Wir dürfen die Debatte über den Frieden in der Ukraine nicht an die Populisten verlieren!

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Die Frage, welcher Frieden in der Ukraine anzustreben ist, beinhaltet auch die Frage danach, welche künftige Friedens­ordnung in ganz Europa verfolgt wird. Manuel Sarrazin warnt in seinem Policy Paper vor einer von Russland angebo­tenen Fried­hofsruhe. In seiner Analyse nennt er 13 konkrete Punkte, die dem Westen als Leitfaden für Verhand­lungen dienen sollten und die bei einem Frieden im natio­nalen deutschen und europäi­schen Interesse stehen.

Der Krieg in der Ukraine bestimmt die außen­po­li­tische Debatte in Deutschland. Dabei disku­tieren wir vor allem Bedin­gungen für einen Frieden, welche sich an von uns vermu­teten Zielen der Kriegs­par­teien orien­tieren. Es werden kaum konkrete eigene deutsche oder europäische Inter­essen für die Ausge­staltung eines Friedens formu­liert. In diese Leerstelle des Diskurses gehen die Populisten. Sie bedienen den nachvoll­zieh­baren Wunsch nach Frieden mit Vorschlägen aus der Schublade der Kreml-Propa­ganda. Nicht nur Angst oder Unwissen führen zunehmend zu einer Haltung in der Gesell­schaft, die der militä­ri­schen Unter­stützung der Ukraine skeptisch oder neutral gegen­über­steht. Es ist auch die fehlende politische Debatte über die deutschen und europäi­schen Inter­essen in diesem Krieg. Die scheinbare Irrelevanz der Ukraine für die Zukunft des Projekts Europäische Union ist dabei schlicht falsch. Tatsächlich entscheidet sich in der Ukraine, an der Peripherie Europas, die Zukunft der zentralen Gestal­tungs­in­stru­mente der EU: des europäi­schen Binnen­markts und des Europa­rechts. Die Europäische Union, mit dem Europa­recht und dem Binnen­markt in ihrem Kern, ist eine mächtige und gleich­zeitig sensible Konstruktion. Sie wird nicht nur in Brüssel, Straßburg, Berlin, Rom oder Paris verteidigt. Die Zukunft der EU im globalen Wettbewerb der Systeme entscheidet sich maßgeblich in der Ukraine. In der Ukraine entscheidet sich also, ob Demokratie der Heraus­for­derung durch autoritäre Systeme gewachsen ist.

Ein ehrlicher Diskurs muss versuchen, das tatsäch­liche Dilemma der ukrai­ni­schen Gesell­schaft zu erklären und gleich­zeitig Alter­na­tiven zu dem Friedens­diskurs der kreml­treuen Populisten aufzu­zeigen. Politik muss den Menschen hier erklären, für welches Ziel und für welchen Frieden wir uns finan­ziell und politisch in diesem Krieg engagieren. Und wir müssen die Gesell­schaft auf die Kosten eines Friedens vorbe­reiten. Dazu muss Europa darlegen, wie ein Frieden aussieht, der unseren Inter­essen dient. Denn leider ist nicht jeder Waffen­still­stand im Interesse des Friedens, nicht jeder Frieden im Interesse Deutsch­lands und Europas. Zudem ist zweifelhaft, ob selbst eine Verein­barung darüber auch real imple­men­tiert werden würde. Schon seit der völker­rechts­wid­rigen Annexion der Krim im Jahr 2014 gab es viele Waffen­still­stände, aber keiner wurde lange einge­halten, vor allem von der russi­schen Seite. Und am Ende stand die große russische Invasion vom Februar 2022.

