Debatte: Ist der Libera­lismus nur das kleinere Übel?

Liberalismusdebatte: Marko Martin für Zentrum Liberae Moderne / LibMod über die Philosophen Judith Shklar und Jean Claude Michéa
Casimiro PT /​ Shutter­stock

Nach den Verhee­rungen des 20. Jahrunderts sind die utopi­schen Pfade rechts und links verstellt. Ist der Libera­lismus nur die letzte verbliebene Ordnung, das karge Minimal­pro­gramm einer desil­lu­sio­nierten Moderne?

Diese giftige, provo­kative Frage stellt uns der franzö­sische Anarcho­phi­losoph Jean Claude Michéa in seinem Essay „Das Reich des kleineren Übels“. Marko Martin hat den Band für LibMod gelesen und ihn mit Judith Shklars populärem „Libera­lismus der Furcht“ verglichen – das Ergebnis ist verblüffend. Während Michéa mit der liberalen Moderne hadert, zieht die praktisch veran­lagte Shklar aus dem Jahrhundert der Totali­ta­rismen einen auf der Hand liegenden Schluss: Die Spannungs­ver­hält­nisse zwischen Markt und Moral, Individuum und Staat müsse man nicht im Geist auflösen und zu einer Einheit bringen; vielleicht genüge es, wenn eine Bürger­schaft diese in öffent­licher Debatte Tag für Tag aufs Neue austa­riere. Die vorlie­gende Doppel­re­zension kann man somit als Plädoyer lesen, etwas mehr handfeste Politik zu betreiben. 

Vertei­diger des politi­schen Libera­lismus beziehen sich gern auf Ideen, die im Unter­schied zu den Vorstel­lungen der klassi­schen Linken auf anthro­po­lo­gisch begrün­deter Skepsis beruhen: Der Mensch ist des Mensch Wolf, folglich braucht es keine hochflie­genden Utopien, sondern robuste Gesetze und Insti­tu­tionen, welche die Menschen vorein­ander schützen. Darauf beruht der liberale Rechts­staat, der Gedanke der Gewal­ten­teilung und der weltan­schau­lichen Neutra­lität des Staates. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Der franzö­sische Philosoph Jean-Claude Michéa leugnet diese Erfolgs­ge­schichte nicht. Geboren 1950, hatte er bereits mit 26 Jahren die moskau­hörige Kommu­nis­tische Partei verlassen, angeekelt von deren Recht­fer­tigung der Sowjet­dik­tatur. Sein Gewährsmann, dessen Denken er im Lauf der Jahre zahlreiche Aufsätze gewidmet hat, ist statt­dessen George Orwell, ein früher Warner vor Versuchen, die Menschen ihrer Indivi­dua­lität zu berauben. Doch ist vor dem Hinter­grund der totali­tären Kollek­tiv­ideen von Kommu­nismus, Natio­nal­so­zia­lismus und Islamismus die liberale Idee wirklich „alter­na­tivlos“, da sie das Individuum nicht gängelt und ideolo­gisch zurichtet? Ist die liberale Demokratie die einzige Ordnung, die uns nach dem 20. Jahrhundert noch bleibt?

Michéa: Das Unbehagen als Merkmal der liberalen Ordnung

Jean-Claude Michéa setzt hier ein dickes Frage­zeichen; seine Streit­schrift „Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesell­schaft“ ist das Resultat seines Unbehagens. „Wenn der liberale Staat auf ewig eine philo­so­phisch leere Form bleiben soll, wer anderes als der Markt wäre dann dazu berufen, die weißen Seiten zu füllen und es schließlich auf sich zu nehmen, den Menschen ‘Moral‘ angedeihen zu lassen?“ 

