Nach Trump 2: Medien, Politik und Wissenschaft

Foto: Shutterstock Ilyas Tayfun Salci
Foto: Shutter­stock Ilyas Tayfun Salci

In der Epoche der Selbst­re­dak­teure breitet postfak­ti­sches Denken sich viral aus. Das berührt auch das Feld der Wissen­schaft, deren Bedeutung der Welt 2020 bewusster denn je wurde. Der zweite von zwei Teilen eines philo­so­phi­schen Einordnungsversuchs.

Der Postfak­ti­zismus als Teil eines Angriffs auf die Vernunft hat das Potenzial, die liberale Demokratie und das Programm der modernen Aufklärung an der Wurzel zu treffen. Das ist die bittere Erfahrung aus vier Jahren Trump – auch wenn die Dämme, das heißt in diesem Fall die demokra­ti­schen Insti­tu­tionen der USA, einem solchen Angriff noch einmal stand­ge­halten haben. Aber was lässt sich aus dieser Erfahrung lernen? Welche Dämme müssen gegen den Postfak­ti­zismus verstärkt oder auch neu aufge­schüttet werden? Hier sind nicht zuletzt Medien, Politik und Wissen­schaft gefordert. Denn sie sind ja nicht bloß Spiel­felder der Ausein­an­der­setzung, sondern haben zugleich einen Akteurs­status. Vieles hängt davon ab, dass sie sich der Verant­wortung stellen und aus den durchaus prekären Zeitgeist­läuften die richtigen Schluss­fol­ge­rungen ziehen.

Dazu gilt es, beide Erwei­te­rungs­lo­giken im Blick zu haben, die gegen­wärtig mitein­ander ringen, nämlich die der populis­ti­schen Rede, der eine eskala­to­rische Logik der Erwei­terung und Vertiefung des Wir-gegen-Sie-Gegen­satzes innewohnt, und die Erwei­te­rungs­logik des aufklä­re­ri­schen Geistes, die sich gegen­wärtig in einem etwas zerzausten Zustand befindet. Wir sahen, wie letzterer bei Kant angelegt war. Der öffent­liche Gebrauch der Vernunft sollte zunächst für die Welt der Gelehrten erkämpft werden. Sie sollten – selbst an die strenge Logik der wissen­schaft­lichen Argumen­tation gebunden – gegenüber dem sich bildenden Publikum die Gatekeeper der Aufklärung sein. Mit der Rede- und Presse­freiheit rückten die Redak­teure einer aufklä­re­ri­schen Presse in diese Gatekeeper-Funktion ein – und behielten sie bis vor wenigen Jahren in einer sich histo­risch um Funk und Fernsehen erwei­ternden Medien­land­schaft. Doch eine populäre und sich im Interesse von Gewinn­ma­xi­mierung oder politi­scher Einfluss­nahme häufig ins Populis­tische kehrende Welt der Klatsch­presse und des Boule­vards begleitete die Entwicklung von Anfang an. Die Blame Games und Spektakel des heutigen Populismus haben eine lange Geschichte.

Es sollte nicht verwundern, dass die gegen­sätz­liche Entwicklung sich nun weiter fortschreibt.
Die durch Digita­li­sierung technisch erwei­terte Kommu­ni­kation hat viele neue Akteure auf dem Spielfeld. Mit Social Media sind alle Nutzer poten­ziell zu ihren eigenen Chefre­dak­teuren geworden. Jeder und jede kann nun selbst berichten und kommen­tieren, Beiträge anderer liken oder disliken, teilen und weiter­leiten. Gleich­zeitig haben die klassi­schen Quali­täts­medien ihre Gatekeeper-Funktion teilweise eingebüßt. Damit werden auch Standards, die für sachliche Wahrheit und Relevanz der Bericht­erstattung, für ethisch-kommu­ni­kative Richtigkeit oder logisch-argumen­tative Folge­rich­tigkeit in der Kommen­tierung einstehen zunehmend in Frage gestellt.

Die Selbst­re­dak­teure in Social Media wissen zumeist wenig über die Quali­täts­kri­terien und das Berufs­ethos des Journa­lismus. Und mit Boule­vard­medien und populis­ti­scher Politik sind ja auch lautstarke Player auf dem Feld, die nicht gerade die besten Vorbilder abgeben. Zudem wird die Emotio­na­li­sierung der Posts durch die Algorithmen der Platt­formen weiter angeheizt. Die Nutzer erhalten durch eine emotio­na­li­sierte Kommu­ni­kation größere Reich­weiten – und pushen gleich­zeitig die Reich­weiten für kommer­zielle Werbung, die die Platt­formen damit verbreiten. Die Erwei­te­rungs­logik des Spektakels, der starken Emotionen, der Beschämung, Anfeindung und Triba­li­sierung schafft sich seine selbst verstär­kenden Kreis­läufe und mündet nur zu leicht in einer Logik der Eskalation und Radika­li­sierung, in der Hass immer mehr Hass erzeugt.

