Veranstaltungsbericht: Gedenken in Odesa
Die Partnerstädte Odessa und Bremen gedachten am 12. Oktober 2018 den 25.000 Opfern des Massakers in Munitionsdepots in Odessa. Ein Konzert des Bremer Raths-Chors und des Kammerorchesters Odessa in der Philharmonie und eine Gedenkfeier am Ort des Geschehens erinnerten an das immer noch wenig bekannte Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Es erstaunt immer wieder, wie offen und öffentlich im jenem Krieg der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung im östlichen Europa, in den Gebieten, die der amerikanische Historiker Timothy Snyder „Bloodlands“ nennt, vonstattenging. Die Juden aus westeuropäischen Ländern wurden zur Vernichtung meistens in entlegene Orte, etwa nach Auschwitz, abtransportiert. Zu ihrem Martyrium gehörten monate- und jahrelange Ausgrenzung, tagelange Eisenbahnfahrten. Osteuropäische Juden ermordete man in ihrer Heimat. Babyn Jar liegt mitten in Kyiw. Die Munitionsdepots der roten Armee in Odessa befanden sich damals ebenfalls im Stadtgebiet, kaum eine Fußstunde von den zentralen Prachtpromenaden entfernt. Am 22.–23. Oktober 1941 wurden dort über 25.000 Menschen bei lebendigem Leibe vor Augen der Stadtbewohner erschossen und verbrannt. Umso erstaunlicher ist es, wie verblasst die Erinnerung an diese Verbrechen trotz ihrer ungenierten Offenheit ist.
„Erstaunlich, wie die Erinnerung verblasst“
Die südukrainische Hafenstadt Odessa, bis in die Sowjetzeit eines der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Zentren des europäischen Judentums, wurde am 16. Oktober 1941 von der Roten Armee verlassen und von der rumänischen Armee besetzt. In der Stadt blieben ungefähr 90.000 Juden, etwa die Hälfte der jüdischen Einwohner. Dass sie trotz besonderer Gefährdung nicht evakuiert wurden, gilt nach wie vor als Selbstverständlichkeit. Der Schutz der Zivilbevölkerung hatte in der UdSSR eher keine Priorität, außerdem gab es aus der sowjetischen Perspektive dringendere Verteidigungsaufgaben. Dazu gehörte zum Beispiel die Deportation der deutschstämmigen Sowjetbürger nach Sibirien und Zentralasien, zehntausende von ihnen aus der Region Odessa. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass die Munitionsdepots ausgerechnet im Lustdorfer Weg lagen, einer Straße nach Lustdorf, eine in der Sowjetzeit in die Kolchose „Karl Liebknecht“ umbenannte und im August 1941 leergeräumte deutsche Siedlung.
Sowjetunion verzerrt Darstellung des Massakers
Es wäre falsch zu behaupten, diese Episode sei vollständig in Vergessenheit geraten. In der Sowjetzeit wurde am Ort des Massakers ein Gedenkstein ausgestellt. Die Aufschrift lautete: „An diesem Ort wurden am 19. Oktober 1941 von den faschistischen Bestien etwa 25.000 Sowjetbürger lebendig verbrannt“. Abgesehen vom falschen Datum (die Verbrennung war mehreren Quellen und Zeugenberichten zufolge eine der Vergeltungsmaßnahmen für die Sprengung der Kommandantur am 22. Oktober), enthält dieser kurze Text einige für das sowjetische Geschichtsnarrativ typischen Verzerrungen: Bloß keine Erwähnung vom Holocaust, bloß keine jüdische Sonderstellung, alle Opfer waren gleich. Alles, was zählte, war reine Arithmetik, die Hauptleid trug die Sowjetunion. Dass die Täter, die unmittelbaren Vollstrecker rumänische Soldaten waren, wurde auch gern unterschlagen, wollte mach doch das sozialistische Bruderland Rumänien nicht mit Schuldzuweisungen unnötig belasten. Rumänien betrachtete den Massenmord an europäischen Juden als eine deutsche Angelegenheit und war keineswegs willig, sich zur Mittäterschaft zu bekennen. Und Deutschland hatte genug eigene Verbrechen zu verantworten, um sich noch um die Untaten seiner einstigen Alliierten zu kümmern.
