Kein Ende der „Geschichte des Westens“
Heinrich August Winklers Chronik der laufenden Ereignisse.
Der Historiker hat eine neue Perspektive auf die Geschichte Deutschlands eröffnet, indem er sie in Bezug zur Geschichte des Westens setzt. Seine Metapher des „langen Wegs nach Westen“ wurde zum geflügelten Wort. Jetzt, da die Bundesrepublik nach allen Irr- und Sonderwegen endlich im Westen verankert ist, gerät das ganze Konstrukt ins Schwanken. Mit dem BREXIT, der Wahl Donald Trumps und dem Aufkommen antiliberaler Kräfte in Europa wird der Westen als Idee und politische Handlungsgemeinschaft von innen heraus infrage gestellt. Darauf hat Prof. Winkler mit einem neuen Buch geantwortet: „Zerbricht der Westen?“ Joscha Schmierer stellt das Werk vor. Die Antwort bleibt offen. Wir wissen nicht, ob die Entfremdung zwischen den USA, Großbritannien und Westeuropa von Dauer sein wird. Wir können die Dinge allerdings beeinflussen, indem wir für oder gegen die transatlantische Bindung Deutschlands und Europas arbeiten. Die Auseinandersetzung um die Zukunft des Westens ist neu eröffnet.
Nach einer strittigen Livediskussion im Rundfunk über die Beitrittsperspektive der Türkei zur Europäischen Union machte sich Hans Ulrich Wehler im privaten Plausch darüber lustig, dass die anderen deutschen Großhistoriker nach seiner fünfbändigen deutschen Gesellschaftsgeschichte sich veranlasst fühlten, ebenfalls fünf Bände ihrer Geschichten vorzulegen.
Nun hat Heinrich August Winkler seiner vierbändigen „Geschichte des Westens“ eine Zugabe nachgereicht, die man als fünften Band zählen kann. Im Titel fragt er „Zerbricht der Westen?“ Er ist nicht der erste, der sich diese Frage stellt. Vom „Ende des Westens“ handelten nach 1989 schon viele Artikel und Bücher, nicht immer mit einem Fragezeichen versehen. Aber nach Abschluss eines „schon jetzt klassischen zu nennende Werkes“, wie der Verlag seinerzeit den vierten Band ankündigte, konnte es Winkler dabei nicht belassen.
Normen als Projekt und im Prozess
Winkler versteht die Geschichte des Westens als Herausbildung eines „normativen Projekts“, das in den transatlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 mit ihren Menschenrechtserklärungen proklamiert worden sei. Wenn man die weitere Geschichte des Westens dann wie er als eine Geschichte der Abweichungen und Annäherungen an das normative Projekt begreift, erscheint sie als „normativer Prozess“. Der hat das Zeug zu einer unendlichen Geschichte. Die revolutionären Proklamationen verweisen auf den unwandelbaren Ideenhimmel des Westens, seine reale Geschichte erscheint als stetes, stets vom Scheiten bedrohtes Streben, den Ideenhimmel auf die Erde zu holen. Weltweit dem Anspruch nach, aber dann müsste die Geschichte des Westens als Globalgeschichte geschrieben werden.
Winkler beschreibt im Vorwort des vierten Bandes sein Vorgehen: „Die Geschichte des Okzidents in den zweihundert Jahren zwischen den magischen Jahren 1789 und 1989 war nicht nur, aber zu wesentlichen Teilen eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Menschheitsideen, die das Erbe von 1776 und 1789 ausmachen. Dies ist der erste von drei Gesichtspunkten, von denen ich in meiner Darstellung ausgehe. Ich betrachte die Geschichte des Westens aber auch, zweitens, als eine Geschichte der Verstöße gegen die eigenen Werte und drittens als eine Geschichte der permanenten Selbstkorrektur oder einer produktiven Selbstkritik.“
Die exterministische Tendenz, die dem in letzter Instanz immer moralisch begründeten europäischen Expansionismus innewohnte, verschwindet da in innerwestlichen Kontroversen. Die traurige Wahrheit ist, dass die Proklamation der Menschenrechte den Proklamateuren lange Zeit die Entscheidung anheimstellte, wer denn überhaupt als Mensch zu gelten habe. Der Prozess der Universalisierung der Menschenrechte war und ist immer noch vor allem Rebellion der Ausgeschlossenen, insofern gerade keine exklusive Geschichte des Westens.
