Kein Ende der „Geschichte des Westens“

Heinrich August Winkler
Foto: By blu-news.org [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Heinrich August Winklers Chronik der laufenden Ereignisse.

Der Histo­riker hat eine neue Perspektive auf die Geschichte Deutsch­lands eröffnet, indem er sie in Bezug zur Geschichte des Westens setzt. Seine Metapher des „langen Wegs nach Westen“ wurde zum geflü­gelten Wort. Jetzt, da die Bundes­re­publik nach allen Irr- und Sonder­wegen endlich im Westen verankert ist, gerät das ganze Konstrukt ins Schwanken. Mit dem BREXIT, der Wahl Donald Trumps und dem Aufkommen antili­be­raler Kräfte in Europa wird der Westen als Idee und politische Handlungs­ge­mein­schaft von innen heraus infrage gestellt. Darauf hat Prof. Winkler mit einem neuen Buch geant­wortet: „Zerbricht der Westen?“ Joscha Schmierer stellt das Werk vor. Die Antwort bleibt offen. Wir wissen nicht, ob die Entfremdung zwischen den USA, Großbri­tannien und Westeuropa von Dauer sein wird. Wir können die Dinge aller­dings beein­flussen, indem wir für oder gegen die trans­at­lan­tische Bindung Deutsch­lands und Europas arbeiten. Die Ausein­an­der­setzung um die Zukunft des Westens ist neu eröffnet.

Nach einer strit­tigen Livedis­kussion im Rundfunk über die Beitritts­per­spektive der Türkei zur Europäi­schen Union machte sich Hans Ulrich Wehler im privaten Plausch darüber lustig, dass die anderen deutschen Großhis­to­riker nach seiner fünfbän­digen deutschen Gesell­schafts­ge­schichte sich veran­lasst fühlten, ebenfalls fünf Bände ihrer Geschichten vorzulegen.

Nun hat Heinrich August Winkler seiner vierbän­digen „Geschichte des Westens“ eine Zugabe nachge­reicht, die man als fünften Band zählen kann. Im Titel fragt er „Zerbricht der Westen?“ Er ist nicht der erste, der sich diese Frage stellt. Vom „Ende des Westens“ handelten nach 1989 schon viele Artikel und Bücher, nicht immer mit einem Frage­zeichen versehen. Aber nach Abschluss eines „schon jetzt klassi­schen zu nennende Werkes“, wie der Verlag seinerzeit den vierten Band ankün­digte, konnte es Winkler dabei nicht belassen.

Normen als Projekt und im Prozess

Winkler versteht die Geschichte des Westens als Heraus­bildung eines „norma­tiven Projekts“, das in den trans­at­lan­ti­schen Revolu­tionen von 1776 und 1789 mit ihren Menschen­rechts­er­klä­rungen prokla­miert worden sei. Wenn man die weitere Geschichte des Westens dann wie er als eine Geschichte der Abwei­chungen und Annähe­rungen an das normative Projekt begreift, erscheint sie als „norma­tiver Prozess“. Der hat das Zeug zu einer unend­lichen Geschichte. Die revolu­tio­nären Prokla­ma­tionen verweisen auf den unwan­del­baren Ideen­himmel des Westens, seine reale Geschichte erscheint als stetes, stets vom Scheiten bedrohtes Streben, den Ideen­himmel auf die Erde zu holen. Weltweit dem Anspruch nach, aber dann müsste die Geschichte des Westens als Global­ge­schichte geschrieben werden.

Winkler beschreibt im Vorwort des vierten Bandes sein Vorgehen: „Die Geschichte des Okzidents in den zweihundert Jahren zwischen den magischen Jahren 1789 und 1989 war nicht nur, aber zu wesent­lichen Teilen eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Mensch­heits­ideen, die das Erbe von 1776 und 1789 ausmachen. Dies ist der erste von drei Gesichts­punkten, von denen ich in meiner  Darstellung ausgehe. Ich betrachte die Geschichte des Westens aber auch, zweitens, als eine Geschichte der Verstöße gegen die eigenen Werte und drittens als eine Geschichte der perma­nenten Selbst­kor­rektur oder einer produk­tiven Selbstkritik.“

Cover Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen?
Cover-Foto: Verlag C.H.Beck

Die exter­mi­nis­tische Tendenz, die dem in letzter Instanz immer moralisch begrün­deten europäi­schen Expan­sio­nismus innewohnte, verschwindet da in inner­west­lichen Kontro­versen. Die traurige Wahrheit ist, dass die Prokla­mation der Menschen­rechte den Prokla­ma­teuren lange Zeit die Entscheidung anheim­stellte, wer denn überhaupt als Mensch zu gelten habe. Der Prozess der Univer­sa­li­sierung der Menschen­rechte war und ist immer noch vor allem Rebellion der Ausge­schlos­senen, insofern gerade keine exklusive Geschichte des Westens.

