Jeder Angriff auf einen Juden ist ein Angriff auf die liberale Welt

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Heute vor 74 Jahren befreite die Rote Armee das Vernich­tungs­lager Auschwitz-Birkenau. Der  27. Januar wurde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus. Vieles wurde seither aufge­ar­beitet. Was aber übersehen wird, ist die bis heute wirksame Allianz von Antili­be­ra­lismus und Antisemitismus.

Man kann der kritisch denkenden, westlichen Öffent­lichkeit kaum vorwerfen, sie unter­schätze die Bedeutung antili­be­raler Strömungen oder übersehe die Zunahme antise­mi­ti­scher Ressen­ti­ments. Was aber weitgehend übersehen und unter­schätzt wird, ist:

  1. Die enge Verbindung und wechsel­seitige Inspi­ration von Antili­be­ra­lismus und Antisemitismus.
  2. Die lange histo­rische Linie dieser Verbindung, die zurück­reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhun­derts und seither zyklisch wieder­kehrt. Ihre erste, weit über die Zeit hinaus wirkende theore­tische Unter­füt­terung erhielt sie von Hermann Wagener, Jurist und preußi­scher Minis­te­ri­al­be­amter, Politiker, geschei­terter Partei­gründer und passio­nierter Juden­hasser. Wageners Buch „Das Judentum und der Staat“ (1857) sah im „so genannten Libera­lismus der jüdischen Bourgeoisie“ den „Feind jeder staat­lichen Ordnung“ schlechthin. Propa­gan­dis­tisch geschickt verknüpfte Wagener tradierte, antise­mi­tische Ressen­ti­ments mit Argumenten für einen Erhalt der Monarchie. Er konnte sich des Beifalls des christlich geprägten Bürgertums sicher sein, das seinen tief sitzenden Argwohn gegen die Juden bestätigt sah. Auch bei den Verlierern der techni­schen und sozialen Umbrüche dieser Zeit – Handwerkern und Arbeitern – stieß dieses Denken auf Zustimmung. Libera­lismus und Plura­lismus wurden bei Wagener gleichsam zu Synonymen für Judentum und Dekadenz. Von hier bis zu Heinrich von Treit­schkes Diktum „Die Juden sind unser Unglück“ (1879) war es nur noch ein kleiner Schritt.
  3. Die kultu­relle, gesell­schaft­liche und politische Komple­xität dieser unheil­vollen Allianz, ihr zykli­sches Wieder­auf­leben, zunächst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts und nun erneut zu Beginn des 21. Jahrhun­derts. Und, nicht zuletzt, ihre exponen­tiell zuneh­mende Wirkkraft unter bestimmten sozialen, ökono­mi­schen und politi­schen Gegebenheiten.
  4. Die Tatsache, dass antili­berale Ideologien, die einen wesent­lichen Teil ihrer sogenannten Argumente aus antise­mi­ti­schen Klischees beziehen oder mit solchen verknüpfen, auch in der Vergan­genheit keineswegs ausschließlich – oder auch nur vorrangig – am äußersten rechten Rand des politi­schen Spektrums ihren Ursprung und ihre Verfechter haben. Vielmehr lag im 19. Jahrhundert, wie auch während der Weimarer Zeit, eine ihrer wesent­lichen Ressourcen in akade­misch gebil­deten, christlich orien­tierten und bürger­lichen Kreisen der gesell­schaft­lichen Mitte. Hier wurden Wageners Schriften gelesen, ihre destruk­tiven Stereotype aufge­griffen und der Wind weiter angefacht, den ihr Autor gesät hatte. Aus dem  jahrhun­der­te­alten, haupt­sächlich religiös begrün­deten Anti-Judaismus wurde die moderne Form eines wesentlich sozial und politisch argumen­tie­renden Antisemitismus.
    Mit dem neu geschaf­fenen Feindbild einer „jüdischen Bourgeoisie“ konnten Reichs­kanzler Otto von Bismarck und seine Adepten liberale Bestre­bungen und Bewegungen zurück­drängen und die brüchig gewordene preußische Monarchie stärken. Eine nunmehr offen juden­feind­liche, antili­berale Klassen­ge­sell­schaft war die entschei­dende Voraus­setzung dafür. Schließlich, in den Jahren der Weimarer Republik, entflammte aus dem vom Bismarck’schen Kaiser­reich geerbten Schwel­brand vollends das Feuer, das alle liberalen Bestre­bungen der Zeit zunich­te­machte. Es brachte Hitler und seine Natio­nal­so­zia­listen an die Macht und wenige Jahre später Millionen Juden in die Gaskammer.
  5. Die Rolle, die christ­liche Glaubens­ge­mein­schaften, etablierte kultu­relle Organi­sa­tionen und politische Parteien dabei spielten, dass die unselige Achse zwischen Antili­be­ra­lismus und Antise­mi­tismus eine so unheil­volle Durch­schlags­kraft entwi­ckeln konnte. Eine der wesent­lichen, meinungs­bil­denden gesell­schaft­lichen Gruppen war dabei das bürgerlich-evange­lische Milieu, aus dem die Mehrheit der akade­misch Gebil­deten stammte.
    Das politisch-kultu­relle Selbst­ver­ständnis bürger­licher Protes­tanten war prägend für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und bis weit in die Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus hinein. Mit großer Skepsis betrachtete man in diesen Kreisen die westliche, parla­men­ta­rische Demokratie und deren Vorstellung von staats­bür­ger­licher Selbst- und Mitbe­stimmung. Man verstand sich als „antili­beral“ und „antide­mo­kra­tisch“. Und man hatte den Segen der evange­li­schen Kirche, die diese politische Orien­tierung nicht vorgab, aber teilte. Sie ermög­lichte maßgeblich  das Verschmelzen von Antili­be­ra­lismus, Antise­mi­tismus und volks­ge­mein­schaft­lichem Ordnungs­denken zur spezi­fisch deutschen Ideologie während des „Dritten Reichs“. Dabei musste man sich nicht zwangs­läufig als natio­nal­so­zia­lis­tisch im partei­po­li­ti­schen Sinne verstehen. Aber man billigte und beför­derte das Feindbild der NS-Herrschaft: die Ablehnung des westlichen Libera­lismus und des östlichen Bolsche­wismus, beides verwoben im völkisch-rassis­ti­schen Antisemitismus.