Will heißen: Politisch motivierte Ideologien werden keineswegs durch etwas Herrschafts­freies ersetzt, sondern durch den nicht minder ideolo­gi­schen Glauben an die Allmacht und Unumstöß­lichkeit des Marktes. Dieser dominiere dann selbst da, wo wir es gar nicht vermuten würden: „Unser aller narziss­ti­scher Wunsch“, die Gesell­schaft perfekter, gerechter, diskri­mi­na­ti­ons­freier und das Essen biolo­gi­scher, ökolo­gi­scher etc. zu machen, finde seine geradezu logische Entspre­chung im Markt­ra­di­ka­lismus eines perma­nenten Wachstums um jeden Preis. Die liberale Moral als die ins Totale ausufernde Steige­rungs­logik? Die das Lied von der besseren Zukunft ebenso stur singt wie die Ideologien der Totali­tären? Das ist eine spannende, provo­kative These. Wie schade, dass Michéa sie nicht ausführt und die Debatte nicht riskiert. Denn auch wenn vieles gegen diese Engführung spricht: Wie könnte man mit diesem Gedanken den manchmal unerträglich selbst­ge­rechten (und vor allem völlig schizo­phrenen) Antika­pi­ta­lismus unserer „Öko-Bourgeosie“ konterkarieren!

Leider zeigt Jean-Claude Michéa kaum Interesse an Paradoxa, Überschnei­dungen und unerwar­teten Verknüp­fungen. Statt­dessen auch bei ihm: das Altgebäck tradi­tio­neller Wachs­tums­kritik. Dabei dürfte gerade für einen Intel­lek­tu­ellen wie ihn, der Gerech­tigkeit durchaus konven­tionell als Vertei­lungs­ge­rech­tigkeit definiert, die Frage nicht ganz uninter­essant sein, welche Art (Wachstums-)Ökonomie genug erwirt­schaftet, damit genügend verteilt werden kann. Dass er selbst seit der Pensio­nierung 2019 zusammen mit seiner Frau auf einem Bauernhof lebt und sich größten­teils autark ernährt, versteht dieser unabhängige Denker hoffentlich nicht als hinrei­chende Basis für eine gerechte, globale Wirtschaftsordnung.

Ohnehin existiert in der vermischten Wirklichkeit der von ihm behauptete Grund­kon­flikt zwischen Markt und Moral lediglich in abgeschwächter Form. Man müsste jetzt nicht einmal die weltweit von Staaten durch­ge­setzten Einschrän­kungen während der Corona­pan­demie ins Feld führen, um das Zerrbild vom angeblich „alles dominie­renden Markt“ zu relati­vieren. Zeugt das gegen­wärtige Regie­rungs­handeln nicht gerade vom „Primat des Politi­schen“? Zwar ist Michéas Buch lange vor der Krise veröf­fent­licht worden; geschrieben wurde es aller­dings im Frank­reich eines quasi seit Jahrhun­derten dominie­renden Etatismus, in dem „der Markt“, gegen den der Autor so wortreich argumen­tiert, nun gewiss nie eine unange­fochtene Haupt­rolle gespielt hat.

Gleichwohl ist Jean-Claude Michéa immer dann ein inspi­rie­render Augen­öffner, wenn er Verun­si­cherung entstehen lässt. Denn dies ist ja ein realis­ti­sches Menetekel: Wenn die liberale Demokratie die Churchillsche Weisheit vergisst, dass sie „die schlech­teste Regie­rungsform ist – abgesehen von allen anderen Formen“, dann erstarrt sie in Selbst­ge­rech­tigkeit und läuft Gefahr, „nach und nach sämtliche Merkmale ihres Erzfeindes“ – der totali­tären Ideologie – „zu übernehmen und sich künftig als schöne neue Welt verehren zu lassen.“ Um Michéas These zusam­men­zu­fassen: das Unbehagen an ihr ist das konsti­tutive Merkmal einer liberalen Ordnung. Freilich neigt sie dazu, auf dieses Refle­xi­ons­niveau allzu selbst­ge­recht zu verweisen.

Während Michéa also warnt, das Wort vom „kleineren Übel“ routi­niert und saturiert im Munde zu führen, rekur­riert die 1992 verstorbene ameri­ka­nische Philo­sophin Judith Shklar auf dem fordernden, positiven Gehalt liberalen Denkens und Tuns.

Libera­lismus als karges Minimal­pro­gramm? Im Gegenteil!