Einleitung und Zusammenfassung

Gegeben­heiten eines Waffen­still­stands oder einer Friedensvereinbarung

Der Kern des russi­schen Krieges in der Ukraine ist Putins imperialer Wunsch nach Kontrolle über die Ukraine, ja sogar nach neo-kolonialer demogra­phi­scher Übernahme des Landes. Folgt ein Waffen­still­stand oder eine Friedens­ver­ein­barung auch nur annähernd der derzei­tigen Lage an der Front, wird auch deshalb danach nicht alles wieder in Ordnung sein. Es ist realis­tisch davon auszu­gehen, dass Moskau einen neuen Krieg vorbe­reiten und seine hybriden Angriffe auch auf uns verstärkt fortsetzen wird. Zudem birgt ein Verhand­lungs­er­gebnis, das die Ukraine gesell­schaftlich und politisch spaltet, weil es ihr die Perspektive auf Mitglied­schaft in EU und NATO nimmt, die Gefahr einer dauer­haften Desta­bi­li­sierung der Ukraine. Eine Regio­na­li­sierung oder ein „Syrien-Szenario“ in der Ukraine würde die Nachbar­schaft der EU dauerhaft desta­bi­li­sieren. Es ist aber auch unrea­lis­tisch zu glauben, Russland wäre in der Lage, dauerhaft in der Ukraine für Stabi­lität im Sinne eines „Pax Russki“ („Russkij Mir“) zu sorgen, selbst wenn der Westen dafür politische Gewalt, Unter­drü­ckung, ethnische und politische „Säube­rungen“ und die Missachtung des Völker­rechts schweigend in Kauf nähme. Russland wird nicht für Stabi­lität sorgen. Lassen wir es gewähren, wird nur weitere Desta­bi­li­sierung die Folge sein. Für Russland geht es in diesem Krieg ohnehin um mehr als nur die Ukraine. Putin greift das Prinzip an, dass die EU durch Annäherung und Mitglied­schaft Stabi­lität und positive Trans­for­mation schafft. Er will eine Eurasische Wirtschafts­union aufbauen. Dafür braucht er die Ukraine politisch, ideolo­gisch und ökonomisch.

Europa darf nicht erpressbar werden und muss seine Inter­essen definieren und seine Beiträge entlang dieser konditionieren

Es ist anzunehmen, dass sich ein Frieden in der Ukraine, der von Trump oder Putin bestimmt wird, nicht an europäi­schen Inter­essen ausrichten wird. Wenn es glaub­würdige Garantien für die Sicherheit der Ukraine geben soll, dann wird Europa diese nicht allein gewähr­leisten können. Vielmehr droht ein solcher Frieden, die EU erpressbar zu machen, vor allem gegenüber dem neuen US-Präsi­denten. So könnte Trump versuchen, ameri­ka­nische Wirtschafts­in­ter­essen im EU-Binnen­markt mit der Drohung durch­zu­setzen, dass er Putin nicht erneut stoppen wird. Und er könnte so auch versuchen, den wirtschafts­kräf­tigsten Binnen­markt der Welt in einen möglichen Handels­krieg mit China zu zwingen. Sollte China zudem wichtig für die nicht-nukleare Gestalt des Krieges sein, kann uns das zudem gegenüber Peking schwächen. Ein Waffen­still­stand oder eine Friedens­ver­ein­barung, welche die ganze oder Teile der Ukraine aus der Geltung des Europa­rechts mit der Anwendung der vertieften Freihan­delszone mit der EU (DCFTA) und der Reform­agenda des EU-Beitritts heraus­lösen würden, bedeuten das faktische Ende der EU-Perspektive des Landes. Dies hätte auch direkte Konse­quenzen für die Erwei­te­rungs­po­litik in Georgien, Moldau und auf dem Westbalkan.

Europa und Deutschland müssen ihre möglichen Beiträge zu einem Frieden anhand von eigenen Inter­essen kondi­tio­nieren. Europa wird den Frieden, die weitere Aufrüstung der ukrai­ni­schen Streit­kräfte und den Wieder­aufbau finan­zieren müssen. Im Gegenzug für diesen Preis muss gesichert sein, dass die Ukraine weiterhin in das Wirtschafts- und Politik­system der EU und NATO integriert wird. Mit dem ökono­mi­schen Potential des Wieder­aufbaus, mit ihrer Landwirt­schaft, ihren Rohstoffen, dem Potential für Erneu­erbare Energien und dem durch den Krieg weiter­ent­wi­ckelten techni­schen Knowhow in der Ukraine darf die Ukraine nicht – erst recht nicht finan­ziert durch uns – in den ökono­mi­schen Einfluss­be­reich Chinas oder sogar Russlands fallen. Das heißt auch, dass Europa von den ökono­mi­schen Chancen eines Friedens profi­tieren können muss. Zudem darf nicht passieren, dass Russland über eine Kontrolle von Gebieten in der Ukraine mithilfe des DCFTA de facto einen Dumping-Markt­zugang zum EU-Binnen­markt für seine Produkte bekommt, und so als Ergebnis seines Krieges z.B. im Agrar­be­reich unseren Produ­zenten ohne Einhaltung von EU-Standards Konkurrenz machen kann.

