Das andere Ende der Geschichte: digitale Planwirtschaft?
Die Fortschritte der Computertechnik könnten die Grenzen zwischen Autoritarismus und liberaler Demokratie auflösen, schreibt Adrian Lobe. Als hätte die Planwirtschaft auf Big Data gewartet.
Vor 30 Jahren verkündete der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Der Wettstreit der Ideologien sei ans Ende gelangt, die liberale Demokratie habe obsiegt. Wie eine Ironie der Geschichte wirkt es da, wenn Jack Ma, Gründer der digitalen Handelsplattform Alibaba und reichster Mann Chinas, prophezeit, mit Big-Data-Analysen lasse sich eine Planwirtschaft 2.0 ins Werk setzen. Die Analyse der gläsernen Gesellschaft ermögliche es, die unsichtbare Hand des Markts zu führen. Werden Karl Marx und Adam Smith nun doch noch Freunde?
„Over the past 100 years, we have always felt that the market economy is excellent, but in my opinion, in the next three decades will be a significant change, the planned economy will become increasingly large. Because we have access to all kinds of data, we may be able to find the invisible hand of the market. ... [I]n the age of data, it is like we have an X‑ray machine and a CT machine for the world economy, so 30 years later there will be a new theory [on planned economy] out.“ – Jack Ma
Die ökonomische Klassik brachte gegen die Planwirtschaft den Einwand vor, der Planer könne nie bessere Echtzeitinformationen haben als der Markt. Wie viele Fahrräder, Wasserkocher und Türgriffe produziert werden müssten, um den Bedarf zu decken, wisse der Staat nicht. Man müsste schon Millionen Gleichungen lösen können, um ein makroökonomisches Gleichgewicht künstlich herbeizuführen. Die Fortschritte in der Computertechnologie könnten das Problem lösen.
Lange schon diskutierten sozialistische Theoretiker, ob die Informationsfunktion von Marktpreisen durch rechnergestützte Informationssysteme ersetzt werden könnte. “Kalkulationsdebatte“ nannten dies Fachkreise. Der polnische Wirtschaftswissenschaftler Oskar Lange entwickelte in dem Aufsatz „The Computer and the Market“ (1967) die Idee einer „elektronischen Analog-Maschine“, die den Preisbildungsmechanismus mit mathematischen Gleichungen simuliert.
Computer sollen ökonomische Variablen berechnen
Bei der Idee blieb es nicht. Der chilenische Präsident Salvador Allende beauftragte 1970 den britischen Kybernetiker Stafford Beer mit der Entwicklung eines Computersystems („Cybersyn-Projekt“), bei dem die Schlüsselindustrien des Landes mit einem Netz von 2000 Fernschreibern verbunden und Produktionsdaten in ein futuristisches Kontrollzentrum einfließen sollten. Das Experiment wurde nach dem Militärputsch 1973 und dem Siegeszug der „Chicago Boys“ jäh beendet.
Die Theoriediskussion ging weiter. Der schottische Computerwissenschaftler Paul Cockshott und der US-Wirtschaftsprofessor Allin Cottrell stellten in ihrem Buch „Towards a New Socialism“ (1993) die These auf, dass Hochleistungsrechner ökonomische Variablen wie Arbeitszeit, Gütermenge und Verbrauch berechnen könnten:
„Wir werden ein System rechnergestützter Planung vorschlagen, das die Simulation des Verhaltens der Wirtschaft in allen Einzelheiten einbezieht. Um das zu erreichen, muss der Zentralrechner mit einer Unmenge technischer Informationen gefüttert werden, zum Beispiel mit Listen von Produkten, die gerade hergestellt werden, und regelmäßigen Updates über die in jedem Produktionsprozess verwendete Technologie. Andere Computersysteme müssen die verfügbaren Bestände jeder Art von Rohmaterial und jedes Maschinenmodell erfassen, so dass diese Bedingungen in den Planungsprozess eingegeben werden können.“- Paul Cockshott und Allin Cotrell
Diese Zeilen klingen weniger nach der Utopie eines digitalen Sozialismus als vielmehr nach einer Betriebsanleitung für den Datenkapitalismus der Gegenwart: In den Rechenzentren der Tech-Konzerne laufen sekündlich Simulationen ab, Echtzeit-Analysen, wo welche Produkte nachgefragt werden, wo Knappheiten herrschen, wie viel konsumiert wird, und so weiter.