Ihr bereits 1989 geschrie­benes, doch erst seit ein paar Jahren auf deutsch vorlie­gendes Buch „Libera­lismus der Furcht“ macht trotz des defensiv wirkenden Titels Hoffnung, die politi­scher Theorie von der Freiheit wieder dort zu verorten, wo ihn Intel­lek­tuelle wie Hannah Arendt, Raymond Aron, Ralph Dahrendorf oder Michael Ignatieff ohnehin sahen: An der Seite des verant­wor­tungs­vollen Indivi­duums, das sich kollek­tiven Zuschrei­bungen verweigert, aber dennoch – und gerade deshalb – für das Gemein­wesen tätig wird. Wo Michéa etwas voreilig unauf­hebbare Wider­sprüche zwischen Markt und Moral, Individuum und Gemein­schaft konsta­tiert, spürt Judith Shklar das Potential des Libera­lismus auf. 1928 in einer jüdischen Familie in Riga geboren und dem Stali­nismus und der NS-Okkupation im letzten Moment entkommen, hatte sie in Cambridge/​Massachusetts gelehrt und dort jenseits aller Zeitströ­mungen ihren empathi­schen Begriff von Libera­lismus vermittelt. Für sie leitet sich Libera­lismus keineswegs zuvör­derst aus dem Wunsch nach freien Märkten ab, sondern aus der Erfahrung der blutigen Religi­ons­kriege. Die daraus folgende Konse­quenz: den Streit um letzte Wahrheiten aus dem Alltags­diskurs heraus zu halten und statt­dessen Sorge zu tragen, dass jeder ohne Furcht vor Grausamkeit leben kann. Ist das ein karges Minimal­pro­gramm? Jenes „Reich des kleineren Übels“, wie Michéa schreibt?

Im Gegenteil, führt Shklar in ihrem Essay aus, der in den USA längst als Standartwerk gilt und von Kollegen wie Michael Walzer eingehend rezipiert wurde. Gleich zu Anfang besteht die Autorin zwar darauf, dass der Libera­lismus eben keine „Offen­ba­rungs­re­ligion“ sei, noch nicht einmal „eine ganze Philo­sophie des Lebens“,  sondern allen­falls ein prakti­kables, zu Sinnge­bungs­me­lodien unfähiges Instrument: „Abgesehen von dem Verbot, die Freiheit anderer zu beein­träch­tigen, besitzt der Libera­lismus keine positiven Lehrsätze darüber, wie Menschen ihr Leben zu führen haben.“

Nun könnte man meinen, auch Shklar bastle am „Reich des kleineren Übels“; wenn sie – wie es im Titel ihres Essays anklingt – ein von Furcht geprägtes Menschenbild annimmt.  Doch derlei Einwände kontert Shklar mit einem unschlag­baren Satz, der auch lebens­weltlich überzeugt: „Eine politische Ordnung auf der Vermeidung von Furcht und Grausamkeit zu errichten, ist nur dann ‚reduk­tio­nis­tisch‘, wenn man körper­licher Erfahrung schon von vornherein mit Verachtung gegenüber steht.“ Hier schreibt eine „Davon­ge­kommene“ vor dem Hinter­grund von Holocaust und Totalitarismus.

Der positive Gehalt des Libera­lismus: die Bürgerschaft

Nach Shklar ist die Geschichte eine Abfolge von Tyran­neien. Die Existenz liberaler Demokratie sei eine Ausnahme, die es zu hegen und zu pflegen gelte. „Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass selbst die Verei­nigten Staaten erst nach dem Ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg ein liberales Land wurden – und auch dann waren sie es oft nur dem Namen nach.“ Um Menschen­rechte zu vertei­digen, brauche es deshalb nicht nur robuste Insti­tu­tionen, sondern vor allem ein feines Sensorium der Bürger gegenüber Macht­miss­brauch – welcher im übrigen von staat­lichen Bürokratien (und Geheim­diensten) ebenso ausgehen könne wie von Konzernen. Alles andere als eine Rousseausche Träumerin, hatte Judith Shklar hier den ambiva­lenten Charakter mensch­lichen Tuns bereits mitge­dacht. „Ein Minimum an Furcht ist in jedem Rechts­system voraus­ge­setzt und der Libera­lismus der Furcht hofft keineswegs auf das Ende von Staaten, die öffent­lichen Zwang anwenden. Dies muss jedoch in seinem Umfang reguliert und von rechtlich etablierten Fairness­regeln begrenzt sein, so dass zur Minimal­furcht, die zur Rechts­voll­stre­ckung notwendig ist, nicht noch Willkür hinzukommt.“