Ich bin und bleibe der Überzeugung, dass die EU und die NATO die Ukraine mit allen gebotenen Mitteln militä­risch unter­stützen müssen, um einen nachhal­tigen Frieden erreichen zu können. Aus meiner Sicht müssen wir auch die deutsche militä­rische Unter­stützung steigern. Trotzdem bleibt es eine politische Schwäche derer, die wie ich die Ukraine unter­stützen wollen, dass die Debatte über die langfris­tigen und grund­sätz­lichen Ziele und Perspek­tiven bisher nur in Exper­ten­zirkeln geführt wird. Wir müssen darüber reden, welchen Frieden wir anstreben, wie die Friedens­ordnung in Europa nach dem Krieg aussehen soll. Unsere Friedens­ehn­sucht ist zurecht groß und stark. Frieden ist in unserem Interesse, aber nicht jede Art von Frieden würde letztlich unseren Inter­essen dienen. Wenn wir wollen, dass das Angebot einer russi­schen Fried­hofsruhe in der Ukraine nicht mit einem Frieden verwechselt wird, der deutschen und europäi­schen Inter­essen dient, dann müssen wir über den Frieden reden und streiten. Jetzt!

13 ausführ­liche Punkte: Unsere Inter­essen in der Ukraine

Auf den folgenden Seiten beschreibe ich in 13 Punkten deutsche und europäische nationale Inter­essen für einen Frieden in der Ukraine. Natürlich kann ich dabei nicht auf alle wichtigen Fragen umfas­sende Antworten liefern. Aber ich möchte eine Debatte anstoßen, wie ein Frieden aussehen kann, der sowohl ukrai­ni­schen als auch deutschen und europäi­schen Inter­essen dient. Ich habe meine Überle­gungen unabhängig davon angestellt, wo in der Ostukraine in einem solchen hypothe­ti­schen Szenario eine neue mögliche Kontakt­linie oder ähnliches zu lokali­sieren wäre. Sollte ein solches Szenario eintreten, wäre diese Frage aber natürlich sehr relevant.

  1. Der Kern des russi­schen Krieges in der Ukraine ist Putins imperialer Wunsch nach Kontrolle über die Ukraine, ja sogar nach neo-kolonialer Übernahme der Ukraine. Setzt man voraus, dass russische Entschei­dungs­trä­ge­rinnen und Entschei­dungs­träger in der Lage sind, Strategien über Zeiträume von Jahrzehnten zu formu­lieren und zu imple­men­tieren, sollten wir das genozidale Potential der russi­schen Politik in der Ukraine sehr ernst nehmen. Geht man davon aus, dass Putin die Ukraine zur Wieder­her­stellung eines russi­schen Imperiums zu brauchen glaubt, dann werden Moskaus Maßnahmen in der Ukraine dauerhaft grausamer sein, als die mit denen Moskau in den Jahren 2007–2014 und 2014–2022 in der Ukraine gescheitert ist. Es kann nur um die endgültige Einglie­derung des ukrai­ni­schen Terri­to­riums gehen. Um eine Ukraine, die also nicht nur russisch kontrol­liert wird, sondern auch um das Gefühl „bereinigt“ ist ukrai­nisch zu sein. Das wird in Russland auch offen formu­liert. Deswegen wollte und will Putin die große vollum­fäng­liche Invasion vom Februar 2022, trotz aller Kosten. Schon 2014 annek­tierte Russland nicht nur die Krim und vertrieb neben den politi­schen Gegnern auch beken­nende Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer und die krim-tatarische Gemeinde. Auch in den so genannten Volks­re­pu­bliken Donezk und Luhansk setzte der Kreml von Beginn an die bekannten Instru­men­tarien einer de-facto Annexion in Gang. Pässe wurden verteilt, die politi­schen und adminis­tra­tiven Struk­turen vor Ort wurden Moskau unter­stellt, völker­rechts­widrig wurden Männer zum Kriegs­dienst gegen ihr eigenes Land gezwungen. Freie politische Meinungs­äu­ßerung oder Opposition wurden von Anfang an mit brutaler Gewalt, bis hin zu de facto stand­recht­lichen Erschie­ßungen, unter­drückt. Kurz vor der Invasion im Februar 2022 folgte die Annexion. Seitdem ist das Vorgehen in der Ukraine noch brutaler. Die russi­schen Besatzer begannen in den neu besetzten ukrai­ni­schen Gebieten umgehend mit Kriegs­ver­brechen wie in den Städten Butscha oder Irpin, Todes­listen, Folter­kammern, so genannten Lustra­tions- und Umerzie­hungs­lagern, Zwangs­um­sied­lungen und Kinderraub zu arbeiten.