Wenn einer solche Logik gegenüber die Logik von vernünf­tiger Rede und Aufklärung eine Chance haben soll, dann muss sie sich selbst mit einigem Nachdruck auf den Feldern der neuen sozialen Medien geltend machen. Das geht nur sehr begrenzt durch Verbote. Natürlich ist Hassrede im Internet zu bekämpfen. Und Regula­tionen der Platt­formen sind wichtig. Doch der Gesetz­geber und der Staats­anwalt können nicht die einzigen oder gar wichtigsten Instanzen sein. Nötig ist vor allem eine nachhaltige Erwei­terung der Medien­kom­pe­tenzen, die den Nutzern Perspek­tiven eröffnen, wie sie für den quali­täts­vollen Journa­lismus leitend sind.

Auch bei dieser Aufgabe kann das Modell der ratio­nalen und sachan­ge­mes­senen Rede Orien­tierung geben. Denn es liefert ja auch das Grund­modell der Ratio­na­lität, die sich in Quali­täts­medien verkörpert – und übrigens auch in demokra­ti­scher Politik und verant­wort­licher Wissen­schaft. Die funda­mental wichtige Unter­scheidung zwischen Sachstand und These in der beratenden und der Gerichtsrede kehrt im Medien­be­trieb in der Grund­un­ter­scheidung zwischen Bericht und Kommentar wieder. Medien berichten darüber, was geschehen ist. Die berühmten sieben W‑Fragen: Wer, Was, Wo, Wann, Wie, Warum, Woher stecken die Grundzüge eines fakti­schen Geschehens ab, über das zu berichten ihr Infor­ma­ti­ons­auftrag ist. Die darüber hinaus gehenden Einschät­zungen und Wertungen, die in der klassi­schen Rede der These vorbe­halten sind, erfüllt der Presse­kom­mentar. Er nimmt Stellung zum Geschehen, ordnet ein, wertet und ist mutig auch im Vortragen sachan­ge­mes­sener Kritik. Und er eruiert praktische Handlungs­mög­lich­keiten und Folgen. Damit treibt er die öffent­liche Debatte voran.

Der Medien­wis­sen­schaftler Bernhard Pörksen hat die Ansprüche, mit denen auch die Selbst­re­dak­teure in den sozialen Medien zu konfron­tieren sind, im Leitbild einer „redak­tio­nellen Gesell­schaft“ zusam­men­ge­fasst. Die Standards und Kompe­tenzen der alten Gatekeeper im profes­sio­nellen Medien­be­trieb müssen – zumindest ihren Grund­zügen nach – zu Allge­mein­kom­pe­tenzen der Social-Media-Nutzer werden. Das ist heute eine Grund­aufgabe für eine nicht nur technische, sondern auch aufklä­re­rische Erwei­terung der sozialen und politi­schen Kommu­ni­kation, und ohne Zweifel auch eine große und dring­liche Aufgabe für Medien­bildung an Schulen und sonstigen Bildungs­ein­rich­tungen. Sie müssen unbedingt ein Grund­wissen um Medien­ge­schichte und medialen Macht­ver­hält­nisse und die Fallstricke von Irrtum, Fake und Falsch­be­hauptung sowie eine Ethik des Sprechens in der Medienwelt vermitteln.

Aber es ist auch eine konkrete Aufgabe für das Learning by Doing in einer prakti­schen Medien­nutzung, in der sich die Zivil­ge­sell­schaft heute über viele Milli­arden Accounts einzelner Nutze­rinnen und Nutzern hinweg mit sich selbst ins Benehmen setzt. Und es ist auch eine Aufgabe von Bloggern und Usern mit größerer Reich­weite. Die Beiträge des Video­bloggers Rezo sind hier in mancher Hinsicht vorbildlich. Denn sie führen den Betrachtern vor Augen, welche Quali­täts­stan­dards für eigene Beiträge zu politi­schen und sozialen Themen eigentlich relevant sind – vom Fakten­check über Quellen­an­gaben bis hin zu Trans­parenz und auch Selbst­kritik am eigenen Tun.