Von der Ausnahmezeit…
Die von Winkler genannten Gesichtspunkte mag man teilen und sympathisch finden, sie reichen aber kaum aus, um die Titelfrage seines neuen Buchs, in dem die „gegenwärtige Krise in Europa und Amerika“ thematisiert wird, zu beantworten: Zerbricht der Westen? Diese Frage entspringt nicht einer Jahrhunderte langen Geschichte des Westens, sondern dem Ende der politischen Konstellation des Kalten Krieges, die Winkler zu Recht als eine „Ausnahmezeit“ bezeichnet: „Nie zuvor hatte der transatlantische Westen so etwas wie eine politische Einheit gebildet; nie war er als handelndes Subjekt aufgetreten. Die Ost-West-Konfrontation seit 1947 führte Westeuropa und die nordamerikanischen Demokratien, die USA und Kanada, so eng zusammen wie noch nie zuvor.“
Das heißt vor allem, dass in dieser „Ausnahmezeit“ ideelle oder Ideologische Gegensätze sich mit geopolitischen Gegensätzen weitgehend zu decken schienen. Daran, dass das heute nicht mehr so ist, droht der Westen zu zerbröseln. Der sich verschärfende Konflikt zwischen „illiberaler Demokratie“ (Orbans Begriff, könnte aber auch von Putin stammen) und demokratischer Republik (orientiert an Kant) verläuft global, nicht zuletzt aber auch innerhalb des Westens. Von vulgären Mächtekonflikten und ‑intrigen bleibt er ohnehin nicht verschont.
… in eine Zeit der Zerreißproben
In Winklers jüngstem „Beitrag zur Ortsbestimmung der Gegenwart“ tauchen im Untertitel nicht zufällig die USA und Europa als eigene Größen auf. Vielleicht war Winklers Geschichte des Westens von Anfang an von der „Ausnahmezeit“ des globalen Ost-Westkonflikts geprägt. Die Verklärung und Verdinglichung des Westens entspringt einer Situation, in der „der Westen“ selbst als Ausnahme erschien. Wie erklärt sich seine Sonderstellung, wie erklärt sich sein Vorrang? Das beschäftigte einen ganzen Forschungszweig.
Winklers Geschichtsschreibung ist eine Mischung aus Ideen- und politischer Ereignisgeschichte. Die Ideengeschichte bildet den Horizont, die Erzählung wird zur Chronik der laufenden Ereignisse. Im jetzigen Buch bilden nun nicht mehr der Kampf um Ideen und Werte das Gerüst, sondern die Ereignisse selbst: Finanzkrise, Währungs- und Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Türkeikrise und Brexit. Trump. Aus der Ausnahmezeit ist eine „Zeit der Zerreißproben“ geworden. Der Historiker als Chronist hat Journalisten und anderen Beobachtern keine Quellenkenntnis voraus, sondern nur den besseren Überblick über den Zeitverlauf. Er schreibt nicht von Tag zu Tag, sondern im Abstand von zwei Jahren. Seine Quellen bleiben neben Reden und öffentlichen Dokumenten im Wesentlichen journalistische Zeugnisse, Reportagen und Interviews. Die Chronik ist gehobener Journalismus.
Im Versuch, einen Überblick über die krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre zu verschaffen, liegt die Stärke des Buches. Es ist aber eher eine journalistische als eine historische Stärke. Viele Urteile sind eher politische Kommentare, so wenn Winkler das geläufige Vorurteil über die Währungsunion als „Fehlkonstruktion“ weiterschreibt. Die Währungsunion ist über Vereinbarungen unter Staaten nicht hinausgekommen, ihr Erfolg hing also von der Zuverlässigkeit der Staaten ab, die die Vereinbarungen getroffen hatten. Die Schwierigkeiten entsprangen nicht der Konstruktion der Währungsunion, sondern einer verfehlten Politik etlicher beteiligten Staaten. Wer wie Winkler davon auszugehen scheint, dass die EU den Gründungscharakter einer Staatenunion nicht abstreifen kann, muss ja wissen, dass ihr Erfolg trotz aller gegenseitigen Hilfe vom guten Regieren ihrer Mitgliedstaaten abhängt.
Räume des Westens…
Indem Winkler von Europa und den USA spricht und nicht mehr schlicht vom Westen, müssten in seine „Ortsbestimmung der Gegenwart“ nicht nur Werte, sondern auch Räume eingehen, in denen sich Interessen zu politischem Handeln formieren und mit Werten vermitteln können. Der „Westen“ ist anders als in der „Ausnahmezeit“ in der „Zeit der Zerreißproben“ dafür nicht unbedingt der ideale Raum. Nicht nur wegen Trump. Für die EU wird es darauf ankommen, wie sich Westeuropa mit Mittel- und Osteuropa zurechtfindet. Und umgekehrt. Wahrscheinlich werden die USA dabei keine große Hilfe sein. Vielleicht aber Kanada? Positive Ergebnisse des Hamburger G 20 – Gipfels gehen für Winkler weithin „auf die gemeinsamen Anstrengungen der drei maßgeblichen Protagonisten der liberalen westlichen Demokratie zurück: der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und des kanadischen Premierministers Justin Trudeau. Die Dreiergruppe bildete in Hamburg so etwas wie ein progressives Kraftzentrum.“ Eine neue Geschichte des Westens? Oder nur eine Variante, die transatlantischen Differenzen zu überspringen?
Heinrich August Winkler, Zerbricht der Westen. Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika, C. H. Beck Verlag (493 S., 24,95 Euro).
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