Wen soll der Westen in Belarus unterstützen?
Die herkömmlichen Oppositionsparteien in Belarus sind schon lange keine bedeutsame politische Kraft mehr. Es ist an der Zeit, dass sich Entscheidungsträger im Westen dieser unangenehmen Realität stellen und ihre recht spärliche Aufmerksamkeit und Ressourcen auf jene Teile der Zivilgesellschaft richten, die bessere Aussichten bieten.
Seit Aljaksandr Lukaschenka die Macht ergriffen und schrittweise autokratisch konsolidiert hat, sind die Möglichkeiten für oppositionelle Tätigkeit geschwunden: Die Opposition wurde aus dem Parlament, der kommunalen Selbstverwaltung, den Wahlkommissionen und den landesweiten Medien gedrängt. Nicht genehmigte Protestaktivitäten wurden für illegal erklärt und bedeuten persönliche Gefahren für Gruppen und Anführer, die auf die Straße zu gehen wagen.
Unternehmer wurden ausdrücklich davor gewarnt, die Opposition zu unterstützen. Oppositionelle mussten sich deshalb um ausländische, meist westliche Unterstützung bemühen. In einigen Fällen hat dies ihren Motiven einige andere Aspekte hinzugefügt. Fundraising im Ausland ist für die Opposition überlebenswichtig geworden, während gleichzeitig die Bindung an die Wählerschaft nachließ.
Da die Möglichkeiten der Opposition schwanden, innerhalb des Lands zu agieren, begann sie – bildhaft gesprochen – von innen heraus zu faulen. Neben den regelmäßigen Repressionen hat auch das Ausbleiben von Erfolgsgeschichten dazu geführt, dass in Belarus selbst prodemokratisch eingestellte Menschen zu der einfachen Erkenntnis gelangten: Eine lose Verbindung mit der Opposition wird – bestenfalls – für die Zukunft des Landes nichts bringen oder – schlimmstenfalls – Schwierigkeiten für das eigene Leben bedeuten.
Die Präsidentschaftswahlen 2010 fanden mit einem Dutzend Oppositionskandidaten in vergleichsweise offener Atmosphäre statt. Jedoch führte die Niederschlagung der Proteste gegen Fälschungen am Wahlabend zu Verhaftungen und Gefängnisstrafen für nahezu alle Oppositionskandidaten. Dies kam einer Enthauptung der Opposition gleich. Jene Oppositionsführer, die nicht im Gefängnis landeten, flohen ins Ausland oder zogen sich aus der Politik zurück. Das politische Erbe von 2010 ist die systematische Zerschlagung der traditionellen Opposition, die sich hiervon nie wieder erholt hat.
Die fehlenden Erfolge der Opposition führten zu einem Phänomen, das häufig als negative Selektion beschrieben wird. Ein Großteil der jungen, ehrgeizigen Fachkräfte, die in anderen Ländern zu politischen Aktivisten geworden wären, bevorzugen in Belarus andere Wege der Selbstverwirklichung. Seien es Wirtschaft, Kunst, Zivilgesellschaft, Wissenschaft oder Bildungsaufenthalte im Ausland, aber keinesfalls Politik. Dies bedeutet auch, dass Kompetenzen und erfolgversprechendes Personal die Opposition verloren gehen. Die Parteien mussten sich hauptsächlich auf Aktivisten und Führungspersönlichkeiten stützen, die zumeist bereits in den 1990er Jahren in die Politik gegangen sind.
Schließlich nahmen selbst die Oppositionsführer die bittere Realität an, dass sie auf absehbare Zeit so gut wie keine Chance auf einen Sieg haben. Das hat alle Anreize beseitigt, mit anderen Oppositionellen die Kräfte zu bündeln. Streit und Zersplitterung sind für viele Oppositionsgruppen zu einem Daseinsmodus geworden.
