Der Win-win-Konflikt
Belarus und Russland überziehen sich mit Provokationen. Aber ist der Konflikt echt? Oder handelt es sich um einen großen Bluff, der sowohl Aljaksandr Lukaschenka als auch Wladimir Putin in die Hände spielt?
Minsk und Moskau sind wieder im Streit und überziehen sich nun bereits seit mehreren Wochen mit Forderungen. Die stärkste Waffe des Kreml ist Rosselchosnadsor, der Dienst für Veterinär- und Phytosanitäraufsicht. Dieses Mal hat der Dienst im April die Einfuhr belarussischer Äpfel und Birnen nach Russland verboten. Anlass war die Festsetzung von 36 LKWs mit Lebensmitteln, die die Grenze ohne Papiere und ohne Zoll passiert hatten. Der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka reagierte emotional.
Er erklärte, der östliche Nachbar sei dreist geworden und gab die Anweisung, auf die Interessen Russlands keine Rücksicht zu nehmen und, falls notwendig, die Transitpipelines für Öl und Ölprodukte, die durch das Land verlaufen, in den Reparaturmodus zu versetzen. Russland verhaftete Alexej Chotin, einen Geschäftsmann belarussischer Herkunft und Haupteigentümer der Bank Jugra. Belarus beschuldigte Russland, minderwertiges Erdöl zu liefern und bezifferte die Verluste auf 100 Millionen US-Dollar. Die russische Seite räumte das Problem ein (allerdings nicht die Höhe der Schadenssumme) und traf Maßnahmen zur Behebung der Mängel.
Auf den ersten Blick scheint es, als würde es einen Schlagabtausch zwischen beiden Seiten geben. Der Kreml übt Druck auf Lukaschenka aus, um ihn zu einer vertieften Integration zu bewegen. Dieser wiederum wehrt sich und verteidigt die Unabhängigkeit. Schließlich besteht eine der Möglichkeiten Wladimir Putins, auch nach 2024 an der Macht zu bleiben, darin, dann einen vereinten Staat von Russland und Belarus anzuführen.
Der Kreml will ein Szenario wie in der Ukraine vermeiden
Zunächst müssen Lukaschenka und auch Putin aber die Probleme der näheren Zukunft lösen. Bis zum 30. August 2020 muss die Wahl des Staatsoberhaupts von Belarus stattfinden, und 2019 stehen die Parlamentswahlen an.
Lukaschenkas Ziele sind klar: Ein Sieg bei den Wahlen und deren Anerkennung durch den Westen bei geringen Protesten der Bevölkerung. Welche Ziele hat aber Russland? Der Kreml will ein Szenario wie in der Ukraine vermeiden: Es darf keinen Sieg eines Oppositionskandidaten geben, der eine Integration mit dem Westen befürwortet. Über einen eigenen Kandidaten, der eine Alternative zu Lukaschenka wäre und Siegchancen hätte, verfügt Moskau nicht. Oder noch nicht. Also sieht es so aus, als ob Moskaus Ziele deckungsgleich mit Minsks Zielen wären: nämlich ein Sieg Lukaschenkas. Und dann, wenn 2024 näher rückt: feilschen, drohen, verhandeln, und schließlich kaufen und schmieren.
Der verhaftete Chotin könnte in diesem Fall als Geisel eingesetzt werden. Bislang muten die Drohungen wie ein Bluff von Lukaschenka und Putin an, der dafür sorgen soll, Lukaschenka als Verteidiger der belarussischen Unabhängigkeit zu inszenieren. Als Kandidat, der in der Lage wäre, mit Russland übereinzukommen. Dieses Spiel kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den beiden Regierenden ernste Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Lukaschenka spielt der angebliche Konflikt mit Russland in die Hände
Lukaschenka, der seit 25 Jahren an der Macht ist und auf eine sechste Amtszeit zusteuert, möchte allerdings keineswegs das Schicksal vieler anderer Diktatoren teilen, die aufgrund von Protesten der Bevölkerung freiwillig oder gegen ihren Willen abtraten. Algerien, Sudan und Venezuela sind nur die jüngsten Beispiele. Daher ist in Belarus 2019 eine Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst und eine Rentenerhöhung geplant. Dabei spielt Lukaschenka der angebliche Konflikt mit Russland in die Hände.