Zwischen zynischer Staats­räson und einem allzu blauäu­gigen Bürger­rechts­li­be­ra­lismus findet Judith Shklar eine Mittel­po­sition, die gerade in der Debatte um Terror­be­kämpfung und das Treiben der Geheim­dienste von Nutzen sein könnte: „Auch sollten wir nicht zulassen, dass mehr Handlungen krimi­na­li­siert werden als für unsere gegen­seitige Sicherheit erfor­derlich ist.“ Wer will, kann das  auch auf aktuelle staat­liche Entschei­dungen in punkto Gesund­heits­po­litik beziehen.

Das Erfor­der­liche wird von Shklar keineswegs geleugnet. So spielt sie auch politische Freiheit und soziale Fairness nicht gegen­ein­ander aus. Schließlich gelte es, keines­falls jene ökono­mische Macht zu vergessen, „die Wirtschafts­un­ter­nehmen auf sich vereinen. Sie mit einem belie­bigen Einzel­han­dels­ge­schäft zu vergleichen, ist nicht wert, ernsthaft disku­tiert zu werden.“ Bevor die warnende Begriffs­klärung jedoch mit Beifall von tradi­tionell-links überschüttet werden kann, wird hinzu­gefügt: „Nichts gibt einer Person mehr soziale Mittel in die Hand als rechtlich garan­tiertes Eigentum. Es ist ein unver­zicht­bares und ausge­zeich­netes Mittel, um die Unabhän­gigkeit des Einzelnen zu sichern, den langen Arm der Regierung auf Abstand zu halten und soziale Macht zu teilen.“

Das ist eine Position, die auch bei Grals­hütern der „reinen“ Markt­wirt­schaft und Jüngern Friedrich August von Hayeks für Stirn­runzeln sorgen dürfte. Aber gerade hier liegt der positive Gehalt von Shklars Libera­lismus: das Privat­ei­gentum ist nicht Endzweck, sondern „Mittel“, um zum Wohle des Indivi­duums Macht­aus­übung möglichst breit zu streuen. Mehr noch: „Wo immer Zwangs­mittel nicht fern sind – bestehen sie nun in ökono­mi­scher Macht (wie vor allem der Preis­fest­setzung oder dem Vermögen, Menschen zu beschäf­tigen oder sie zu entlassen) oder in militä­ri­scher Macht in all ihren Spiel­arten –, ist es die Aufgabe einer liberalen Bürger­schaft dafür zu sorgen, dass niemand durch auch nur einen einzigen privaten Akteur oder Staats­ver­treter einge­schüchtert wird.“

Das Privat­ei­gentum ermög­licht politische Freiheit und lässt eine Bürger­schaft entstehen. Diese verhandelt das Spannungs­ver­hältnis zwischen Individuum und Staat, Markt und Moral in öffent­lichen Debatten Tag für Tag aufs Neue. Was der Philosoph Michéa das „Unbehagen“ an der liberalen Ordnung nennt, nimmt die Bürger­schaft schlicht zum Anlass, Politik zu betreiben.

Somit ist in Judith Shklar eine ebenso unprä­ten­tiöse wie skrupulöse Denkerin zu entdecken. Es wäre inter­essant zu wissen, wie Jean-Claude Michéa in einer imagi­nären Dispu­tation auf ihre Überle­gungen antworten würde. Das „Reich des kleineren Übels“ besitzt jeden­falls mehr Provinzen und konkur­rie­rende Metro­polen als seinen gängigen Freunden und Feinden bewusst ist.

Judith Shklar: Der Libera­lismus der Furcht. Essay. Mit einem Vorwort von Axel Honneth und Essays von Michael Walzer, Seyla Benhabib und Bernhard Williams. Heraus­ge­geben und aus dem Ameri­ka­ni­schen übersetzt von Hannes Bajohr. 176 S., brosch., Euro 14, 80

Jean-Claude Michèa: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesell­schaft. Aus dem Franzö­si­schen von Nicola Denis. 192 Seiten, geb., Euro 19,90

Beide Bücher erschienen im Verlag Matthes & Seitz, Berlin.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.