Seit 1996, als Lukaschenka die Beschränkungen seiner Macht beseitigte, hat die Opposition fast 20 Versuche unternommen, Koalitionen oder politische Blöcke unterschiedlicher Art zu bilden. Selbst die vielversprechendsten davon, etwa der Koordinationsrat der demokratischen Kräfte (1999 gegründet), die Vereinigten demokratischen Kräfte (ODS; 2004), der Belarussische unabhängige Block (2009) und das Volksreferendum (2013) endeten sämtlich mit einem emotionalen Zerwürfnis.
Um dies klarzustellen: Die Schuld ist hier nicht allein bei der Opposition zu suchen. Objektiv gesehen ist es schwer, lebhafte Oppositionsarbeit zu betreiben, wenn man einem konsolidierten und häufig brutalen, autoritären Regime gegenübersteht. Diese Ungerechtigkeit ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die herkömmliche Opposition kaum mehr im Stande ist, zum Anstoß eines Wandels in Belarus zu werden.
Die Präsidentschaftswahlen 2020 sind der beste Beleg hierfür. Der Cocktail aus Wirtschaftskrise und Lukaschenkas herablassender Haltung gegenüber der Covid-19-Pandemie hat zu einer beispiellosen Zunahme der politischen Aktivität im Land geführt. Die Führungsfiguren, die diese Unzufriedenheit der Bevölkerung kanalisiert haben, sind alles politische Novizen: der ehemalige Bankier Viktar Babaryka, der ehemalige, hochrangige Beamte Waleryj Zepkala und der YouTube-Blogger Sjarhej Zichanouski.
Und wo war die Opposition? Ein Teil von ihr beschloss, die Wahlen zu boykottieren. Einige Gruppen innerhalb der Mitte-Rechts-Koalition diskutieren über das Verfahren zur Nominierung eines gemeinsamen Kandidaten und scheiterten schließlich damit, dies rechtzeitig zu tun. Einige Gruppen und Führungsfiguren schlossen sich der Bewegung von Zichanouski an und erfuhren gemeinsam mit diesem die gegen ihn gerichteten Repressionen. Nur zwei prominente Oppositionsführer, die frühere Parlamentsabgeordnete Anna Kanapazkaja und der Leiter der gemäßigten Kampagne „Sag die Wahrheit!“, Andrej Dsmitryjeu, beantragten eine Registrierung als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen. Sie wurden aber von den neuen alternativen Führungspersönlichkeiten in den Schatten gestellt.
Die westliche Politik, einschließlich der politischen Stiftungen und nationalen Regierungen, hatte selten allzu viel Mittel oder politische Aufmerksamkeit für Belarus übrig. Gerade deshalb ist es so wichtig, die verfügbaren Ressourcen und Energien auf jene Teile der Zivilgesellschaft zu konzentrieren, die langfristig das Potenzial haben, eine positive Veränderung und Demokratisierung des Landes zu bewirken.
Der Anstoß zu einem Wandel kann nur organisch aus dem Land selbst kommen. Es gibt nahezu keinen gangbaren Weg, den gesellschaftlichen Reifeprozess zu beschleunigen oder die Gesellschaft dazu zu bringen, Pluralismus und Eigenverantwortlichkeit zu fordern. Solche Veränderungen werden gewöhnlich von tektonischen internen Entwicklungen wie Urbanisierung, Entwicklung des privaten Sektors, Generationenwandel, wachsendem Bildungsniveau oder einer Erosion des herrschenden Regimes vorangetrieben.
Andererseits sind einige Zivilgesellschaftsorganisationen in Belarus ungeachtet der regelmäßigen Repressionen sehr lebendig und nehmen noch Fahrt auf. Hierzu gehören Netzwerke von Graswurzelinitiativen für Freiwillige, Crowdsourcing- und Crowdfunding-Plattformen, Menschenrechtsgruppen usw.