Entspre­chende Aufgaben haben auch die Macher der klassi­schen Quali­täts­medien. Sie sollten ihre Standards und ihr Berufs­ethos gegen Boule­var­di­sierung und eine Spekta­kel­me­dia­lität vertei­digen, die sich als Antwort auf den ökono­mi­schen Druck durch den Rückgang von Auflagen und Werbe­ein­nahmen nur zu leicht aufdrängt. Und sie sollten über das Ethos und die Standards auch reden und immer wieder heraus­stellen, dass es sie überhaupt gibt. Und in der Medien­epoche der Selbst­re­dak­teure auf Social Media sind solche Winke und Hinweise aus dem profes­sio­nellen Bereich nicht nur im zivilen Aufklä­rungs­sinne wichtig. Sie sind wichtig auch als Hinweise darauf, dass die Herstellung journa­lis­ti­scher Quali­täts­pro­dukte viel Aufwand und Sorgfalt erfordert und nicht umsonst zu haben ist.

Politische Debatte: Gegner oder Feind?

Auch die Politik ist im Kampf der beiden Diskurs­lo­giken, die sich heute gegen­über­stehen, Spielfeld und Akteur zugleich. Deswegen kommt der Art und Weise, wie sie Debatten führt, besondere Bedeutung zu. Die Eskala­ti­ons­logik der populis­ti­schen Rede ist verfüh­re­risch, nicht nur in Wahlkämpfen, sondern auch als Schall­ver­stärker der Tages­mo­bi­li­sierung. Zahlreiche populis­tische Parteien finden in einer Mobili­sierung an sich bereits ihren Daseins­zweck. Sie betreiben eine von Sachin­halten befreite, über weite Strecken vollkommen beliebige Politik. So hat auch die Corona-Politik der AfD ein 180-Grad-Ziel in Sachen inhalt­licher Flexi­bi­lität  erreicht, als sie ihre Forde­rungen aus dem März nach einem striktem Lockdown und Ausgangs­sperren bald schon in einen verwahr­losten Ego-Libera­lismus Trump­scher Prove­nienz verkehrte. Aus der Forderung nach einem „Corona-Kabinett“ wurde schnell die Denun­ziation einer vermeint­lichen „Corona-Diktatur“. Ebenso glaubt die AfD, dass der lautstarke Protest gegen die vermeintlich freiheits­ein­schrän­kenden Auswir­kungen eines Masken­gebots die richtige Antwort auf das Sterben in den Inten­siv­sta­tionen sei. Doch in dieser Wendigkeit bleibt eine Konstante. Die wechselnden Sachin­halte von Politik sind gleich­bleibend ein Vehikel der perso­na­li­sie­renden Blame-game-Politik. Ob die Regie­renden das Volk nun nicht genug oder zu sehr vor Corona schützen – sie tun stets das Falsche und sind auf jeden Fall der verwerf­liche Andere im Wir-gegen-die Anderen-Spiel.

Es ist hochge­fährlich für die Demokratie, wenn demokra­tische Parteien auf ein solches Spiel einsteigen – so wie konser­vative Parteien es in einigen Ländern bereits getan haben. Statt­dessen gilt es, mit demokra­ti­schen Debatten im empha­ti­schen Sinn des Wortes für das Modell der liberalen Demokratie einzu­stehen, um damit auch ein Vorbild zu sein für Debatten in der breiten Öffent­lichkeit und den Sozialen Netzwerken. Demokra­tische Debatten sind engagiert und bisweilen hart, drehen sich aber stets auf einer gesicherten und gemeinsam respek­tierten Fakten­grundlage um die Sache. Das, worum gekämpft und gestritten wird, sind die Thesen und prakti­schen Vorschläge zu einer Faktenlage. Es geht darum, ob Vorschläge sachlich angemessen und zielführend sind. Die mitein­ander ringenden Personen sind entspre­chend Gegner in der Sache und keineswegs persön­liche Feinde, zwischen denen jedes moralische Band zerschnitten ist. Die Einsicht in den Unter­schied zwischen Feind und Gegner bildet das normative Fundament der demokra­ti­schen Debatte.

