Moderne Freiheit

Quelle: Flickr/​UK Parliament

Karen Horn erinnert an einen verges­senen Vordenker der Freiheit und arbeitet den Wider­spruch heraus, in dem sich ein moderner Libera­lismus bewegt: die Spannung zwischen Begrenzung der Staats­tä­tigkeit und ihrer Anerkennung als notwendige Bedingung der Freiheit aller. Die Partei­en­kon­kurrenz um die Wähler­gunst und die zahlreichen Inter­es­sen­gruppen, die in einer plura­lis­ti­schen Demokratie für ihre Anliegen kämpfen, führen zur perma­nenten Ausweitung der staat­lichen Sphäre. Das gefährdet den Raum indivi­du­eller Autonomie und markt­wirt­schaft­licher Selbst­or­ga­ni­sation. Zugleich braucht eine freiheit­liche Gesell­schaft öffent­liche Insti­tu­tionen zur Regelung ihrer gemein­schaft­lichen Angele­gen­heiten. Subsi­dia­rität und demokra­tische Parti­zi­pation sind zwei komple­mentäre Prinzipien, mit diesem Wider­spruch produktiv umzugehen.

Da wir in der modernen Zeit leben,
will ich auch eine Freiheit,
die zu eben dieser Zeit paßt.
– Benjamin Constant (1819)

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland schätzt den Wert der Freiheit und fühlt sich frei. So beruhigend dieser Umfra­ge­befund auch erscheinen mag, so wenig kann man mit ihm konkret anfangen: Die Vorstel­lungen darüber, worin Freiheit besteht, gehen weit ausein­ander. Für manche Leute hat Freiheit mehr mit ihren realen materi­ellen Möglich­keiten zu tun als mit ihren bürger­lichen Rechten, die sie als gesichert betrachten; für andere ist sie mehr das Ergebnis innerer, geistiger Anstren­gungen als äußerer, politisch beein­fluss­barer Bedin­gungen. Solche Anschau­ungen mögen zwar den konzep­tio­nellen Ansprüchen der politi­schen Philo­sophie nicht genügen, welche die „positive“ Freiheit „wozu“ von der „negativen“ Freiheit im Sinne eines indivi­du­ellen Abwehr­rechts unter­scheidet und sich für das Seelen­leben nicht zuständig fühlt. Doch immerhin führt schon diese hartnä­ckige Dissonanz vor Augen, dass ein Fokus auf das Zurück­drängen des immer weiter ausgrei­fenden Staats, obschon wichtig, in der lange prakti­zierten Mischung aus Ausschließ­lichkeit und Undif­fe­ren­ziertheit genauso ungenügend ist wie die Engführung des Freiheits­be­griffs auf das Wirtschaftliche.

Im politi­schen Leben besteht der Imperativ der Freiheit wesentlich darin, das kollektive Handeln vor gefähr­lichen Übergriffen zulasten der indivi­du­ellen Initiative und der spontanen gesell­schaft­lichen Koordi­nation zu bewahren. Er äußert sich auch, aber nicht allein in Steuer­sätzen, die den Bürgern finan­zi­ellen Spielraum für die eigen­ver­ant­wort­liche Gestaltung ihres Lebens lassen und mit dem grund­sätz­lichen Schutz des Privat­ei­gentums vereinbar sind. Der Imperativ der Freiheit richtet sich zunächst darauf, was der Staat nicht tun soll. Zugleich richtet er sich ausdrücklich auch darauf, was der Staat tun soll, wie er dies tun soll und welche Verfahren dabei zur Anwendung kommen. 

Portrait von Karen Horn

Karen Horn ist Dozentin für ökono­mische Ideen­ge­schichte und Wirtschafts­jour­na­lismus an der Univer­sität Erfurt.

Es kann nicht darum gehen, den Staat „abzuschaffen“, wie es sich versprengte Anarchisten wohl noch immer wünschen. Kollek­tives Handeln der Bürger innerhalb der histo­risch gewach­senen, mühsam erkämpften rechts­staat­lichen und demokra­ti­schen Insti­tu­tionen, die wir „Staat“ nennen, ist unabdingbar vor dem Hinter­grund der Komple­xität der gesell­schaft­lichen Realität auf der Stufe der zivili­sa­to­ri­schen Entwicklung, auf der wir im 21. Jahrhundert stehen. Die Moderne mit ihrem aufklä­re­ri­schen Erbe, dem Appell an den Verstand, dem Vorrang des Indivi­duums vor dem nicht mehr organisch gedachten Kollektiv, der Offenheit für Fortschritt, der bunt ausdif­fe­ren­zierten Gesell­schaft und der arbeits­tei­ligen globalen Wirtschaft besteht nicht unabhängig von staat­lichen Insti­tu­tionen. Die Freiheit, die zu dieser Moderne passt, ist ihrer­seits komplex. Sie umfasst neben der Einhegung der kollek­tiven Gewalt und dem Schutz des einzelnen vor staat­licher Willkür gleich­zeitig auch die politische Freiheit, das in seinen Grund­zügen aus der Antike überkommene und heute verall­ge­mei­nerte Recht der Bürger zur Betei­ligung am kollek­tiven Entscheidungsprozess.