Eines der herausstechenden Beispiele ist die Initiative #ByCovid19 („BY“ ist internationale das Länderkürzel für Belarus – Anm. d. R.). Sie entstand als ein Zusammenschluss von Initiativen aus unterschiedlichen Bereichen der Zivilgesellschaft. Die Initiative schaffte es, eine ungeahnte Summe an Geldern (hunderttausende Euro) zu sammeln und hunderte Freiwillige zu organisieren, um die in vorderster Front tätigen Mitarbeiter des Gesundheitswesens mit dem Nötigsten zu unterstützen. Während die Regierung wenig unternahm und bisweilen die Bedrohung durch die Pandemie abtat, stellten die Freiwilligen Masken, Plastikschirme zum Gesichtsschutz und andere Schutzkleidung her. Sie organisierten im ganzen Land die Lieferung von Lebensmitteln und Desinfektionsmitteln an Ärzte.
Der Schlüssel zu ihrem Erfolg war das tiefgreifende Vertrauen in der Bevölkerung, das sie durch ihre Aktionen gewannen. Der Aufbau eines solchen Vertrauens ist entscheidend für die langfristige Nachhaltigkeit von zivilgesellschaftlichen Gruppen, aber auch für landesweite und lokale unabhängige Medien, Menschenrechtsverteidiger und Blogger.
Diese Manifestationen des bürgerschaftlichen Aktivismus mögen auf den ersten Blick ein wenig apolitisch oder zahnlos erscheinen. Diese Wahrnehmung irrt. Die erwähnte Initiative #ByCovid19 ist aus einem anderen Projekt Namens #ByHelp heraus entstanden, das unter anderem Crowdfunding-Aktionen zur Unterstützung von Aktivisten und Politikern unternahm, die wegen Straßenprotesten zu Geldstrafen verurteilt worden waren. Zweifellos werden die technische Expertise, die Fähigkeiten zur Netzwerkbildung und Mobilisierung, die während des Ausbruchs von Covid-19 gewonnen wurden, auch in Zukunft eingesetzt, womöglich unter Umständen, die politischer sind.
Diese neue Bewegung markiert einen Bewusstseinswandel in der belarussischen Gesellschaft. Vor 15 Jahren gab es neben der traditionellen Opposition und einigen tapferen Menschenrechtsgruppen kaum unabhängige politische oder gesellschaftliche Aktivitäten. Heute übernehmen breitere Teile einer selbstbewusster gewordenen Gesellschaft Verantwortung für ihre Angelegenheiten und warten nicht länger auf den autoritären Staat, das öffentliche Leben zu organisieren.
Autokratische Systeme, die um eine Führungsperson herum aufgebaut sind, können wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, ohne dass dies jemand erwartet hätte. Wenn dann ein Vakuum folgt, könnte sich das nachfolgende Regime als noch härter erweisen, als das vorherige war. Um sich auf die unausweichliche Zeit des Wandels in Belarus vorzubereiten, sollten Strukturen in der Zivilgesellschaft bereitstehen und in der Lage sein, Bürger zu koordinieren und Verantwortung für die Zukunft des Landes zu übernehmen. Leider hat die traditionelle belarussische Opposition derzeit kaum das Zeug dazu, eine solche Kraft darzustellen.
Es wäre eine lohnende Investition in die langfristige Widerstandsfähigkeit der belarussischen Bürgergesellschaft, die horizontalen Infrastrukturen des Aktivismus gemeinsam mit unabhängigen Medien, Bloggern und Menschenrechtsverteidigern zu unterstützen. Diese Akteure eines Wandels werden – anders als die herkömmliche Opposition – vermutlich den Unterschied ausmachen, wenn es um eine demokratische Öffnung der Gesellschaft geht.
Für europäische Partner sollte die Lehre sein, dass die bisherige Fokussierung auf Wahlen und Wahlkämpfe als Hebel und Indikatoren für demokratischen Wandel keine geeignete politische Strategie für Belarus mehr darstellt. Wahlen können zwar zu einem Katalysator für eine Politisierung werden. Aber Demokratie ist mehr als halbwegs freie Wahlen. Demokratie muss von unten wachsen. Sich für die Öffnung von Räumen für bürgerschaftliches Engagement einzusetzen, könnte auf lange Sicht vielversprechender sein.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.