Der postfak­tische Populismus ist aber auch deshalb so gefährlich, weil er die Sachaus­ein­an­der­setzung aus dem Spiel bringt oder nur scheinhaft hochhält. In seinem Sprach­system stehen Perso­nal­pro­nomen dann nur für Personen. Ein sachliches Es ist nicht vorge­sehen. Das hat weitrei­chende Folgen. Mit vom Tisch ist damit die ganze syste­mische Aufklärung von Marx bis Luhmann, anerkennt, dass Menschen in der funktional ausdif­fe­ren­zierten und hoch arbeits­tei­ligen Gesell­schaft der Moderne sich nicht wie Ritter in der Ritter­rüstung gegen­über­stehen. Sie beziehen sich vermittelt über komplexe Handlungs­systeme aufein­ander. Ihre Handlungen werden nach den Codes etwa des Finanz‑, Rechts‑, Handels‑, Medien‑, Bildungs- oder Gesund­heits­systems koordi­niert. Und zur modernen Erfahrung gehört auch, dass das nicht zwingend eine existen­tielle Verding­li­chung der Akteure darstellen muss, sondern – wenn die Systeme denn klug und gerecht reguliert sind – auch eine wohltuende und sehr effektive Versach­li­chung ihrer Bezie­hungen sein kann. Die Ausein­an­der­set­zungen in der Politik sind heute ganz wesentlich Verhand­lungen über die Regularien solcher Handlungs­systeme. Diese Systeme sind hier das sachliche Es, das Dritte als das gemeinsam anerkannte Faktum, das die Basis der politi­schen Debatte abgibt und bei aller Gegner­schaft auch einen sachlichen Kompromiss zulässt und zumeist auch erfor­derlich macht. Der Postfak­ti­zismus kennt dagegen nur Freunde und Feinde. Es orien­tiert sich letztlich an einem vormo­dernen, von der buntsche­ckigen persön­lichen Feudal­bande bestimmtem Prinzip der Verge­sell­schaftung. Trumps Umgang mit dem Welthan­dels­system war ein Beispiel dafür. Er traktierte fein austa­rierte Regel­werke nach den Tages­launen eines verrückten Königs. So zerriss er den fertig ausge­han­delten TTP-Handels­vertrag der USA mit ihren asiati­schen Verbün­deten. Doch auch hier schlug die Sache zurück und verschaffte dem Reali­täts­prinzip Geltung. Mit seinem Tun trieb Trump die Verbün­deten der USA in einen von China dominierten RCEP-Vertrag – mit noch nicht überschau­baren Konsequenzen.

Wissen­schaft und die Dialektik von Zweifel und Sicherheit

Auch Wissen­schaft ist mit der postfak­ti­schen Logik konfron­tiert. Dabei gilt sie gerade als Instanz der Sacher­kenntnis, die in einer unsicheren und nur teilweise überschau­baren Welt mehr Sicherheit und Reali­täts­kon­trolle verspricht – und so häufig auch erbringt, dass sie in unserer Moderne die Religion als wichtigste gesell­schaft­liche Verge­wis­se­rungs­in­stanz abgelöst hat. Und damit liefert sie auch die wichtigste Grundlage für das Fortschritts­ver­sprechen der Aufklärung. Der Fortschritt von Freiheit und Gerech­tigkeit, von Sicherheit und Wohlstands findet seine Basis in einem von der Wissen­schaft angelei­teten Fortschritt des Wissens und Könnens.

Tatsächlich ist Wissen­schaft jedoch eine Unter­nehmung zwischen Zweifel und relativer Sicherheit. Und im Wissen­schafts­be­trieb ist nicht jeden Tag Nobel­preis. Weit häufiger sind Irrtum und Vergeb­lichkeit an der Tages­ordnung. Die relative Sicherheit, die im Ergebnis möglich wird, gründet auf ziemlich radikalem Zweifel – eine Situation, die auch in Descartes „cogito, ergo sum“ festge­halten wird – einem zweifelnden Denken, das vor lauter Zweifel diesem Denkens zumindest einen Beweis für die eigene Existenz abringen will.

Zweifel und Ungewissheit sind das Ferment der forschenden Wissen­schaft. Und damit sind sie noch tiefer in das einge­spannt, was die rationale Rede mit ihren drei Haupt­teilen heraus­stellen will. Wissen­schaft kommt an ihre Fakten nicht so einfach heran, wie das in der Politik zumeist der Fall ist. Sie hat als Faktum keine Rechtslage, die erst einmal sprachlich fixiert ist und über deren Auslegung man dann streiten kann. Sie muss sich ihre Fakten selbst suchen. Stets ist sie dabei von Fake-Fakten bedroht, etwa von Messfehlern, die eine Faktenlage nur vorgaukeln. Oder von den eigenen theore­ti­schen Voraus­set­zungen, die nicht nur einen Inter­pre­ta­ti­ons­rahmen für Fakten abgeben, sondern auch eine Maschine zur Produktion von „Fakten“ sein können, die sich ihre eigene Faktenwelt überhaupt erst konstruiert. Das Fakten­fun­dament, das die politische Rede und die Medien­be­richt­erstattung tragen soll – und es zumeist auch recht zuver­lässig tut -, erscheint in der Wissen­schaft oft als brüchig und wenig eindeutig. Gleiches gilt für Thesen und Antithesen, die auf dieser Grundlage entwi­ckelt werden. Es ist die wissen­schaft­liche Arbeit selbst, in der sie immer wieder inein­ander übergehen oder auch gegen­ein­ander mobili­siert werden – in der kriti­schen Selbst­be­fragung des Wissen­schaftlers und in der Fachde­batte. Der Zweifel und das Bewusstsein um eine ganz und gar nicht eindeutige Forschungslage zeugt so gerade nicht von Inkom­petenz, sondern von Serio­sität der Arbeit.

