Debatte: Ist der Liberalismus nur das kleinere Übel?
Nach den Verheerungen des 20. Jahrunderts sind die utopischen Pfade rechts und links verstellt. Ist der Liberalismus nur die letzte verbliebene Ordnung, das karge Minimalprogramm einer desillusionierten Moderne?
Diese giftige, provokative Frage stellt uns der französische Anarchophilosoph Jean Claude Michéa in seinem Essay „Das Reich des kleineren Übels“. Marko Martin hat den Band für LibMod gelesen und ihn mit Judith Shklars populärem „Liberalismus der Furcht“ verglichen – das Ergebnis ist verblüffend. Während Michéa mit der liberalen Moderne hadert, zieht die praktisch veranlagte Shklar aus dem Jahrhundert der Totalitarismen einen auf der Hand liegenden Schluss: Die Spannungsverhältnisse zwischen Markt und Moral, Individuum und Staat müsse man nicht im Geist auflösen und zu einer Einheit bringen; vielleicht genüge es, wenn eine Bürgerschaft diese in öffentlicher Debatte Tag für Tag aufs Neue austariere. Die vorliegende Doppelrezension kann man somit als Plädoyer lesen, etwas mehr handfeste Politik zu betreiben.
Verteidiger des politischen Liberalismus beziehen sich gern auf Ideen, die im Unterschied zu den Vorstellungen der klassischen Linken auf anthropologisch begründeter Skepsis beruhen: Der Mensch ist des Mensch Wolf, folglich braucht es keine hochfliegenden Utopien, sondern robuste Gesetze und Institutionen, welche die Menschen voreinander schützen. Darauf beruht der liberale Rechtsstaat, der Gedanke der Gewaltenteilung und der weltanschaulichen Neutralität des Staates.
Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa leugnet diese Erfolgsgeschichte nicht. Geboren 1950, hatte er bereits mit 26 Jahren die moskauhörige Kommunistische Partei verlassen, angeekelt von deren Rechtfertigung der Sowjetdiktatur. Sein Gewährsmann, dessen Denken er im Lauf der Jahre zahlreiche Aufsätze gewidmet hat, ist stattdessen George Orwell, ein früher Warner vor Versuchen, die Menschen ihrer Individualität zu berauben. Doch ist vor dem Hintergrund der totalitären Kollektivideen von Kommunismus, Nationalsozialismus und Islamismus die liberale Idee wirklich „alternativlos“, da sie das Individuum nicht gängelt und ideologisch zurichtet? Ist die liberale Demokratie die einzige Ordnung, die uns nach dem 20. Jahrhundert noch bleibt?
Michéa: Das Unbehagen als Merkmal der liberalen Ordnung
Jean-Claude Michéa setzt hier ein dickes Fragezeichen; seine Streitschrift „Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft“ ist das Resultat seines Unbehagens. „Wenn der liberale Staat auf ewig eine philosophisch leere Form bleiben soll, wer anderes als der Markt wäre dann dazu berufen, die weißen Seiten zu füllen und es schließlich auf sich zu nehmen, den Menschen ‘Moral‘ angedeihen zu lassen?“
Will heißen: Politisch motivierte Ideologien werden keineswegs durch etwas Herrschaftsfreies ersetzt, sondern durch den nicht minder ideologischen Glauben an die Allmacht und Unumstößlichkeit des Marktes. Dieser dominiere dann selbst da, wo wir es gar nicht vermuten würden: „Unser aller narzisstischer Wunsch“, die Gesellschaft perfekter, gerechter, diskriminationsfreier und das Essen biologischer, ökologischer etc. zu machen, finde seine geradezu logische Entsprechung im Marktradikalismus eines permanenten Wachstums um jeden Preis. Die liberale Moral als die ins Totale ausufernde Steigerungslogik? Die das Lied von der besseren Zukunft ebenso stur singt wie die Ideologien der Totalitären? Das ist eine spannende, provokative These. Wie schade, dass Michéa sie nicht ausführt und die Debatte nicht riskiert. Denn auch wenn vieles gegen diese Engführung spricht: Wie könnte man mit diesem Gedanken den manchmal unerträglich selbstgerechten (und vor allem völlig schizophrenen) Antikapitalismus unserer „Öko-Bourgeosie“ konterkarieren!
Leider zeigt Jean-Claude Michéa kaum Interesse an Paradoxa, Überschneidungen und unerwarteten Verknüpfungen. Stattdessen auch bei ihm: das Altgebäck traditioneller Wachstumskritik. Dabei dürfte gerade für einen Intellektuellen wie ihn, der Gerechtigkeit durchaus konventionell als Verteilungsgerechtigkeit definiert, die Frage nicht ganz uninteressant sein, welche Art (Wachstums-)Ökonomie genug erwirtschaftet, damit genügend verteilt werden kann. Dass er selbst seit der Pensionierung 2019 zusammen mit seiner Frau auf einem Bauernhof lebt und sich größtenteils autark ernährt, versteht dieser unabhängige Denker hoffentlich nicht als hinreichende Basis für eine gerechte, globale Wirtschaftsordnung.
