wahl­rechts würde angesichts der aktuellen Kräfte­ver­hält­nisse die Chancen der Regier­barkeit nicht erhöhen.

Gut möglich, dass sich der Rassem­blement National als der wahre Gewinner dieser Parla­ments­wahlen heraus­stellen wird. Er wird auf jeden Fall die richtigen Lehren aus den drei überstürzten Wahlkampf­wochen ziehen. Er wird seinen Truppen die Mär von der durch das „Bündnis der Schande“ (Jordan Bardella) gestoh­lenen Wahl einimpfen. Und er wird die nötigen internen Reformen in der komfor­tablen Situation der Opposition in aller Ruhe umsetzen können.

Trotz einer zum Himmel schrei­enden program­ma­ti­schen Inkohärenz, zwei Dutzend krass inkom­pe­tenter und ganz offen rassis­ti­scher Kandi­daten sowie den vereinten Bemühungen aller anderen Parteien, hat er nur zwei Jahre nach der letzten Wahl 55 Wahlkreise dazuge­wonnen. Das ist eine Steigerung von 62,5%, und das gilt auch für die Finanzen, die ihm zur Verfügung stehen werden. Eine Niederlage sieht anders aus.

Im Moment scheint er nicht in der Lage, die Nicht­wähler mobili­sieren zu können und über die zehn Millionen Wähler hinaus­zu­kommen, die ihn jetzt nicht mehr wie früher aus Protest, sondern zunehmend aus Überzeugung unter­stützen. Die unerwartet hohe Wahlbe­tei­ligung legt nahe, dass die gemäßigten Parteien eine größere Reserve besitzen, die „im Notfall“ aktiviert werden kann.

Sie sollten sich nicht darauf verlassen. Wenn sie der wachsenden Zahl enttäuschter, verbit­terter Franzosen, die sich über das Ausein­an­der­klaffen ihrer norma­tiven kollek­tiven Selbst­wahr­nehmung und der subjektiv empfun­denen Realität empören, keine glaub­haften Perspek­tiven anbieten, kann der Punkt, an dem das Wahlver­halten kippt, schneller erreicht sein, als man sich ausge­rechnet hätte.

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