Diese Situation begann sich erst vor einigen Jahren allmählig zu ändern. Erst wurde der Gedenkstein 2004 mit dem Davidstern versehen. Eine daneben liegende Tafel aus Marmor informiert auf Englisch, Ukrainisch und Hebräisch, dass „das Denkmal“ von der israelischen Repatrieirungsagentur Sochnut restauriert und im Beisein israelischer Soldaten eingeweiht wurde. In Kombination mit dem sowjetischen Text macht die Anlage am Rande des ehemaligen Depotgelände einen recht surrealen Eindruck. Das Gelände selbst ist zwischen einem Kinderspielplatz, einer Garagenkooperative, einem Parkplatz und einer Baustelle aufgeteilt; zwei prächtige, noch nicht fertiggestellte Hochhäuser überragen den Ort des Schreckens. Unnötig zu sagen, dass die Opfer des Massakers nie begraben wurden, deren Überreste liegen heute noch unter dem Asphalt. Augenzeugen berichten, dass bevor die Fläche in den 1960ern geebnet und zugepflastert wurde, Kinder dort mit menschlichen Schädeln Fußball spielten.
Rumänische Täter, deutsche Schuld
Am 12. Oktober fand dort, angeregt von Marieluise Beck und dem Zentrum für liberale Moderne, zum ersten Mal eine Trauerfeier statt. „Wir sind uns als Deutsche unserer Verantwortung bewusst“, sagte Marieluise Beck,-„es waren überwiegend rumänische Truppen, die in der Stadt gewütet haben, aber dieser mörderische Krieg und der Wahn der Auslöschung des jüdischen Volkes ist in Deutschland erdacht worden“. Dass Angehörige anderer Länder sich an diesem Verbrechen beteiligten, freiwillig oder unter Druck, mindere die deutsche Schuld nicht, betonte der deutsche Botschafter in der Ukraine Ernst Reichel, sondern vergrößere sie noch mehr. Der rumänische Gesandte Gheorghe Anghel informierte die versammelten Gäste über die jüngsten Erfolge Rumäniens in Sachen Aufarbeitung, mit dem Beitritt Rumäniens in die Europäische Union kommt wohl auch dort die Sache in Bewegung.
Das Leitmotiv der meisten Reden war „nie wieder“. Davon sprachen der Gouverneur vom Oblast Odessa Maksym Stepanow, der Vertreter der israelischen Botschaft Emil Ben Naftaly. Der Holoaustüberlebende, Roman Schwarzman, erinnerte daran, dass sich Ukraine auch jetzt im Krieg befindet, dass im Osten des Landes täglich Menschen sterben, und wandte sich an die Vertreter europäischer Länder: „Helft uns, diesen Krieg zu beenden, Europa hat ihn zu lange ignoriert“.
Der heute 93-jährige Michail Saslawskij erzählte, wie er den Brand in den Munitionsdepots überlebte: Als das Dach eigestürzt war, kletterte er heraus und rannte, gefolgt von Salven der Maschinengewehre, durch das Kornfeld der Kolchose „Karl Liebknecht” zum dahinter liegenden Wäldchen. Seine Mutter und vier Geschwister sind in Flammen umgekommen. Was ihm letztendlich das Leben rettete, erzählte Saslawskij, war die Tatsache, dass er auf Wunsch seines ungläubigen Vaters unbeschnitten war. Bei jeder Festnahme und jedem Verdacht befahlen ihm die rumänischen Soldaten, die Hose runterzulassen. Über die Rumänen spricht er, als seien sie eine Art Naturgewalt gewesen, über seine Mitbürger erzählt er viel emotionaler: Als er mir Tausenden anderen Juden durch die Stadt zu den Munitionsdepots getrieben wurde, standen Stadtbewohner am Straßenrand. Einige rissen den Häftlingen ihre Sachen aus der Hand. Die meisten aber weinten.
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