Georgien: too close to call

Trotz der Pandemie haben die Georgier gewählt Foto: Shutterstock, kovop58
Trotz der Pandemie haben die Georgier gewählt Foto: Shutter­stock, kovop5

Seit den US-Präsi­dent­schafts­wahlen sind wir Twitter Nachrichten zu Wahlma­ni­pu­la­tionen und Fälschungen durch den noch amtie­renden Präsi­denten Trump gewöhnt. Andere Stimmen jedoch mahnen zur Vernunft: Wahlen sind das Hochamt der Demokratie. Jede Stimme zählt. Nieder­lagen müssen anerkannt werden und selbst nach einem harten Wahlkampf sollte es versöhn­liche Worte geben.

Für die demokra­tische Partei in den USA erwies sich der Bundes­staat Georgia als angenehme Überra­schung, aber es wird noch einmal per Hand nachge­zählt. Auch in dem kleinen EU-Assozi­ie­rungsland Georgia tobt seit zwei Wochen der Kampf um den Ausgang der Parla­ments­wahlen. Dieses Land im Südkau­kasus scheint auf seinem langen Weg zu Demokratie und Rechts­staat­lichkeit zu straucheln.

Am 31. Oktober 2020 hat der georgische Souverän zum zehnten Mal das Parlament gewählt. Diese Wahlen sind durchaus histo­risch zu nennen. Zum ersten Mal wurde überwiegend das propor­tionale Wahlsystem angewandt. Es gab einen Mix aus 120 Listen­man­daten und 30 Direktmandaten.

Georgien hat es der inter­na­tio­nalen Gemein­schaft zu verdanken, dass es überhaupt zu einer Wahlreform kam. Mit Geschick und Engagement wurde der Oligarch Bidzina Ivanishvili zu diesem Schritt gebracht. Erst 2024 wird das Wahlsystem vollständig auf eine reine Verhält­niswahl umgestellt.

Trotz der drama­ti­schen epide­mio­lo­gi­schen Lage war die Wahlbe­tei­ligung hoch. In der Bevöl­kerung hoffte man auf eine Änderung der politi­schen Mehrheits­ver­hält­nisse, z.B. durch die Ablösung der Allein­re­gierung des Ivanishvili Lagers zugunsten einer Koalitionsregierung.

Laut inter­na­tio­nalen Beobachtern waren die Wahlen verhält­nis­mäßig frei, aber es gab auch Verstöße. Nach offizi­ellen Angaben der Zentralen Wahlkom­mission (ZWK) hat die Regie­rungs­partei 48 Prozent erreicht und sich damit zwar eine knappe, aber ausrei­chende Mehrheit im Parlament für eine Allein­re­gierung gesichert.  Acht Parteien bilden die Opposition.

Die geeinigte Opposition droht nun damit, die Mandate gar nicht erst anzunehmen. Sie nennt die Wahl eine Farce und verlangt Neuwahlen. Die zentrale Wahlkom­mission soll neu zusam­men­ge­setzt werden. Alle politi­schen Gefan­genen sollen vor einer Neuwahl freige­lassen werden.

In der Tat hat die Regierung alle in ihrer Hand befind­lichen Instru­mente unein­ge­schränkt einge­setzt. Das betrifft die Anwendung der sogenannten adminis­tra­tiven Ressourcen. Dazu gehört: Druck auf Beamte und Angestellte, massive Wähler­be­stechung, Schaffung von günstigen Rahmen­be­din­gungen für den “Georgi­schen Traum” in den Wahlkom­mis­sionen, organi­sierte Provo­ka­tionen in den Wahllo­kalen und umfang­reiche Unregel­mä­ßig­keiten in den Wahlpro­to­kollen.

Trotz der genannten erheb­lichen Wahlver­stöße weigert sich die zentrale Wahlkom­mission stich­haltig dokumen­tierte Beschwerden anzunehmen. Damit entfällt jede Chance auf Klärung des Umfangs des Wahlbetrugs.

Die Opposi­ti­ons­po­li­ti­kerin Tamar Kordzaia von der Republi­ka­ni­schen Partei, die heute dem Wahlbündnis „Geeinigte Opposition – Zusammen sind wir stark“ angehört, äußerte die Vermutung, dass etwa 31 Prozent und damit 597.633 der abgege­benen Stimmen gefälscht worden seien. Sie bezog sich hierbei auf eine selbst angestellte Hochrechnung von Unregel­mä­ßig­keiten in einem Teil der Wahlbe­zirke, für die es entspre­chende Belege gebe. Diese Vorwürfe lassen sich derzeit nicht überprüfen. Aber auch unabhängige Experten der einhei­mi­schen Wahlbe­ob­achtung bewerten diese Wahl als die am meisten manipu­lierte in den letzten 8 Jahren.