  2. Folgt ein Waffen­still­stand oder eine Friedens­ver­ein­barung auch nur annähernd der derzei­tigen Lage an der Front, wird danach nicht alles wieder in Ordnung sein. Es ist realis­tisch davon auszu­gehen, dass Moskau einen neuen Krieg vorbe­reiten und seine hybriden Angriffe auch auf uns verstärkt fortsetzen wird. Mit dem derzeit russisch besetzten Terri­torium hätte weder Putin seine Ziele vom Februar 2022 in der Ukraine erreicht, noch hätte der Westen ihn erfolg­reich abgeschreckt, einen neuen Versuch zu wagen. Moskau wird den Traum eines gemein­samen Hauses Europa auch in Zukunft nicht mit der EU oder Deutschland träumen. Deswegen müssen auch Deutschland und Europa einen realpo­li­ti­schen Ansatz verfolgen. Eine inten­sivere oder vertrau­ens­volle Zusam­men­arbeit mit Russland ist auch nach einem Waffen­still­stand oder einer Friedens­ver­ein­barung unrea­lis­tisch und nicht im europäi­schen Interesse. Vielmehr ist eine realis­tische Option, dass Putin seine durch den Krieg verbes­serte militär­stra­te­gische Lage zu einem Angriff auf die Zentralukraine, Charkiw, vielleicht auch das Dnipro-Delta, Odessa und die Republik Moldau ausnutzen wird. Auch die sich häufenden Meldungen zu Zwischen­fällen im Ostseeraum weisen darauf hin, dass Putin hier die Bereit­schaft der NATO, ihre neuen Mitglieder zu vertei­digen, ernsthaft testen könnte.
  3. Ein Frieden, der die Ukraine gesell­schaftlich und politisch spaltet, weil er ihr die Perspektive auf Mitglied­schaft in EU und NATO nimmt, birgt die Gefahr einer dauer­haften Desta­bi­li­sierung der Ukraine, vielleicht sogar des Zerfalls des ukrai­ni­schen Staates. Auch das ist ein mögliches Ziel der russi­schen Agenda. Die Ukraine als insta­bilen, in sich zerris­senen oder zerfal­lenen Staat in unserer Nachbar­schaft können wir uns nicht leisten (Syrien-Szenario). Neben geostra­te­gi­schen Gründen sind neue Flucht­be­we­gungen aus der Ukraine weder im Interesse der EU noch der Ukraine selbst.
  4. Es ist unrea­lis­tisch zu glauben, Russland wäre in der Lage, dauerhaft in der Ukraine für Stabi­lität im Sinne eines „Pax Russki“ („Russkij Mir“) zu sorgen, selbst wenn der Westen dafür politische Gewalt, Unter­drü­ckung, ethnische und politische „Säube­rungen“ und die Missachtung des Völker­rechts schweigend in Kauf nähme. Dass „Russkij Mir“ nicht funktio­niert, hat nicht zuletzt die Geschichte der Ukraine bewiesen. Schauen wir zurück: Wenige Jahre nach der „Orangenen Revolution“ des Maidan von 2004 kam in demokra­ti­schen Wahlen eine pro-russische Regierung in Kyjiw an die Macht, die ökono­mische Assoziation mit der EU versprach und über den EU-Beitritt verhandeln wollte. Selbst Putin sprach damals vom Ziel der Ukraine in der EU. Doch schon bald verband das Regime Januko­witsch seine Herrschaft mit zunehmend autori­tären Elementen einer gelenkten Demokratie. Wieder nur wenige Jahre später versuchten dieselben Akteure, die Ukraine in die eurasische Wirtschafts­union zu drängen und sie finan­ziell komplett an den Kreml zu binden. Dafür wurden die Verträge mit der EU auf Eis gelegt und eine neue Kredit­ver­ein­barung mit Russland geschlossen, die das Land komplett dem Kreml ausliefern sollte. Um das durch­zu­setzen, wurde die Demokratie im Januar 2014 bis zur „Revolution der Würde“ auf dem Maidan Ende Februar 2014 abgeschafft. Dass der „Russkij Mir“ schnell auch eine russische Fried­hofsruhe ohne Stabi­lität werden kann, war zuletzt in Syrien mit dem Fall des Kreml-Vasallen Bashar al-Assad deutlich sichtbar.