Ohnehin existiert in der vermischten Wirklichkeit der von ihm behauptete Grundkonflikt zwischen Markt und Moral lediglich in abgeschwächter Form. Man müsste jetzt nicht einmal die weltweit von Staaten durchgesetzten Einschränkungen während der Coronapandemie ins Feld führen, um das Zerrbild vom angeblich „alles dominierenden Markt“ zu relativieren. Zeugt das gegenwärtige Regierungshandeln nicht gerade vom „Primat des Politischen“? Zwar ist Michéas Buch lange vor der Krise veröffentlicht worden; geschrieben wurde es allerdings im Frankreich eines quasi seit Jahrhunderten dominierenden Etatismus, in dem „der Markt“, gegen den der Autor so wortreich argumentiert, nun gewiss nie eine unangefochtene Hauptrolle gespielt hat.
Gleichwohl ist Jean-Claude Michéa immer dann ein inspirierender Augenöffner, wenn er Verunsicherung entstehen lässt. Denn dies ist ja ein realistisches Menetekel: Wenn die liberale Demokratie die Churchillsche Weisheit vergisst, dass sie „die schlechteste Regierungsform ist – abgesehen von allen anderen Formen“, dann erstarrt sie in Selbstgerechtigkeit und läuft Gefahr, „nach und nach sämtliche Merkmale ihres Erzfeindes“ – der totalitären Ideologie – „zu übernehmen und sich künftig als schöne neue Welt verehren zu lassen.“ Um Michéas These zusammenzufassen: das Unbehagen an ihr ist das konstitutive Merkmal einer liberalen Ordnung. Freilich neigt sie dazu, auf dieses Reflexionsniveau allzu selbstgerecht zu verweisen.
Während Michéa also warnt, das Wort vom „kleineren Übel“ routiniert und saturiert im Munde zu führen, rekurriert die 1992 verstorbene amerikanische Philosophin Judith Shklar auf dem fordernden, positiven Gehalt liberalen Denkens und Tuns.
Liberalismus als karges Minimalprogramm? Im Gegenteil!
Ihr bereits 1989 geschriebenes, doch erst seit ein paar Jahren auf deutsch vorliegendes Buch „Liberalismus der Furcht“ macht trotz des defensiv wirkenden Titels Hoffnung, die politischer Theorie von der Freiheit wieder dort zu verorten, wo ihn Intellektuelle wie Hannah Arendt, Raymond Aron, Ralph Dahrendorf oder Michael Ignatieff ohnehin sahen: An der Seite des verantwortungsvollen Individuums, das sich kollektiven Zuschreibungen verweigert, aber dennoch – und gerade deshalb – für das Gemeinwesen tätig wird. Wo Michéa etwas voreilig unaufhebbare Widersprüche zwischen Markt und Moral, Individuum und Gemeinschaft konstatiert, spürt Judith Shklar das Potential des Liberalismus auf. 1928 in einer jüdischen Familie in Riga geboren und dem Stalinismus und der NS-Okkupation im letzten Moment entkommen, hatte sie in Cambridge/Massachusetts gelehrt und dort jenseits aller Zeitströmungen ihren empathischen Begriff von Liberalismus vermittelt. Für sie leitet sich Liberalismus keineswegs zuvörderst aus dem Wunsch nach freien Märkten ab, sondern aus der Erfahrung der blutigen Religionskriege. Die daraus folgende Konsequenz: den Streit um letzte Wahrheiten aus dem Alltagsdiskurs heraus zu halten und stattdessen Sorge zu tragen, dass jeder ohne Furcht vor Grausamkeit leben kann. Ist das ein karges Minimalprogramm? Jenes „Reich des kleineren Übels“, wie Michéa schreibt?
Im Gegenteil, führt Shklar in ihrem Essay aus, der in den USA längst als Standartwerk gilt und von Kollegen wie Michael Walzer eingehend rezipiert wurde. Gleich zu Anfang besteht die Autorin zwar darauf, dass der Liberalismus eben keine „Offenbarungsreligion“ sei, noch nicht einmal „eine ganze Philosophie des Lebens“, sondern allenfalls ein praktikables, zu Sinngebungsmelodien unfähiges Instrument: „Abgesehen von dem Verbot, die Freiheit anderer zu beeinträchtigen, besitzt der Liberalismus keine positiven Lehrsätze darüber, wie Menschen ihr Leben zu führen haben.“
Nun könnte man meinen, auch Shklar bastle am „Reich des kleineren Übels“; wenn sie – wie es im Titel ihres Essays anklingt – ein von Furcht geprägtes Menschenbild annimmt. Doch derlei Einwände kontert Shklar mit einem unschlagbaren Satz, der auch lebensweltlich überzeugt: „Eine politische Ordnung auf der Vermeidung von Furcht und Grausamkeit zu errichten, ist nur dann ‚reduktionistisch‘, wenn man körperlicher Erfahrung schon von vornherein mit Verachtung gegenüber steht.“ Hier schreibt eine „Davongekommene“ vor dem Hintergrund von Holocaust und Totalitarismus.