In Belarus ist, anders als in Russland, eine Akzentverschiebung möglich. Im Falle eines verlangsamten Wirtschaftswachstums und einer Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung läge die Schuld nicht oder nicht so sehr bei Lukaschenka, sondern eher beim, so Lukaschenka, „dreist gewordenen Nachbarn“.
Zum einen betrug das Wachstum der belarussischen Wirtschaft 2018 rund drei Prozent, das Realeinkommen der Bevölkerung stieg mit Hilfe administrativer Ressourcen um 11,6 Prozent. Das sind die offiziellen Daten. Den Angaben der Unabhängigen Gewerkschaft der Arbeiter der radioelektronischen Industrie (REP) zufolge beträgt der Durchschnittslohn der Arbeiter in den Regionen umgerechnet 150 bis 200 US-Dollar, was erheblich unter den von Lukaschenka versprochenen 500 US-Dollar Durchschnittslohn liegt. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich die wirtschaftliche Situation ändern wird, und es ist vollauf möglich, dass die Bevölkerung diese Veränderungen nicht gutheißen wird. Das Wirtschaftswachstum hat sich bereits verlangsamt (in den ersten beiden Monaten 2019 ist das Wachstum des BIP auf 0,8 Prozent abgesunken), und es wird immer schwieriger werden, selbst das bestehende Lohnniveau aufrecht zu erhalten.
Proteste wie 2017 hat es in Belarus nicht einmal zu Zeiten der Perestroika gegeben
Einer der Gründe für die Verschlechterung der belarussischen Wirtschaftslage hat seinen Ursprung tatsächlich in Russland. Im April 2017 haben die Regierungen der beiden Länder das Volumen der zollfreien Öllieferungen aus Russland für die Jahre 2017 bis 2024 auf 24 Millionen Tonnen pro Jahr festgelegt. Dadurch kann die belarussische Seite in ihrem Haushalt Exportgebühren für sechs Millionen Tonnen verbuchen (durch die sogenannte Umverzollung), und zwar auf die Differenz zwischen dem vereinbarten Liefervolumen und den tatsächlichen Importen nach Belarus, die zur Verarbeitung bestimmt sind (in Belarus gibt es zwei große Raffinerien, in denen russisches Erdöl verarbeitet wird).
2019 allerdings setzte die russische Regierung das „Steuermanöver“ in Gang, das in einer schrittweisen Abschaffung der Exportgebühren auf Erdöl und Erdölprodukte bestand, bei gleichzeitiger Erhöhung der Fördersteuer auf Bodenschätze. Nach Schätzungen des belarussischen Finanzministeriums dürften die Einnahmeausfälle des belarussischen Haushaltes aufgrund des Rückgangs der Exportgebühren und der geplanten Reduzierung der Abgabesätze auf Ölprodukte rund 300 Millionen US-Dollar betragen. Darüber hinaus führt das „Steuermanöver“ zu einer Verteuerung des Erdöls für Belarus. Eine mögliche Kompensation wegen des „Steuermanövers“ ist eine der Fragen, um die Lukaschenka und Putin feilschen, wie auch die Gewährung eines russischen Kredits über 600 Millionen US-Dollar an Minsk.