  5. In diesem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine. Putin greift das Prinzip an, dass die EU durch Annäherung und Mitglied­schaft Stabi­lität und positive Trans­for­mation schafft. Das Fundament dieser Ordnung ist das werte­ge­bundene Europa­recht in unserem Binnen­markt und seine Wirkung auch in unserer Nachbar­schaft. Bisher ist der EU-Markt als der größte Binnen­markt der Welt das wesent­liche standard­set­zende Instrument auf dem europäi­schen Kontinent. Das hat seit 1955 die Stabi­lität zunächst in Westeuropa gesichert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde dieses Erfolgs­prinzip mit den Erwei­te­rungen der EU auch in den Osten übertragen. Immer wurde die Superio­rität des Europa­rechts gewahrt. Voraus­setzung für diese Erfolgs­ge­schichte waren dabei die Sicher­heits­ga­rantien der NATO.
  6. Putin dagegen will eine Eurasische Wirtschafts­union aufbauen. Dafür braucht er die Ukraine politisch, ideolo­gisch und ökono­misch. Sein Modell basiert auf dem Prinzip eines ökono­mi­schen Imperia­lismus, wie ihn Moskau jahrhun­der­telang genutzt hat. Mit dem Zugriff auf strate­gische Infra­struktur, Rohstoffe, Wirtschaft, Handels­po­litik und Militär soll die Abhän­gigkeit der Vasallen erreicht werden. Russland will das sowje­tische Imperium auf unserem Kontinent ökono­misch und politisch wieder aufbauen, mithilfe eines russisch dominierten supra­na­tio­nalen Binnen­markts im Rahmen einer Eurasi­schen Wirtschafts­union. Dazu muss Moskau die Rolle des EU-Binnen­markts an den Rändern des europäi­schen Konti­nents dauerhaft schwächen. Zunächst vielleicht nur in Osteuropa, aber mit dem Ziel, diese Ordnung grund­sätzlich zu zerstören. Das russische Modell wider­spricht diametral den zentralen politi­schen und wirtschaft­lichen Prinzipien, auf denen die Grund­pfeiler der EU ruhen. Diese Modelle können Handel mitein­ander treiben, aber sie können nicht mitein­ander verschmelzen. Die Ukraine hat sich aber für den Weg in Richtung EU entschieden. Deswegen ist es auch ein Krieg um die Vorherr­schaft der europäi­schen Werte, des Europa­rechts und der Assozi­ierung mit unserem Binnen­markt. Dazu kommt, dass das russische Modell im Gegensatz zur sowje­ti­schen Zeit heute unter wachsendem Einfluss Chinas steht. Wenn wir sehen, wie sehr China der EU in ihrer unmit­tel­baren Nachbar­schaft (Westbalkan, Nahost, Sub-Sahara) geostra­te­gi­schen und ökono­mi­schen Einfluss streitig macht, hätte eine solche Entwicklung fatale Konse­quenzen für die EU. Darüber hinaus hätte dieser Einfluss­verlust der EU auf dem europäi­schen Kontinent auch massive Konse­quenzen für die europäische Rolle in der Welt, nicht zuletzt bei der global so wichtigen Frage der Agrar­ex­porte aus der Ukraine, die bisher feder­führend von der EU organi­siert werden.
  7. Ein Waffen­still­stand oder eine Friedens­ver­ein­barung, die ganze oder Teile der Ukraine aus der Geltung des Europa­rechts durch die Anwendung im Rahmen der vertieften Freihan­delszone mit der EU (DCFTA) und der Reform­agenda des EU-Beitritts heraus­lösen, bedeuten das faktische Ende der EU-Perspektive des Landes. Dieses hätte auch direkte Konse­quenzen für die Erwei­te­rungs­po­litik in Georgien, Moldau und auf dem Westbalkan. Seit dem Maidan 2004 ist klar, dass die Ukraine sich dem Europa­recht und dem EU-Binnen­markts nicht nur als Ziel des eigenen Reform­pro­zesses annähern will, sondern auch unsere Regeln und Standards schon jetzt weitgehend intern und für den Handel mit der EU akzep­tiert. Der Pfad Richtung EU wurde seit 2004 mit der Entwicklung der europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik, mit der Einführung der Östlichen Partner­schaft der EU und letztlich mit dem Abschluss der vertieften und umfas­senden Freihan­delszone (DCFTA) mit der EU nach dem Maidan 2014 einge­schlagen. Die inzwi­schen begon­nenen EU-Beitritts­ver­hand­lungen haben diesen Pfad bestätigt. Die EU kann, auch wegen des mutigen Kampfes der Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer gegen die russische Invasion, die Integration der Ukraine nicht aufgeben. Gibt die EU die Integration der Ukraine auf, zeigt sie allen Beitritts­kan­di­daten, dass diese im Krisenfall nicht auf die EU zählen können. Gerade die Angst davor, ähnlich wie im Kalten Krieg vom Westen aufge­geben zu werden (Budapest 1956, Prag 1968 etc.), ist aber die Grundlage für eine Akzeptanz und zum Teil auch die Wahler­folge pro-russi­scher Kräfte in der Region.
