Israels Annexionspläne: Was die EU tun kann
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat die Annexion von Teilen des Westjordanlandes angekündigt. Die Unterstützung seines Plans durch die Trump-Administration der Vereinigten Staaten bezeichnete er als „historische Gelegenheit, wie es sie seit 1948 nicht gab“. Die Annexion palästinensischer Gebiete könnte den Nahost-Konflikt neu entfachen. LibMod-Kolumnist Richard C. Schneider erörtert, welche Möglichkeiten die Europäische Union hätte, die israelische Regierung von ihrem Vorhaben abzubringen.
Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, wieso die Möglichkeiten der EU und damit auch Deutschlands gering sind, im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln, oder gar die Israelis zu einer bestimmten Politik zu bewegen.
Auch wenn nach wie vor viele Israelis ihre Wurzeln in Europa haben, auch wenn man sehr gern nach Europa reist, insbesondere nach Berlin – das tiefe Misstrauen gegenüber Europa liegt nicht nur in der Geschichte der Shoah begründet, sondern vor allem am Auftreten und Handeln der EU und ebenso Deutschlands. Viele Israelis halten die europäischen Reaktionen zum Konflikt für einseitig. Während der drei Gaza-Kriege hat Europa immer wieder zur Zurückhaltung beider Seiten aufgerufen, ohne darauf hinzuweisen, dass es die Hamas war, die vor allem 2014 die kriegerischen Auseinandersetzungen begonnen hatte. Selten bis gar nicht äußern sich die Europäer dazu, dass die radikal-islamische Organisation Israel vernichten will. Die Tatsache, dass der ständige Raketenbeschuss Südisraels aus dem Gaza-Streifen nur selten erwähnt wird, sowohl in den Medien als auch in einer entsprechend formulierten Politik, dass viele europäische NGOs BDS nah stehen oder gar Terrorismus indirekt finanzieren, wie Israel immer wieder erklärt, kommen als Ursachen des Misstrauens hinzu. Und es geht noch weiter: die meisten europäischen Regierungen verstehen nach Ansicht vieler Israelis die Sicherheitsbedürfnisse Israels nicht oder berücksichtigen sie nicht genügend in ihren Bestrebungen „Frieden“ zu schaffen und eine Zwei-Staaten-Lösung durchzusetzen. Last but not least: die meisten Israelis halten die Europäer für naiv, sie verstünden die Komplexität des Konfliktes nicht und meinten, mit ein bisschen Dialog und Verständigung sei Frieden möglich.
Was würde eine Annexion für die Juden in Deutschland bedeuten? Zunächst einmal ein weiteres Anwachsen antisemitischer Auswüchse. Gleichzeitig aber wären sie in einer Zwickmühle, denn ihre Loyalität gegenüber Israel wäre auf eine harte Probe gestellt.
Es ist nicht wichtig, ob diese israelische Ansichten richtig sind oder falsch. Sie bestimmen den Blick auf Europa – und einiges davon ist ja durchaus nicht so abwegig – und insofern ist ganz klar: die EU hat wenig Hebel, um eine mögliche Annexion der besetzten Gebiete, wie sie entsprechend des „Friedensplans“ von US-Präsident Trump vorgesehen ist, zu verhindern. Zumindest nicht politisch. Wirtschaftliche Konsequenzen sind etwas anderes, doch ihnen haftet der Geruch des „Boykotts“ an und dies ist im Zusammenhang mit dem jüdischen Staat schon aus historischen Gründen problematisch. Die neue Regierung Netanyahu hat angekündigt, eine Annexion ab dem 1. Juli zu erwägen, die Zeit scheint also zu drängen.
Annexion: Niemand könnte Israel davon abhalten
Was also tun? Sollten einige europäische Staaten – wie jetzt schon angedroht – bestimmte Privilegien für Israel oder bestimmte Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aufkündigen (was nur eine schöne Verklausulierung von Boykott-Maßnahmen wäre). Forschungsprojekte wie Horizon 2020 könnten beeendet werden. Das wäre schmerzhaft, würde aber nur dann wirklich „Wirkung“ entfalten, wenn die Regierung Netanyahu parallel sich mit weiteren Problemen für den Fall einer Annexion herumschlagen müsste, etwa das Ende des Friedensvertrages mit Jordanien, das Ende der gar nicht mehr so heimlichen Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien zum Beispiel, oder auch eine neue, dritte Intifada und erneute Selbstmordattentate oder gar Raketen aus Gaza.