In Georgien gibt es derzeit keine Chance auf die Überprüfung der Wahlen durch unabhängige Gerichte. Deswegen hat die Opposition mit der Unter­stützung von 35.000 Bürgern den Protest auf die Straße getragen.

Georgien ist nicht Weißrussland und Bidzina Iwanishvili ist klug genug Wahlma­ni­pu­la­tionen so zu verbergen, dass inter­na­tionale Beobachter die Wahlen nicht massiv in Frage stellen. Der weißrus­sische Diktator kann für ein EU-Assozi­ie­rungsland aber nicht die Benchmark sein. Die georgische Regierung sollte auf ihre inter­na­tio­nalen Partner hören und die Ausschöpfung der recht­lichen Mittel zur Klärung der Unregel­mä­ßig­keiten erlauben. Aber da es keine unabhängige Justiz gibt, schwindet die Hoffnung in der Bevöl­kerung auf eine Korrektur der Auszählung.

Die georgische Regierung ist nicht bereit zu deeska­lieren. Am 9. November 2020 ließ die Regierung fried­liche Demons­tranten mit Wasser­werfern ausein­an­der­treiben. Ab 22 Uhr gab es eine Ausgangs­sperre, die Demons­tranten von ihrem Grund­recht abhielt. Mit Verweis auf “die gesell­schaft­liche Gesundheit” ist es laut Gesetz möglich, die Freizü­gigkeit einzu­schränken, aber das Grund­recht auf Meinungs­äu­ßerung darf auch nach der georgi­schen Verfassung nicht angetastet werden.

Die georgische Verfassung legt fest, dass eineRe­gie­rungs­partei mit 91 Mandaten das Parlament konsti­tu­ieren kann und auch beschluss­fähig ist. Für eine Verfas­sungs­än­derung bedarf es 113 Stimmen. Ohne die 59 Mandate der verei­nigten Opposition kann es nicht zu einer Verfas­sungs­än­derung kommen.

Demons­tra­tionen und Proteste opposi­tio­neller Parteien sind inGeorgien fast eine Selbst­ver­ständ­lichkeit. Aber noch nie war die Opposition so einig und entschlossen wie jetzt. Sie vertritt die Auffassung, dass das Land von einer entschei­denden Wende stehe und jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, die Ära der infor­mellen Regierung des Oligarchen zu beenden. Außerdem ist die Opposition tief davon überzeugt, dass es früher oder später zu Neuwahlen kommen muss. Das Haupt­ar­gument des Mandats­boy­kotts lautet, dass die Opposition als Vertreter des Volkes verpflichtet sei, die Stimmen ihrer Wähler zu vertei­digen.  Deswegen wollen die gewählten Abgeord­neten ein vermeintlich gesetz­widrig gewähltes Parlament nicht legiti­mieren.  Es gehe um Werte und Prinzipen, die die Grundlage für Rechts­staat­lichkeit und Demokratie darstellen. Die Opposition sieht Recht und Moral auf seiner Seite.

Bisher hat das diplo­ma­tische Korps die Lage beobachtet und am 12. November doch geschafft, eine Vermitt­lungs­rolle zu übernehmen und die beiden Parteien an einem Verhand­lungs­tisch zu bringen. Die opposi­tio­nellen Kräfte hoffen auf Unter­stützung durch das Ausland. Das Agieren der Zentralen Wahlkom­mission und der Gerichte soll einer trans­pa­renten Analyse unter­zogen werden.

Obwohl von den europäi­schen und trans­at­lan­ti­schen Politikern immer wieder darauf hinge­wiesen wird, dass Hilfe aus Westen nur für Selbst­hilfe gedacht ist, ist deren Gewicht in dieser brisanten politi­schen Krise in Georgien äußerst groß.  Georgien steht heute vor einer anderen Realität, als in der Nacht des Wahltages.  Zudem liegt Georgien in einer krisen­be­haf­teten Region, in der die Ausein­an­der­setzung zwischen Armenien und Aserbai­dschan wieder zu einem heißen Konflikt geführt hat.

Die jüngsten Ereig­nisse haben gezeigt, dass insbe­sondere die EU über die Ressourcen verfügt, um die innere Trans­for­mation eines Staates von außen zu beein­flussen.  Daher sollte die EU von diesem Potenzial verstärkt Gebrauch machen und klar erläutern, dass freie und faire Wahlen eine Voraus­setzung für eine glaub­würdige und stabile Partner­schaft mit der EU sind.

Die fried­lichen Proteste gehen trotz der Pandemie und eisigen Tempe­ra­turen weiter. Alles oder nichts lautet das Motto. Diesmal sind für diese Protest­welle die Einigkeit und Entschlos­senheit prägend, die der georgi­schen Opposition seit langer Zeit gefehlt haben. Wie es weitergeht? Es hilft eine Phrase aus der US-Wahlnacht: too close to call…

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