  8. Europa darf nicht zulassen, dass Russland über eine Kontrolle von Gebieten in der Ostukraine de facto die Möglichkeit eines Dumping-Markt­zu­gangs zum EU-Binnen­markt für seine Produkte bekommt. Im Gegensatz zur Situation in den von Russland illegal besetzten Gebieten Abchasien (in Georgien), Trans­nis­trien (in Moldau) oder dem nördlichen Teil Zyperns ist eine Teilnahme von durch Russland besetzter – und laut seiner Verfassung inzwi­schen annek­tierter – Gebiete an den derzei­tigen Freihan­dels­ab­kommen der EU mit Ukraine, Georgien und Moldau (DCFTA) absolut illuso­risch und politisch, völker­rechtlich wie auch wirtschaftlich schädlich für unsere Inter­essen. Es ist ausge­schlossen, dass Russland auf dem aus seiner Sicht russi­schen Terri­torium europäische Standards einführen, geschweige denn kontrol­lieren lassen würde. Putin hätte so einen Markt­zugang für russische Produkte in den EU-Binnen­markt erreicht, der frei von der Einhaltung der EU-Standards funktio­nieren würde. Gleich­zeitig besteht für die EU das Dilemma, dass die Nicht-Teilnahme von nach einem Waffen­still­stand oder Friedens­vertrag weiterhin russisch kontrol­lierten Gebieten am DCFTA eine faktische Teilung des Landes und damit de facto ein russi­sches Veto für einen EU-Beitritt des ganzen Landes akzeptiert.
  9. Wenn es glaub­würdige Garantien für die Sicherheit der Ukraine geben soll, dann wird Europa diese nicht allein gewähr­leisten können. 1994 garan­tierten im Budapester Memorandum die Verei­nigten Staaten von Amerika, das Verei­nigte König­reich und Russland die terri­to­riale Integrität der Ukraine. Nur diese Garantie konnte die Ukraine damals dazu bewegen, ihre Atomwaffen aufzu­geben. Schon in den 1990er-Jahren schürte Russland immer wieder Angst vor einer Übernahme der Krim. 2014 verstieß es mit dem Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Krim gegen diese Garantie, ohne ernst­hafte Folgen von Seiten der anderen Signa­tar­staaten. Auch die im so genannten Normandie-Format ausge­han­delten Minsker Verein­ba­rungen für den Umgang mit dem russi­schen Krieg im Donbass seit 2014 wurden von Russland schon vor Februar 2022 zu keinem Zeitpunkt einge­halten, sahen sie doch unter anderem immer einen Abzug russi­scher Truppen und die Wieder­ein­glie­derung der Gebiete in die Ukraine vor. All diese Verein­ba­rungen und Garantien der terri­to­rialen Integrität der Ukraine konnten die großan­ge­legte Invasion der gesamten Ukraine im Februar 2022 nicht verhindern. Vor diesem Hinter­grund ist selbst bei einer Betei­ligung europäi­scher NATO-Staaten an einer inter­na­tio­nalen Friedens­si­che­rungs­mission in der Ukraine nach einem Waffen­still­stand oder einer Friedens­ver­ein­barung klar, dass nur die Konse­quenz eines Eintritts von Garan­tie­mächten mit Nukle­ar­po­tential in einen möglichen neuen Konflikt auf Seiten der Ukraine eine effek­tivere Sicher­heits­ga­rantie als in der Vergan­genheit bedeuten kann. Gleich­zeitig ist vor dem Hinter­grund der konven­tio­nellen und nuklearen Überle­genheit Russlands gegenüber den europäi­schen NATO-Staaten aber auch klar, dass diese Garantie nur mit der verläss­lichen Bereit­schaft der USA, sich ebenfalls in diesem Szenario entschlossen zu engagieren, wirkmächtig werden kann. Dabei wird wahrscheinlich nur eine Verein­barung, das von der Ukraine kontrol­lierte ukrai­nische Terri­torium genauso zu vertei­digen wie NATO-Gebiet, eine größere abschre­ckende Wirkung entfalten als die Garantien der letzten 30 Jahre.