Doch wer all dies bis zum Ende durchdekliniert, muss ernüchtert feststellen, dass selbst dann Israel sich immer noch entscheiden könnte, die Annexion zumindest teilweise durchzuziehen. Zumal Jordanien und Saudi Arabien an den Beziehungen mit Israel viel gelegen ist. Sollte König Abdullah von Jordanien den Friedensvertrag zerreißen, so hätte das für ihn möglicherweise schlimmere Folgen als für Israel, da er auf die militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit mit Jerusalem angewiesen ist, um seinen Staat vor islamistischem Extremismus zu bewahren. Und seine Armee wäre absolut nicht in der Lage, einen Krieg mit Israel loszutreten. Riad wird vielleicht verbal zum großen Schlag ausholen, doch am Ende brauchen die Saudis und die Israelis einander im Kampf gegen ihren gemeinsamen Feind: Iran. Das dürfte Mohammad Bin Salman wichtiger sein als Palästina. Und selbst wenn es neue palästinensische Terrorangriffe oder gar einen vierten Waffengang mit Gaza geben sollte – alles ist schon mal dagewesen, Israel kann damit umgehen, so mag die Regierung Netanyahu eventuell glauben.
Dennoch ist noch lange nicht klar, ob Netanyahu den Schritt wagt und eine Annexion vollzieht. Die erste Frage wäre: Wozu? De facto sind die Gebiete längst annektiert, auch wenn das de jure so nicht formuliert ist. Eine Zwei-Staaten-Lösung wird es nicht mehr geben, daran ist nicht nur die Siedlungspolitik Israels schuld, sondern auch die Zerstrittenheit und Unfähigkeit der palästinensischen Politiker, die – wie einst schon der israelische Außenminister Abba Eben über Yassir Arafat sagte – „keine Gelegenheit auslassen, um eine Gelegenheit auszulassen“.
„Der Hass auf Europa würde sich ins Unermessliche steigern“
Der Ist-Zustand garantiert Ruhe. Das Management des Konflikts, der niemanden mehr wirklich interessiert, funktioniert. Zumindest aus Sicht der Israelis. Wozu also Staub aufwirbeln und sich den Ärger ins Haus holen, wenn man mit der viel größeren Gefahr – Hizbollah und Iran – umgehen muss und sich obendrein auch noch mit dem Coronavirus und einer deswegen gebeutelten Wirtschaft herumschlägt?
Außerdem könnte es durchaus sein, dass Washington nicht wirklich mitspielen wird bei der Annexion. Schon kurz nach der Verkündung des Friedensplans hat die Trump-Administration Netanyahu eingebremst, als er das Jordantal sofort annektieren wollte.
Und schließlich gibt es da auch noch Benny Gantz und seine Blau-Weiß-Leute in der neuen Koalition, die zwar nichts gegen eine Annexion hätten, aber auf keinen Fall ein Ende des Friedensvertrages mit Jordanien und eventuell sogar mit Ägypten riskieren wollen. Zumindest sagen sie das, um eine Hintertür zu haben gegen die endgültige Einverleibung des Gebiets. Denn das würde bedeuten, dass eine Annexion ja nicht zustande käme, da Jordanien den Frieden aufkündigen will. Insofern hätte Blau-Weiß einer Annexion zugestimmt, aber leider geht’s halt nicht wegen der Araber... Wie konsequent Blau-Weiß aber im Zweifelsfall wäre – das muss man angesichts der dubiosen Entscheidung von Benny Gantz, entgegen allen Versprechungen an seine Wähler doch noch mit Netanyahu in einer Koalition zu sitzen, erst noch abwarten. Umfallen ist das neue Markenzeichen dieser politischen Bewegung geworden, Brechen von Versprechen und politischen Positionen.
Doch was würde geschehen, wenn Israel das Westjordanland oder wenigstens Teile davon annektieren würde, weil es eine „historische Gelegenheit für Israel“ sei, wie er immer wieder betont?