Der positive Gehalt des Liberalismus: die Bürgerschaft
Nach Shklar ist die Geschichte eine Abfolge von Tyranneien. Die Existenz liberaler Demokratie sei eine Ausnahme, die es zu hegen und zu pflegen gelte. „Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass selbst die Vereinigten Staaten erst nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg ein liberales Land wurden – und auch dann waren sie es oft nur dem Namen nach.“ Um Menschenrechte zu verteidigen, brauche es deshalb nicht nur robuste Institutionen, sondern vor allem ein feines Sensorium der Bürger gegenüber Machtmissbrauch – welcher im übrigen von staatlichen Bürokratien (und Geheimdiensten) ebenso ausgehen könne wie von Konzernen. Alles andere als eine Rousseausche Träumerin, hatte Judith Shklar hier den ambivalenten Charakter menschlichen Tuns bereits mitgedacht. „Ein Minimum an Furcht ist in jedem Rechtssystem vorausgesetzt und der Liberalismus der Furcht hofft keineswegs auf das Ende von Staaten, die öffentlichen Zwang anwenden. Dies muss jedoch in seinem Umfang reguliert und von rechtlich etablierten Fairnessregeln begrenzt sein, so dass zur Minimalfurcht, die zur Rechtsvollstreckung notwendig ist, nicht noch Willkür hinzukommt.“
Zwischen zynischer Staatsräson und einem allzu blauäugigen Bürgerrechtsliberalismus findet Judith Shklar eine Mittelposition, die gerade in der Debatte um Terrorbekämpfung und das Treiben der Geheimdienste von Nutzen sein könnte: „Auch sollten wir nicht zulassen, dass mehr Handlungen kriminalisiert werden als für unsere gegenseitige Sicherheit erforderlich ist.“ Wer will, kann das auch auf aktuelle staatliche Entscheidungen in punkto Gesundheitspolitik beziehen.
Das Erforderliche wird von Shklar keineswegs geleugnet. So spielt sie auch politische Freiheit und soziale Fairness nicht gegeneinander aus. Schließlich gelte es, keinesfalls jene ökonomische Macht zu vergessen, „die Wirtschaftsunternehmen auf sich vereinen. Sie mit einem beliebigen Einzelhandelsgeschäft zu vergleichen, ist nicht wert, ernsthaft diskutiert zu werden.“ Bevor die warnende Begriffsklärung jedoch mit Beifall von traditionell-links überschüttet werden kann, wird hinzugefügt: „Nichts gibt einer Person mehr soziale Mittel in die Hand als rechtlich garantiertes Eigentum. Es ist ein unverzichtbares und ausgezeichnetes Mittel, um die Unabhängigkeit des Einzelnen zu sichern, den langen Arm der Regierung auf Abstand zu halten und soziale Macht zu teilen.“
Das ist eine Position, die auch bei Gralshütern der „reinen“ Marktwirtschaft und Jüngern Friedrich August von Hayeks für Stirnrunzeln sorgen dürfte. Aber gerade hier liegt der positive Gehalt von Shklars Liberalismus: das Privateigentum ist nicht Endzweck, sondern „Mittel“, um zum Wohle des Individuums Machtausübung möglichst breit zu streuen. Mehr noch: „Wo immer Zwangsmittel nicht fern sind – bestehen sie nun in ökonomischer Macht (wie vor allem der Preisfestsetzung oder dem Vermögen, Menschen zu beschäftigen oder sie zu entlassen) oder in militärischer Macht in all ihren Spielarten –, ist es die Aufgabe einer liberalen Bürgerschaft dafür zu sorgen, dass niemand durch auch nur einen einzigen privaten Akteur oder Staatsvertreter eingeschüchtert wird.“
Das Privateigentum ermöglicht politische Freiheit und lässt eine Bürgerschaft entstehen. Diese verhandelt das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat, Markt und Moral in öffentlichen Debatten Tag für Tag aufs Neue. Was der Philosoph Michéa das „Unbehagen“ an der liberalen Ordnung nennt, nimmt die Bürgerschaft schlicht zum Anlass, Politik zu betreiben.
Somit ist in Judith Shklar eine ebenso unprätentiöse wie skrupulöse Denkerin zu entdecken. Es wäre interessant zu wissen, wie Jean-Claude Michéa in einer imaginären Disputation auf ihre Überlegungen antworten würde. Das „Reich des kleineren Übels“ besitzt jedenfalls mehr Provinzen und konkurrierende Metropolen als seinen gängigen Freunden und Feinden bewusst ist.
Judith Shklar: Der Liberalismus der Furcht. Essay. Mit einem Vorwort von Axel Honneth und Essays von Michael Walzer, Seyla Benhabib und Bernhard Williams. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr. 176 S., brosch., Euro 14, 80
Jean-Claude Michèa: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Aus dem Französischen von Nicola Denis. 192 Seiten, geb., Euro 19,90
Beide Bücher erschienen im Verlag Matthes & Seitz, Berlin.
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