Woke, empört – und unüberlegt
Was haben die Debatten um Max Czollek gegen Maxim Biller, um Nemi El-Hassan und die Diskussion um die Finanzierung von Iron-Dome-Abwehrraketen für Israel miteinander gemeinsam? Reflexhafte Empörung, analysiert Richard C. Schneider.
Keine Sorge, ich werde und ich will hier nicht im Detail auf die Inhalte dieser „Affären“ eingehen, wenngleich ich hier doch noch mal kurz in Erinnerung bringen muss, worum es jeweils geht.
- Mac Czollek und Maxim Biller. Die beiden Autoren – und inzwischen auch viele andere – befinden sich in einer deutschen Feuilleton-Debatte, inwiefern Czollek ein Jude ist oder nicht und inwiefern Maxim Biller das Recht hat, ihm sein Jude-Sein abzusprechen. Czollek hat einen Großvater väterlicherseits, der Jude war. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, sagt, Jude ist, wer (orthodox) übergetreten ist oder eine jüdische Mutter hat. Demzufolge ist Czollek nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, kein Jude, doch er empfindet sich als solcher.
- Nemi El-Hassan arbeitet für den WDR und sollte Moderatorin einer Wissenschaftssendung werden, als die BILD und die WELT AM SONNTAG herausfanden, dass sie vor Jahren an der antisemitischen, hassgeprägten Al-Kuds Demo in Berlin teilnahm. Der Al-Kuds-Tag wurde von den Mullahs im Iran erfunden, dabei geht es um die Vernichtung Israels und die Eroberung Jerusalems („Al-Kuds“ auf Arabisch) und Hass gegen Juden. El-Hassan hat auch in jüngerer Zeit Posts geliked, die antisemitisch verstanden werden können. El-Hassan hat sich öffentlich entschuldigt und erklärt, dass sie sich schäme.
- Bei der Diskussion im US-Kongress um die Wiederauffüllung des israelischen Raketenabwehrsystems „Iron Dome“ mit einer finanziellen Unterstützung von einer Milliarde US-Dollar, hat der sogenannte „Squad“ eine kleine Gruppe von sogenannten „progressiven“ Demokraten um Ilhan Omar, Rashida Tlaib und Alexandria Ocasio-Cortez sich gegen die Finanzierung ausgesprochen.
Soweit die Kurzbeschreibung der Debatten. Doch im Grunde ist es der Auslöser egal. Es geht um die Reaktion der sogenannten „aufgeklärten“, linken, „progressiven“ und „woken“ Intelligenzia, die meint, immer auf der richtigen – und das ist natürlich die moralische – Seite der Geschichte, Politik und Diskussion zu stehen.
Bei beiden deutschen Debatten um Czollek / Biller und El-Hassan haben sich „die üblichen Verdächtigen“ aufgemacht, öffentliche Solidaritäts- und Protestbriefe zu verfassen und zu unterschreiben. Sich zu empören. Dabei sind namhafte Figuren, die sich in der Vergangenheit schon mal antisemitisch geäußert haben. Daneben auch ehrenvolle Intellektuelle, die meinen, das Richtige zu tun, ohne wahrscheinlich allzu viel darüber nachzudenken, was sie da mit ihrer Unterschrift mittragen. Und mit wem.
In der Diskussion „Wer ist Jude“ bekam Czollek diese schriftliche Unterstützung gegen Biller – überwiegend von Nichtjuden. Deniz Yücel kommentierte treffend in der Welt: „In eine solche Debatte zu zweihundertachtundsiebzigst einzumarschieren, ist in etwa so, als würde die Fans der Südtribüne nach einem Heimspiel von Borussia Dortmund geschlossen zum Bingo-Abend im Altersheim um die Ecke einfallen.“ Diese Einmischung in eine innerjüdische Diskussion ist absurd und hat etwas von dem, was man auf Englisch so schön als „patronizing“ beschreibt – Herablassung.
Von Menschen, die nichts, aber auch gar nichts von Judentum verstehen, wird Position bezogen, Czollek muss verteidigt werden, Biller wird so zum jüdischen Fundamentalisten, Czollek zum „Edeljuden“. Aus einiger Distanz heraus betrachtet, hat das etwas grotesk-komisches, wenn man nicht wüsste, dass es dabei um eine politische Haltung geht, die Czollek liebt, weil er das sagt, was die deutsche Linke gerne hören will. Der also ein „progressives“ Weltbild teilt, das man schätzen oder ablehnen kann. Und erst mal nichts mit seinem wie auch immer gearteten Judentum zu tun hat.