Antise­mi­tische Ressen­ti­ments richten sich nicht allein gegen ihr explizit angegrif­fenes Ziel

Wenig, und nur punktuell, wurde bislang zu all dem geforscht. Was das Wenige zu Tage gefördert hat, liegt herum wie lose Enden. Als scheuten wir uns, entschei­dende Schluss­fol­ge­rungen zu ziehen. Indem Antise­mi­tismus sich gegen Juden, jüdische Gemein­schaften und den Staat Israel richtet, zielt er zugleich auf alle und alles, das mit der liberalen Moderne verbunden ist. In Deutschland richtet er sich nicht allein gegen einzelne Juden und jüdische Einrich­tungen, sondern gegen die demokra­tische Republik, deren Grund­gesetz von 1949 aus dem Bewusstsein um die Verant­wortung für die Shoa hervorging und dessen erster Artikel deshalb so kompro­misslos auf dem Werte­kodex einer liberalen, plura­lis­ti­schen Gesell­schafts­ordnung basiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 

Das Grund­gesetz der Bundes­re­publik Deutschland wollte und will nicht nur eine Garantie bieten für eine freiheit­liche Lebensform. Es gibt zugleich das Versprechen, sich für die univer­sellen Werte von Menschen­würde und Demokratie auch außerhalb deutscher Grenzen einzu­setzen. Es ist der allein gültige ethische Rahmen für eine deutsche Nation der Zukunft. Antise­mi­tische Ressen­ti­ments richten sich deshalb nicht allein gegen ihr explizit angegrif­fenes Ziel. Sie richten sich stets zugleich gegen den Werte­kodex, der sich verpflichtet, Freiheit und Plura­lismus als verbind­liche Norm zu schützen. Wer Juden, jüdische Gemein­schaften und den Staat Israel angreift, zielt zugleich gegen das Konzept einer liberalen Gesell­schaft. Jeder Angriff auf Juden ist ein Angriff auf die liberale Welt.