  10. Ein Friedens­schluss in der Ukraine, der von Trump oder Putin bestimmt wird, wird sich über europäische Inter­essen hinweg­setzen. Ein solcher Frieden droht die EU erpressbar zu machen, vor allem gegenüber dem neuen US-Präsi­denten. Wenn Putin und Trump in der Lage sind, uns einen Frieden in der Ukraine zu diktieren, wie lange noch wird die EU-Kommission dann großen ameri­ka­ni­schen IT-Konzernen wie „X“ oder Meta Zügel anlegen können? Schließlich entscheidet in Washington der Präsident über die Frage, ob ein möglicher Verstoß Russlands gegen einen verein­barten Waffen­still­stand oder eine Friedens­ver­ein­barung auch als solcher erkannt wird und was die Konse­quenzen sind. Vor dem Hinter­grund des trans­ak­tio­nalen Politik­an­satzes des neuen US-Präsi­denten ist das Szenario, dass die EU sich abhängig von einer US-Garantie über eine einge­frorene Front macht, tatsächlich erschre­ckend. Putin würde seine ursprüng­lichen Kriegs­ziele in einem solchen Friedens­sze­nario nicht erreichen, so dass der russische Appetit auf Mehr bleiben würde. Europas Frieden läge so in der Hand der Glaub­wür­digkeit der US-ameri­ka­ni­schen Abschre­ckung, konkret der Abschre­ckung durch die Drohung eines nuklearen Erstschlags bei einem neuen konven­tio­nellen Angriff Putins auf den garan­tierten Teil der Ukraine. Oder kurz gesagt: Zumindest für die nächsten vier Jahre wäre der Frieden in Europa abhängig von Trump. Kaum vorstellbar, dass Trump, Musk und andere eine solche Macht­po­sition nicht nutzen werden, um ihre ökono­mi­schen und politi­schen Inter­essen in Europa durch­zu­setzen. Und viel mehr noch mit Hilfe ihres Einflusses auf den EU-Binnen­markt ihre Inter­essen auch global zu forcieren. Seit vielen Jahren ist klar, dass die USA die Konkurrenz durch China ernst nehmen und sich ökono­misch und politisch zunehmend positio­nieren. Nach dem Scheitern einer regel­ge­bunden ökono­mi­schen Integration des so genannten Westens in einen mehr oder weniger eng gestal­teten gemein­samen Markt (TTIP) wird dennoch für die USA unter Donald Trump die Rolle des EU-Binnen­markts beim Ausbau der eigenen Markt­po­sition, auch in Bezug auf den Druck auf China, relevant sein. Das kann für die EU gefährlich werden.
  11. Sollte China zu einer Garan­tie­macht für eine Friedens­ver­ein­barung in der Ukraine befördert werden, kann das die EU und den EU-Binnen­markt zudem durch China erpressbar machen. Wenn China über den Weg der verdeckten militä­ri­schen Unter­stützung Russlands nicht nur seine ökono­mische Kontrolle in Russland ausbaut, sondern scheinbar ein Garant einer Nicht-Eskalation mit Atomwaffen in Europa wird, wie lange noch werden wir die Produkt­si­cherheit gegen die Flut von subven­tio­nierten Waren durch­setzen können? Seit vielen Jahren ist der chine­sische Wunsch klar formu­liert, über die sogenannte Seiden­straße und wachsenden globalen ökono­mi­schen Einfluss letztlich auch eine global hegemo­niale politische Rolle einzunehmen.