Amazon hat 2014 ein Patent für ein Logistiksystem („Anticipatory Shipping“) angemeldet, bei dem Waren in Regionen verfrachtet werden, in denen eine hohe Nachfrage vorhergesagt wird. Anhand von Suchverläufen und Kaufhistorie berechnet der Online-Händler, welche Produkte Kunden ordern werden und füllt entsprechend ihrer Warenlager. Waren sollen sogar spekulativ an physische Adressen geliefert werden, in der Erwartung, dass Kunden knapp vor Zulieferung die Bestellung aufgeben. Wenn das System perfekt funktioniert, würde kurz nach Drücken des Bestellknopfs der Lieferwagen (oder die Lieferdrohne) vor der Türe sein. Was die Planer im Sozialismus nicht schafften, könnte ausgerechnet Amazon gelingen.
Was bedeutet es für die liberale Demokratie, wenn sich Kapitalismus und Planwirtschaft angleichen?
Es scheint, als würden mit den Fortschritten in der Informationstechnologie planwirtschaftliche Modelle anschlussfähig an das kapitalistische Wirtschaftssystem. Datengetriebene Märkte werden durch Prognosetechniken derart optimiert, dass sie nicht mehr allein auf das Kapital als Signal angewiesen sind. Der ehemalige Uber-Chef Travis Kalanick sagte einmal: „Wir haben Algorithmen, um zu bestimmen, was der Markt ist.“ Kann man noch von Kapitalismus sprechen, wenn die Preisfunktion der Märkte überflüssig wird? Und was bedeutet es für die liberale Demokratie, wenn sich die Wirtschaftssysteme Kapitalismus und Planwirtschaft angleichen?
In seinem Buch „Homo Deus“ erzählt der israelische Historiker Yuval Noah Harari das Ende der Geschichte ganz anders: Der Kapitalismus habe den Kommunismus nicht deshalb besiegt, weil er normativ überlegen gewesen ist, sondern weil die dezentrale Datenverarbeitung besser funktioniere als zentralisierte. In der Logik des Dataismus, wie Harari ihn modelliert, sind freie Marktwirtschaft und staatlich gelenkter Kommunismus keine konkurrierenden Ideologien oder Institutionen, sondern schlicht Datenverarbeitungssysteme mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Analog dazu seien auch Demokratien und Diktaturen „konkurrierende Mechanismen zur Sammlung und Analyse von Informationen“. Die liberale Demokratie könnte im Informationszeitalter einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil haben: „Da sowohl Menge als auch Geschwindigkeit der Daten zunehmen, könnten altehrwürdige Institutionen wie Wahlen, Parteien und Parlamente obsolet werden … weil sie Daten nicht effizient genug verarbeiten können“, schreibt Harari.
Gewiss ist es verkürzend, Demokratien auf ein Datenverarbeitungssystem zu reduzieren, weil sie nicht nur Daten, sondern auch Ideen „verarbeiten“ und produzieren. Doch die exponentiell steigende Datenmenge stellt die Problemlösungsfähigkeit und Responsivität demokratischer Systeme auf eine Belastungsprobe. „Die größte Gefahr, der sich die liberale Demokratie derzeit gegenübersieht, besteht darin, dass die Revolution in der Informationstechnologie Diktaturen effizienter macht als Demokratien“, warnte Harari während eines TED-Talks in Vancouver.
Die Modernisierungstheorie ging immer davon aus, dass die Verbreitung von Informationen autoritäre Regime eher destabilisiert, weil Missstände in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden und zivilgesellschaftliche Akteure mobilisieren. Doch es scheint, als würde die durch Big Data möglich gewordene Planbarkeit und Steuerbarkeit sozialer Systeme Autokratien tendenziell stabilisieren.
Wenn sich die Theorie von der Konvergenz der Wirtschaftssysteme als zutreffend erweist, dann könnte sich das Ende der Geschichte unter anderen Umständen materialisieren: als das Ende der liberalen Demokratie. Ob man als totalüberwachter Bürger in einem chinesischen Datengefängnis lebt oder als berechenbarer Konsument in einem „behavioristischen Großgehege“ (Harald Welzer), dürfte am Ender der Systemkonvergenz kaum noch einen Unterschied machen.
Die unsichtbare Hand des Marktes lasse sich mit Hilfe von Big Data führen, meint unser Autor Adrian Lobe. Deshalb lösten sich die Grenzen zwischen Kapitalismus und Planwirtschaft auf. Doch damit nicht genug: Auch Demokratie und Diktatur würden verschmelzen, wenn Regierte als berechenbare Marktakteure an den unsichtbaren Fäden einer automatisierten Wirtschaftsplanung tanzen. Einmal angenommen, die These von der Konvergenz der Wirtschaftssysteme stimmt – lässt sich dennoch die Unterscheidung von Demokratie und Diktatur aufrechterhalten? Was wäre das Schicksal der politischen Freiheit in einer digitalen Planwirtschaft? Auf diese Fragen antwortet der Publizist Micha Brumlik in einer Replik.
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