Der vermeintlich aufge­klärte Westen ist in Wahrheit besorg­nis­er­regend orientierungslos

Wer das verstanden hat, wird neu und mit deutlich weiter reichendem Blick bewerten, was in Ungarn vor sich geht, wo der Entzug der Lizenz für die Central European University mit einer öffentlich plaka­tierten, beispiellos antise­mi­ti­schen Hetzkam­pagne gegen ihren Stifter George Soros einherging; was immer massiver aus Putins Russland zu uns dringt, wo auf Platt­formen wie „Russia Insider“ in geradezu klassi­scher „Stürmer“-Weise Journa­listen, Publi­zisten und Medien als Juden gelistet und an den Pranger gestellt werden; was in program­ma­ti­schen Schriften und tages­po­li­ti­schen Äußerungen der AfD ihren Ausdruck findet. Dieses völkische Gebräu ist keineswegs nur an deutschen Stamm­ti­schen oder in exzen­tri­schen studen­ti­schen Verbin­dungen wieder vermehrt zu hören.  In dem kürzlich veröf­fent­lichten Buch ihrer Führungs­figur Björn Höcke („Nie zweimal denselben Fluss“) hat es einen weiteren unrühm­lichen Tiefpunkt gefunden.

Der Antili­be­ra­lismus in Europa formiert sich, er erhält aus Moskau ebenso wie von der US-ameri­ka­ni­schen Alt-Right-Bewegung Rückenwind. Er versucht mit Hilfe eines so plumpen wie brutalen Antise­mi­tismus einzu­dringen in alle sich bietenden Brüche und Konflikte einer vermeintlich aufge­klärten westlichen Gesell­schaft, die in Wahrheit besorg­nis­er­regend orien­tie­rungslos ist. Als hätten wir von der Vergan­genheit etwas Entschei­dendes nicht gelernt und träten der erneuten Bedrohung ein weiteres Mal nicht geschlossen, sondern als Konglo­merat naiver und narziss­ti­scher Einzel­ge­sell­schaften gegenüber.

Antili­be­ra­lismus und Antise­mi­tismus: eine ideolo­gische Symbiose

Vor diesem Hinter­grund irritiert auch die Verengung der antise­mi­ti­schen Gefahr in Deutschland und Europa auf die wachsende Zahl musli­mi­scher Einwan­derer. So unbestreitbar die Zahl der Übergriffe auf Juden und jüdische Einrich­tungen durch musli­misch-arabische Täter zugenommen hat, so gefährlich ist die ausschließ­liche Fokus­sierung auf diese Gruppe, ihre Kultur und Religion. Denn sie klammert unsere eigenen, hausge­machten antili­be­ralen Strömungen aus, die antise­mi­tische Ressen­ti­ments gezielt schüren und für ihre Zwecke missbrauchen.

Antise­mi­tismus ist sui generis illiberal. Zugleich macht sich Antili­be­ra­lismus die illiberale Kraft des Antise­mi­tismus zu Nutze. Wir haben es mit einer ideolo­gi­schen Symbiose zu tun, die die Idee von Freiheit, Respekt und Plura­lismus zu ersticken droht, wenn wir nicht recht­zeitig und entschlossen dagegen vorgehen. Antili­be­ra­lismus und Antise­mi­tismus können nicht getrennt vonein­ander betrachtet und bekämpft werden. Sie sind der Januskopf einer gemeinsam wirkenden, jahrhun­der­te­alten, zyklisch wieder­keh­renden Bedrohung.

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