Timothy Snyder: „Deutschlands historische Verantwortung“
Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik stand auch die Ukraine. Die „Shoa durch Kugeln“ wäre ohne den Ostfeldzug von Wehrmacht und SS nicht möglich gewesen. Der Historiker Snyder fasst die politische Verantwortung, die aus dem Holocaust der Ukraine gegenüber erwächst, zusammen.
Warum sollten wir heute, wo in ganz Europa der Populismus blüht, wo die Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika von innen unter Druck steht und wo Russland militärisch in die Ukraine eingedrungen ist – warum sollten wir gerade in dieser turbulenten Zeit über historische Verantwortung sprechen?
Die Antwort ist: Es sind eben diese Probleme, weshalb wir über historische Verantwortung sprechen müssen. Es gibt viele Ursachen für die Konflikte innerhalb der Europäischen Union, es gibt viele Gründe für die Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Einer davon ist das Unvermögen, mit bestimmten Aspekten der Geschichte umzugehen.
Lassen Sie mich über Deutschland sprechen, indem ich mit den Vereinigten Staaten beginne. Warum haben wir die Regierung, die wir jetzt haben? Wie können wir 2017 einen amerikanischen Präsidenten haben, der sich unverantwortlich in rassistischer Weise äußert? Die Antwort lautet: Weil wir uns mit wichtigen Fragen unserer Vergangenheit nicht auseinandergesetzt, keine historische Verantwortung übernommen haben.
Hitlers Faszination für Sklaverei
Amerika wurde zu einem großen Teil durch Sklavenarbeit errichtet. Es ist gerade dieses Modell der Grenzkolonisation, des von Sklaven errichteten Imperiums, das Hitler bewunderte. Für Hitler stand fest, wer im deutschen Ostimperium die rassisch Niedergestellten, die Sklaven, sein sollten. Die theoretische Antwort gab er in „Mein Kampf“, die praktische ab 1941 im Ostfeldzug: Die Ukrainer.
Hitlers Idee war eine auf Sklaverei beruhende Kolonialherrschaft in Osteuropa, in dessen Zentrum die Ukraine stehen sollte. Sie stand im Zentrum seiner Kolonisations- und Versklavungspolitik. Die Ukrainer sollten behandelt werden wie „Afrikaner“, wie deutsche Dokumente aus dem Krieg zeigen. Weil die Eroberung der Ukraine ein zentrales Ziel für Hitler war, ist es sinnlos, an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern, ohne die Ukraine zu berücksichtigen. Jedes Gedenken, das an die ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Absichten des Nazi-Regimes erinnert, muss daher mit der Ukraine beginnen.
Hitlers Politik konzentrierte sich auf die Ukraine: Der Hungerplan mit der Vorstellung, zig Millionen Menschen im Winter von 1941 verhungern zu lassen; der Generalplan Ost mit der Idee, in den folgenden Jahren weitere Millionen Menschen gewaltsam umzusiedeln oder zu töten und schließlich die Endlösung, Hitlers Plan von der Vernichtung der Juden. All diese Pläne erforderten die Eroberung der Ukraine.
Folgen der deutschen Besatzung für die Ukraine
Die Folgen für die Ukraine waren katastrophal: Dreieinhalb Millionen Zivilisten der Sowjet-Ukraine wurden Opfer deutscher Tötungspolitik zwischen 1941 und 1945. Hinzu kommen weitere dreieinhalb Millionen Ukrainer, die als Soldaten der Roten Armee oder indirekt an den Folgen des Krieges starben.
Es ist wichtig, an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu erinnern. Aber im Zentrum dieses Vernichtungskriegs stand nicht nur Russland – sondern die Ukraine. Wenn wir über deutsche historische Verantwortung für Russland sprechen wollen, müssen wir mit der Ukraine beginnen. Die größte zerstörerische Praxis des deutschen Kriegs traf die Ukraine. Wenn es ernsthaft um die deutsche Verantwortung für den Osten gehen soll, muss deshalb die Ukraine an erster Stelle genannt werden.
Shoa: Historische Verantwortung bedeutet Verantwortung für die Ukraine
Der Holocaust ist integral verbunden mit dem Vernichtungskrieg und dem Bestreben, die Ukraine zu erobern. Hätte Hitler nicht die koloniale Vorstellung gehabt, einen Krieg in Osteuropa zu führen, um die Ukraine zu kontrollieren, hätte es den Holocaust nicht gegeben. Es war dieser Plan, der die deutsche Staatsmacht nach Osteuropa brachte, wo die europäischen Juden mehrheitlich lebten. Erst der Krieg in der Ukraine brachte Wehrmacht, SS und die deutsche Polizei an Orte, wo Juden massenhaft umgebracht werden konnten. Es waren Orte wie Babyn Jar oder Kamjanez-Podilskyj, wo 1941 erstmals in der Geschichte der Menschheit zehntausende Menschen durch Massenerschießungen ermordet wurden. Hier wurde den Nationalsozialisten klar, dass etwas wie der Holocaust möglich war.
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass jeder Deutsche, der den Gedanken der Verantwortung für den Holocaust ernst nimmt, auch die Geschichte der deutschen Okkupation der Ukraine ernst nehmen muss.
Verantwortung übernehmen, um Deutschland zu helfen
Als ich im September 2016 in der Ukraine war, um über Babyn Jar zu sprechen, als ich vor Millionen ukrainischen Fernsehzuschauern stand und versuchte, über diese Dinge zu sprechen, war mein wesentlicher Punkt: gedenkt Babyn Jar nicht allein wegen der Juden, gedenkt Babyn Jar auch um Eurer selbst willen. Ihr gedenkt des Holocausts‘, weil es Teil des Aufbaus einer verantwortlichen Gesellschaft und hoffentlich in Zukunft funktionierenden Demokratie in der Ukraine ist. Das gilt für die Ukraine. Aber das gilt auch für mich. Und das gilt für uns alle.
Der Zweck des Gedenkens der deutschen Verantwortung für sechseinhalb Millionen Tote, hervorgerufen durch den deutschen Krieg gegen die Sowjetunion, ist nicht zuerst, der Ukraine zu helfen. Die Ukrainer sind sich dieser Verbrechen bewusst. Die Ukrainer leben damit, die Kinder, Enkel, Urenkel der Generation leben mit dem Erbe dieser Verbrechen.
Es ist Deutschland, das sich nicht leisten kann, wichtige Teile seiner Geschichte falsch zu verstehen, denn es ist die verbliebene führende Demokratie des Westens. Deutschland muss geholfen werden in diesem historischen Moment, in dem wir mit dem Brexit zu tun haben, mit erstarkenden Populisten, mit den niedergehenden und immer weniger demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika. Genau in diesem Moment kann Deutschland es sich nicht leisten, wichtige Teile seiner Geschichte falsch zu verstehen.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor im Juni 2017 zum Thema „Deutschlands historische Verantwortung für die Ukraine“ im Deutschen Bundestag gehalten hat.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.