Der vor 250 Jahren in Lausanne geborene Denker Benjamin Constant, der sich als Politiker im postna­po­leo­ni­schen Frank­reich für ein liberales Reprä­sen­ta­tiv­system einge­setzt hat, mahnte 1819 in einer berühmten Rede in Paris, dass diese beiden Aspekte einander ergänzen müssen, wenn kollek­tives Handeln in der modernen Großge­sell­schaft nicht totalitär werden soll. Nach seiner Analyse kann unter diesen Bedin­gungen die Genug­tuung, welche die politische Freiheit vermittelt, keine Kompen­sation für erlittene Willkür mehr sein. In der persön­lichen Klein­gruppe mag man es noch hinnehmen, wenn man überstimmt wird und infolge dessen ungewollte Lasten zu schultern hat; in der Anony­mität der Großge­sell­schaft bleibt nur das bittere Empfinden von Fremd­be­stimmung und Ohnmacht. „In der Menge verloren, nimmt der einzelne von dem Einfluss, den er ausübt, nichts mehr wahr. Niemals prägt sich sein Wille der Gesamtheit auf, nichts führt ihm seine Mitwirkung spürbar vor Augen.“ Dieses Gefühl ist die Grund­me­lodie aller Politik­ver­dros­senheit, jüngst zum Ausdruck gekommen in der Wähler­schar, die sich, um das Gegenteil zu beweisen, den Extremen zuwendet.

Der eine Ausweg besteht in der Beschränkung der Zugriffs­rechte des Kollektivs auf das Individuum. Der andere, nicht weniger wichtige Ausweg liegt darin, die politische Teilhabe zu stärken. Dazu reicht es freilich nicht, die Bürger mit Worten „dazu an[zu]feuern, durch ihre Beschlüsse und ihre Stimm­abgabe an der Ausübung der Macht teilzu­nehmen“, wie Constant meinte. Vielmehr bedarf es, wo dies nur irgend möglich ist, insti­tu­tio­neller Korrek­turen im Geiste des Subsi­dia­ri­täts­prinzips, um die in modernen komplexen Großge­sell­schaften notwen­digen kollek­tiven Entschei­dungen wieder näher an die Bürger heran­zu­führen und ihnen so „ihren Einfluß auf das öffent­liche Wohl erstre­benswert [zu] machen“.

Das aber setzt voraus, die politische Freiheit des Indivi­duums nicht insgesamt zu bearg­wöhnen, wie es jene Kritiker der Demokratie tun, die gern ganz ohne Staat und ohne große allge­mein­ver­bind­liche Kollek­tiv­ent­schei­dungen auskämen. Vielmehr gilt es die politische Freiheit als wesent­liche liberale Forderung im Hier und Jetzt zu begreifen und ihrer Ausübung neuen Schwung zu verleihen. Dafür ist es angebracht, den Gegen­stand, auf den sich dieser Mitbe­stim­mungs­an­spruch richtet, bei aller notwen­digen Kritik auch zu schätzen: den modernen, parti­zi­pa­tiven, einge­hegten Staat, gebunden an Recht und Gesetz. Er ist im Kern zu denken als gemein­schaft­liche Unter­nehmung aller Bürger zum gegen­sei­tigen Vorteil. Dagegen spricht nicht, dass die staat­lichen Aktivi­täten, vom Taten­drang der mit politi­scher Freiheit ausge­stat­teten Bürger getrieben, erfah­rungs­gemäß immer weiter wachsen und die Privat­sphäre überwu­chern, wenn man den kollek­tiven Zugriff nicht hin und wieder zurecht­stutzt. Denn auch dieses Stutzen ist eine Aufgabe, für die es der politi­schen Freiheit bedarf. Ja, der Staat bedroht in seiner Eigen­dy­namik regel­mäßig die Freiheit, zugleich aber sollte er ihr syste­ma­ti­scher Ort und idealer­weise ihr Diener sein. Dieses kompli­zierte Spannungs­ver­hältnis heißt es aushalten und zu moderieren: Das ist die fortlau­fende Heraus­for­derung der modernen Freiheit.

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