  12. Wir brauchen einen Friedensplan, also einen Plan welchen Frieden wir wollen. Davon hängt ab, wie man dorthin kommt. Letzteres hängt jedoch vor allem von der Lage auf dem Schlachtfeld ab. Es unrea­lis­tisch zu glauben, dass Moskau oder Kyjiw mit der derzei­tigen Lage der Front als mögliches dauer­haftes Ergebnis eines Krieges zufrieden sind oder es für die jeweilige Seite politisch vertretbar wäre, dies dauerhaft zu akzep­tieren. Deswegen wird der Wille zum Frieden abhängig sein von der Lage auf dem Schlachtfeld. Russland wird erst dann gesprächs­bereit sein, wenn es realis­tisch erscheint, dass es militä­risch ins Hinter­treffen gerät und eroberte Gebiete aufgeben muss. Es ist nicht davon auszu­gehen, dass eine Rückgabe von Terri­torium durch Russland auf dem Verhand­lungsweg ohne militä­ri­schen Druck erreichbar ist. Eine solcher Ansatz hat seit 1991 weder in Georgien, Moldau, Belarus, der Ukraine oder Aserbai­dschan funktio­niert. Deshalb ist klar, dass mit mehr militä­ri­scher Unter­stützung der Ukraine aus der EU, und damit natürlich auch aus Deutschland, die Chancen für einen besseren Frieden im Sinne europäi­scher Inter­essen steigen. Putin wird nur mit der Aussicht auf eine deutlich gestei­gerte militä­rische Unter­stützung der Ukraine dazu bereit sein, überhaupt über einen für die Ukraine – aber auch für die EU – akzep­tablen Frieden zu verhandeln.
  13. Europa und Deutschland müssen ihre Inter­essen für den Fall eines Friedens in der Ukraine definieren und ihre möglichen Beiträge anhand ihrer Inter­essen kondi­tio­nieren. Europa wird den Frieden, vor allem aber auch den Wieder­aufbau, finan­zieren müssen. Das heißt auch, dass Europa von den ökono­mi­schen Chancen eines Friedens profi­tieren können muss. Es ist davon auszu­gehen, dass ein Waffen­still­stand oder so genannter Frieden in der Ukraine entlang einer wie auch immer verlau­fenden und bezeich­neten neuen Kontakt­linie mit großen finan­zi­ellen und politi­schen Kosten verbunden sein wird. Es wird der Wieder­aufbau der zerstörten Infra­struktur im ganzen Land, der Wieder­aufbau der unter ukrai­ni­scher Kontrolle verblie­benen Städte und Industrie in der Nähe der Kontakt­linie, der Wieder­aufbau der Landwirt­schaft (inklusive Entminung), die Rückkehr und Wieder­ein­glie­derung der Flücht­linge, der Ausbau des ukrai­ni­schen Militärs für den Fall eines neuen Angriffs und der Bau viel größerer und längerer Vertei­di­gungs­stel­lungen und vieles mehr bezahlt werden müssen. Weder Russland noch China werden die finan­zielle Haupt­ver­ant­wortung für den Wieder­aufbau übernehmen, zumal in einem Szenario einer Friedens­ver­ein­barung Repara­ti­ons­zah­lungen von russi­scher Seite zwar wünschenswert, aber wenig realis­tisch sind. Auch die USA werden, nicht nur unter einem Präsi­denten Trump, die Europäer in der finan­zi­ellen Haupt­ver­ant­wortung sehen. Im Gegenzug für diesen Preis muss die EU dafür sorgen, dass die Ukraine weiterhin in das Wirtschafts- und Politik­system der EU und NATO integriert wird. Mit dem ökono­mi­schen Potential des Wieder­aufbaus, mit ihrem Agrar­po­tential, den Rohstoffen und dem durch den Krieg weiter­ent­wi­ckelten techni­schen Knowhow der Ukraine darf sie nicht – erst recht nicht finan­ziert durch uns – in den ökono­mi­schen Einfluss­be­reich Chinas oder sogar Russlands fallen. Die begonnene Anbindung der Ukraine an EU und NATO muss deshalb auch nach einem Ende des Krieges fortge­setzt werden. Das ist auch der Weg, für den eine demokra­tische Mehrheit in der Ukraine steht und an der Front kämpft. Ohne eine Fortsetzung der Westbindung ist zudem fraglich, wie attraktiv eine Rückkehr in die Ukraine für die Millionen aus den heute russisch besetzten Gebieten Geflüch­teten in der EU sein wird. Gleich­zeitig werden die europäi­schen NATO-Staaten ihre eigenen Vertei­di­gungs­aus­gaben deutlich steigern müssen, und das alles in Zeiten teurerer Rohstoffe und enger werdender finan­zi­eller Spiel­räume in der EU. Sicherlich werden weder Trump noch Putin oder Xi für die europäische Wirtschaft die Zeiten billiger fossiler Rohstoffe zurück­kehren lassen. Die EU darf die ökono­mi­schen Chancen eines Friedens, der die europäische Integration der Ukraine sichert, nicht an sich vorbei­ziehen lassen.

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