Die Reaktionen der palästinensischen Seite und vor allem auch der islamistischen Extremisten im gesamten Nahen Osten und des Iran sind klar: der Hass auf die USA, aber auch auf die Europäer wird sich ins Unermessliche steigern – falls dies überhaupt noch möglich ist. Auf die Europäer deshalb, weil sie – in den Augen dieser Extremisten – nicht genug getan haben, um Israel daran zu hindern, weil sie sozusagen heimliche „Komplizen“ der Annexion waren, da sie dem jüdischen Staat immer alles erlaubten. Was diese Interpretation gerne unterschlägt, ist die Unmöglichkeit einem Staat etwas zu erlauben oder auch nicht. Man kann Maßnahmen einsetzen, Boykotte initiieren, aber dass Letztere kaum etwas bewirken, sieht man ja am Beispiel Irans, das sich kaum beeindrucken lässt von den Sanktionen der USA, selbst wenn es der Bevölkerung deswegen schlechter und schlechter geht. Dennoch, im Falle einer Annexion wäre der Westen im Nahen Osten endgültig diskreditiert. Russland oder China könnten allerdings als „faire Broker“ nicht einspringen, da ihnen wiederum Israel nicht vertraut. Mit anderen Worten: Der Nahe Osten wäre nur noch ein Spielball von Interessen, aber es wäre niemand mehr da, der vermitteln könnte.
Juden in Deutschland sind zerrissen
Und was würde eine Annexion für die Juden in Deutschland bedeuten? Zunächst einmal mit Sicherheit ein weiteres Anwachsen antisemitischer Auswüchse, vor allem von Links und von muslimischer Seite. Gleichzeitig aber wären die deutschen Juden in einer Zwickmühle. Ihre Loyalität gegenüber Israel wäre auf eine harte Probe gestellt. Gerade angesichts des wachsenden Antisemitismus in Deutschland und im Rest Europas ist Israel als „sicherer Hafen“ zumindest theoretisch von wachsender Bedeutung. Doch es ist ja keine Frage, dass ebenso wie in den USA auch hierzulande viele Juden die Politik Netanyahus nicht gutheißen, selbst wenn sie das öffentlich nicht formulieren würden, um sozusagen den Antisemiten keine „Munition zu liefern“. Für Juden ist die Wahrung von Liberalismus und Demokratie etwas fundamental Wichtiges. Ohne sie könnten sie nicht in Frieden und Sicherheit leben. Das wissen sie nur zu gut. Und so ist es kein Wunder, dass etwa in den USA die jüdische Gemeinschaft zu 70% demokratisch wählt, dass man sich für andere Minderheiten einsetzt und gegen Donald Trump kämpft, der – laut Netanyahu – doch der beste Präsident sei, den es je für Israel gegeben habe. Doch das interessiert die amerikanischen Juden in der Mehrheit nicht. Sie können sich schon lange nicht mehr mit den antidemokratischen, nationalistischen und tribalen Entwicklungen im jüdischen Staat identifizieren. Ihr Judentum definieren sie diametral anders.
Deutsche Juden mögen da konservativer sein in ihrer Gesamtheit. Das hat soziologische Gründe, das hat etwas mit der Vergangenheit Deutschlands zu tun, mit der Tatsache, dass man sich in Deutschland nicht so zuhause und sicher fühlt, wie etwa die US-Juden in Amerika. Aber auch sie bekennen sich zu Liberalismus und Demokratie und erkennen, dass sich Israel verändert, nicht nur im Umgang mit den Palästinensern, sondern auch innenpolitisch, mit dem wachsenden Rechtsruck hin zu einer „illiberalen Demokratie“. Könnten die Juden in Deutschland dann Maßnahmen gegen Israel von Seiten der Bundesregierung gut finden, sie gar begrüßen? Vielleicht privat. In Funktionärskreisen und in der Öffentlichkeit mit Sicherheit nicht. Denn die Diaspora in Deutschland ist, wie der israelische Schriftsteller A.B. Yehoshua das einst formulierte, eine „neurotische Lösung“: Man ist in einem Staat „zuhause“, dem man tief innen nicht wirklich vertraut, weil, wie man meint, die Mehrheitsgesellschaft denjenigen Staatsbürgern gegenüber, die nicht ethnisch Deutsche sind, immer noch mit Vorbehalten gegenübertritt. Und deswegen kann man nicht so auftreten, wie man das vielleicht möchte, man „versteckt“ sich, in vielerlei Hinsicht. Ein jüdischer Deutscher zu sein, ist einfach nicht dasselbe wie ein jüdischer US-Amerikaner zu sein, ja nicht einmal dasselbe wie ein französischer oder britischer Jude. Und solange das so bleibt, wird das deutsche Judentum zumindest nach außen seine unbedingte Loyalität gegenüber Israel aufrecht erhalten, selbst wenn man hinter verschlossenen Türen längst über das Vorgehen Netanyahus verzweifelt den Kopf schüttelt.
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