Doch der Reflex der woken Unterzeichner ist klar. Man weiß, auf welche Seite man sich stellen muss, selbst wenn man keine Ahnung vom eigentlichen Thema hat.
Ganz ähnlich: der Fall El-Hassan. Auch hier sofort: Solidaritätsunterschriften. Erst recht, wenn es darum geht, die junge Frau gegen die böse Springer-Presse zu verteidigen. Kein Hinterfragen, kein Abwarten, kein Überprüfen der Belege über El-Hassans Denken und Agieren. Sie hat öffentlich bereut, also ist alles Paletti. Sie ist die Verfolgte, sie ist eine PoC, also muss sie automatisch im Recht sein. Man solidarisiert sich mit ihr, hinterfragt nicht, die Argumente, Belege müssen alle falsch sein, da sie ja von „rechts“ kommen.
Um es hier klarzustellen: Der Verfasser dieser Zeilen stellt sich hier weder pro oder contra Biller oder Czollek oder El-Hassan. Die Überlegungen hier haben nichts mit den inhaltlichen Fragen der „Skandale“ zu tun, sondern nur mit einer inzwischen fast schon automatischen Reaktion von „Progressiven“, insbesondere wenn es um Jüdisches oder um Israel geht, die Welt in Gut und Böse einzuteilen und gar nicht mehr wissen oder analysieren zu wollen, was denn nun jeweils Fakt ist. Es geht also im Grunde um einen Verfall diskursiver Sitten im Namen „fortschrittlichen Denkens“.
Ganz ähnlich die Reaktion beim „Squad“, also bei jenen „Progressiven“ der US-Demokraten, die ganz besonders kritisch gegenüber Israel sind, was sie selbstverständlich sein dürfen. Die offiziellen Gründe, warum diese Kongressfrauen und ‑männer die Finanzierung ablehnten, waren formaljuristische. Aber als diese beseitigt waren und es zu einer neuen, anderen Abstimmung zum selben Thema und derselben Summe kam, wurde erneut mit „Nein“ gestimmt, lediglich Ocasio-Cortez stimmte mit „anwesend“ und zog sich damit aus der Affäre. Jeder weiß, dass es im Grunde eine Entscheidung gegen Israel war. Das ist legitim und zulässig.
Doch auch hier war die Entscheidung eine nur scheinbar „moralische“. Es geht um ein reines Abwehrsystem, das den Tod (israelischer) Zivilisten verhindert. Aber sind Zivilisten nicht Zivilisten? Egal, ob israelisch oder palästinensisch? Oder gibt es Zivilisten, die sterben „dürfen“, andere aber nicht? Ist das die neue „woke“ Moral dieser Kongressabgeordneten? Und es geht noch einen Schritt weiter. Anshel Pfeffer, Journalist bei der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Haaretz“, machte darauf aufmerksam, dass „Iron Dome“ im Grunde noch viel mehr palästinensische Zivilisten schützt als israelische. Denn die Tatsache, dass in Kriegen oder militärischen Auseinandersetzungen so gut wie keine Israelis sterben, gibt der israelischen Regierung Raum zu manövrieren. Man muss nicht sofort mit großer Gewalt zurückschlagen, was geradezu automatisch geschehen würde, wenn eine islamistische Rakete zehn, zwölf oder noch mehr israelische Zivilisten töten würde. Dann wäre die Regierung in Jerusalem in Zugzwang. Und das würde noch mehr Palästinensern das Leben kosten, als dies in viele Kämpfen sowieso schon der Fall ist.
Es würde sich für all die Empörten lohnen, ein Urteil erst nach genauer Abwägung von Für und Wider abzugeben. Selbstverständlich gilt das auch für die andere Seite. Vorverurteilungen und Hetzkampagnen sind ebenso unerträglich wie die woken „Reflexe“, die am Ende nichts mit den eigentlichen Debatten zu tun haben. Was man sich nur wünschen kann: dass beide Seiten ernst und hart in der Sache miteinander diskutieren würden. Dass Argumente, Belege und Einschätzungen gehört und bedacht werden. Dass man verantwortlich vorgeht und sein eigenes Weltbild auch mal hinterfragt. Der alte lateinische Spruch gilt auch heute noch: si tacuisses, philosophus mansisses!
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