Es ist praktisch unmöglich herauszufinden, inwieweit die Bürger in Belarus Lukaschenka vertrauen. Die Soziologie steht unter der völligen Kontrolle des Staates und seiner Sicherheitsbehörden. Es existieren Studien und Umfragen, die zeigen, wie sich das Vertrauen in die Regierung, in das Parlament, in die lokale Verwaltung und in die Opposition entwickelt. Es gibt aber keinerlei Daten, die etwas über die Popularität des Präsidenten aussagen. Es lassen sich Daten des Unabhängigen Instituts für sozioökonomische und politische Studien (NISEPI) finden, des ältesten unabhängigen Forschungszentrums in Belarus, das gegenwärtig als gesellschaftliche Organisation in Litauen registriert ist. Diesen Daten zufolge lag die Wählerunterstützung für Lukaschenka 2016 bei 29,5 Prozent. Experten haben aber selbst diese Werte für zu hoch befunden. 2017 wurde Belarus von Massenprotesten der Bevölkerung erfasst, die sich gegen Lukaschenkas sogenanntes Dekret Nummer drei über das „Sozialschmarotzertum“ richteten. Diesem zufolge hätten Arbeitslose dem Staat jährlich zwischen 300 und 400 US-Dollar zahlen sollen. An den Protesten, die in über 20 Städten unter der Parole „Nein zum Dekret Nummer drei – Lukaschenka, geh!“ stattfanden, beteiligten sich vor allem Menschen, die früher zur Wählerschaft von Lukaschenka gehört hatten. Solche Proteste hatte es in Belarus nicht einmal zu Zeiten der Perestroika gegeben.
Der Kreml leistet dem neuen Image von Lukaschenka Vorschub
Lukaschenkas alte Parole „Gemeinsam für ein starkes und blühendes Belarus“ funktioniert schon nicht mehr, wie auch kaum jemand noch eine seiner Parolen glaubt. Es gibt praktisch kaum eine Möglichkeit, das Vertrauen mit Hilfe der Innenpolitik wiederherzustellen. Daher wird jetzt vor den Wahlen ein neues Image des Präsidenten aufgebaut, das eines Verteidigers der Souveränität und der nationalen Identität, der sich gegen den „dreisten Nachbarn“ zur Wehr setzt, und der sich wirtschaftliche und politische Vorzugsbedingungen herausschlägt. Und der Kreml leistet dem auf jede erdenkliche Weise Vorschub, indem er für zusätzliche Konfrontationen sorgt. Weil der Kreml und Lukaschenka bei den nächsten Wahlen einen Sieg brauchen, um danach erneut in Verhandlung über den Unionsstaat zu gehen.
Sowohl in Minsk als auch in Moskau ist man sich drüber im Klaren, dass dies wegen der wirtschaftlichen Probleme in Belarus und der entsprechenden geringen Popularität Lukaschenkas nur sehr schwer zu erreichen sein wird. Nach Angaben internationaler Beobachter kann Lukaschenka die Wahlen nur mit Hilfe massiver Fälschung der Wahlergebnisse und massiven Repressionen „gewinnen“. Bereits 2010 hatte Lukaschenka nach Einschätzung internationaler Beobachter die Wahlen verloren. Das haben die Außenminister Deutschlands, Schwedens, Tschechiens und Polens in ihrem gemeinsamen Artikel Lukashenko the Loser in der New York Times angesprochen. Um sich an der Macht zu halten, hat Lukaschenka seinerzeit über 1000 Menschen ins Gefängnis geschickt, unter anderem acht der neun alternativen Präsidentschaftskandidaten.
Angesichts des Umstandes, dass Lukaschenka bei den Belarussen höchst unpopulär ist, erörtert Moskau mit dem belarussischen Präsidenten die Reservevariante mit dem Arbeitstitel „Nachfolger“. Das könnte Viktor Lukaschenka sein, der ältere Sohn des Präsidenten, der offiziell Sicherheitsberater des Präsidenten ist. Dass eine solche Variante nicht ausgeschlossen ist, belegt der Besuch Viktor Lukaschenkas in Tschetschenien und sein Treffen mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Vor Kurzem erhielt Viktor Lukaschenka zudem einen neuen Posten. Er wurde Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees. Bekanntermaßen ist es in Belarus verboten, Leiter aller Art „Präsident“ zu nennen, mit Ausnahme des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees und des Präsidenten des Landes. Diese Ämter hat beide Aljaksandr Lukaschenka inne. Somit kann die Ernennung des älteren Sohnes zum Vizepräsidenten des NOK als Schritt betrachtet werden, die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass sein Sohn der Amtsnachfolger wird.
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