Von der Ausnahmezeit…

Die von Winkler genannten Gesichts­punkte mag man teilen und sympa­thisch finden, sie reichen aber kaum aus, um die Titel­frage seines neuen Buchs, in dem die „gegen­wärtige Krise in Europa und Amerika“ thema­ti­siert wird, zu beant­worten: Zerbricht der Westen? Diese Frage entspringt nicht einer Jahrhun­derte langen Geschichte des Westens, sondern dem Ende der politi­schen Konstel­lation des Kalten Krieges, die Winkler zu Recht als eine „Ausnah­mezeit“ bezeichnet: „Nie zuvor hatte der trans­at­lan­tische Westen so etwas wie eine politische Einheit gebildet; nie war er als handelndes Subjekt aufge­treten. Die Ost-West-Konfron­tation seit 1947 führte Westeuropa und die nordame­ri­ka­ni­schen Demokratien, die USA und Kanada, so eng zusammen wie noch nie zuvor.“

Das heißt vor allem, dass in dieser „Ausnah­mezeit“ ideelle oder Ideolo­gische Gegen­sätze sich mit geopo­li­ti­schen Gegen­sätzen weitgehend zu decken schienen. Daran, dass das heute nicht mehr so ist, droht der Westen zu zerbröseln. Der sich verschär­fende Konflikt zwischen „illibe­raler Demokratie“ (Orbans Begriff, könnte aber auch von Putin stammen) und demokra­ti­scher Republik (orien­tiert an Kant) verläuft global, nicht zuletzt aber auch innerhalb des Westens. Von vulgären Mächte­kon­flikten und ‑intrigen bleibt er ohnehin nicht verschont.

… in eine Zeit der Zerreißproben

In Winklers jüngstem „Beitrag zur Ortsbe­stimmung der Gegenwart“ tauchen im Unter­titel nicht zufällig die USA und Europa als eigene Größen auf.  Vielleicht war Winklers Geschichte des Westens von Anfang an von der „Ausnah­mezeit“ des globalen Ost-Westkon­flikts geprägt. Die Verklärung und Verding­li­chung des Westens entspringt einer Situation, in der „der Westen“ selbst als Ausnahme erschien. Wie erklärt sich seine Sonder­stellung, wie erklärt sich sein Vorrang? Das beschäf­tigte einen ganzen Forschungszweig.

Winklers Geschichts­schreibung ist eine Mischung aus Ideen- und politi­scher Ereig­nis­ge­schichte. Die Ideen­ge­schichte bildet den Horizont, die Erzählung wird zur Chronik der laufenden Ereig­nisse. Im jetzigen Buch bilden nun nicht mehr der Kampf um Ideen und Werte das Gerüst, sondern die Ereig­nisse selbst: Finanz­krise, Währungs- und Griechen­land­krise, Flücht­lings­krise, Türkeikrise und Brexit. Trump. Aus der Ausnah­mezeit ist eine „Zeit der Zerreiß­proben“ geworden. Der Histo­riker als Chronist hat Journa­listen und anderen Beobachtern keine Quellen­kenntnis voraus, sondern nur den besseren Überblick über den Zeitverlauf. Er schreibt nicht von Tag zu Tag, sondern im Abstand von zwei Jahren. Seine Quellen bleiben neben Reden und öffent­lichen Dokumenten im Wesent­lichen journa­lis­tische Zeugnisse, Repor­tagen und Inter­views. Die Chronik ist gehobener Journalismus.

Im Versuch, einen Überblick über die krisen­haften Entwick­lungen der letzten Jahre zu verschaffen, liegt die Stärke des Buches. Es ist aber eher eine journa­lis­tische als eine histo­rische Stärke. Viele Urteile sind eher politische Kommentare, so wenn Winkler das geläufige Vorurteil über die Währungs­union als „Fehlkon­struktion“ weiter­schreibt. Die Währungs­union ist über Verein­ba­rungen unter Staaten nicht hinaus­ge­kommen, ihr Erfolg hing also von der Zuver­läs­sigkeit der Staaten ab, die die Verein­ba­rungen getroffen hatten. Die Schwie­rig­keiten entsprangen nicht der Konstruktion der Währungs­union, sondern einer verfehlten Politik etlicher betei­ligten Staaten. Wer wie Winkler davon auszu­gehen scheint, dass die EU den Gründungs­cha­rakter einer Staaten­union nicht abstreifen kann, muss ja wissen, dass ihr Erfolg trotz aller gegen­sei­tigen Hilfe vom guten Regieren ihrer Mitglied­staaten abhängt.

Räume des Westens…

Indem Winkler von Europa und den USA spricht und nicht mehr schlicht vom Westen, müssten in seine „Ortsbe­stimmung der Gegenwart“ nicht nur Werte, sondern auch Räume eingehen, in denen sich Inter­essen zu politi­schem Handeln formieren und mit Werten vermitteln können. Der „Westen“ ist anders als in der „Ausnah­mezeit“ in der „Zeit der Zerreiß­proben“ dafür nicht unbedingt der ideale Raum. Nicht nur wegen Trump. Für die EU wird es darauf ankommen, wie sich Westeuropa mit Mittel- und Osteuropa zurecht­findet. Und umgekehrt. Wahrscheinlich werden die USA dabei keine große Hilfe sein. Vielleicht aber Kanada? Positive Ergeb­nisse des Hamburger G 20 – Gipfels gehen für Winkler weithin „auf die gemein­samen Anstren­gungen der drei maßgeb­lichen Protago­nisten der liberalen westlichen Demokratie zurück: der deutschen Bundes­kanz­lerin Angela Merkel, des franzö­si­schen Staats­prä­si­denten Emmanuel Macron und des kanadi­schen Premier­mi­nisters Justin Trudeau. Die Dreier­gruppe bildete in Hamburg so etwas wie ein progres­sives Kraft­zentrum.“ Eine neue Geschichte des Westens? Oder nur eine Variante, die trans­at­lan­ti­schen Diffe­renzen zu überspringen?


Heinrich August Winkler, Zerbricht der Westen. Über die gegen­wärtige Krise in Europa und Amerika, C. H. Beck Verlag (493 S., 24,95 Euro).

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