Ein besseres und breiteres Wissen um diese Dialektik von relativer Sicherheit und Zweifel in der Wissen­schaft scheint dringend benötigt in der Ausein­an­der­setzung mit dem Postfak­ti­zismus. Denn der sucht ja trotz oder gerade wegen seines Nicht-Verhält­nisses zur Welt der Fakten nach „wissen­schaft­lichen“ Belegen seiner Verlaut­ba­rungen. Das Postfak­tische ist dabei dabei nicht immer so leicht ausmachen wie bei jenem pensio­nierten Lungenarzt, der es zum Höhepunkt der Debatte um die Schäd­lichkeit von Diesel­ab­gasen in den Innen­städten mit einer krassen fachwis­sen­schaft­lichen Außen­sei­ter­meinung breit in Talkshows, Boule­vard­presse und Social Media schaffte. Auch vom fachlich zustän­digen Bundes­ver­kehrs­mi­nister erhielt er Zuspruch für seine These, dass alles halb so schlimm sei. Tatsächlich stand es um die Dinge hundert Mal schlimmer als von ihm begut­achtet. Denn das war der Faktor, um den er sich verrechnet hatte.

Der Zweifel und das beständige Hinter­fragen, die seriöse Wissen­schaft auszeichnen, werden in der Außen­wahr­nehmung des Postfak­ti­zismus zum Stein­bruch, in dem sich Belege auch für die abstru­sesten Thesen auffinden lassen. Dabei geht es nicht nur um Auftrags­for­schungen in der Nachfolge von Dr. Marlboro, sondern um den ganz normalen Wissen­schafts­prozess. Tatsächlich ist bei kaum einem Thema nur eine einzelne Studie relevant und sticht dann alle anderen aus. Nötig sind in aller Regel eine Vielzahl von Studien, Vergleichs­studien und Metastudien. Sie zusammen ergeben erst eine Grundlage, auf der sich seriös Entscheiden und Handeln lässt. Die Aufklärung und soziale Erwei­terung des Wissens um die manchmal flirrenden Ambiva­lenzen der Wissens­pro­duktion wird im Zeitalter der medialen Selbst­re­daktion und der postfak­ti­schen Konstruktion von Eindeu­tigkeit immer wichtiger.

Im Innern des Wissen­schafts­pro­zesses ist sie zu ergänzen und fortzu­führen mit dem erkennt­nis­kri­ti­schen Teil des kanti­schen Aufklä­rungs­pro­gramms. Auch hier steht ja die besondere Ambivalenz zwischen Faktum und Inter­pre­tation im Mittel­punkt. Das, was gemeinhin als Welt der Fakten angesprochen wird, hat bei Kant einen Halt in der Welt der Dinge an sich. Das ist die Formu­lierung für den kanti­schen Restma­te­ria­lismus, der an einer unabhän­gigen Außenwelt festhält, sie jedoch stets auf die Leistungen einer mit ihren Anschau­ungs­formen und Verstan­des­be­griffen auf sie gerich­teten Subjek­ti­vität bezieht. Kants Dinge an sich sind nicht nichts. Kant ist kein Idealist, bei dem die Welt der Fakti­zität in einem konstruk­ti­vis­ti­schen Spiel aufgeht oder sich in Dekon­struktion verflüchtigt. Daran ist heute wieder anzuknüpfen. Die Massi­vität, mit der eine faktische und nur zu lange übergangene Außenwelt heute zurück­schlägt – als Corona-Virus, im Arten­sterben, im neuen Waldsterben, als Klima­er­hitzung – macht es nötig, sie auch philo­so­phisch und theorie­sprachlich wieder angemessen anzuer­kennen. Ein kruder Materia­lismus ist aber nicht der richtige Weg. Er unter­schätzt die Rolle mensch­licher Konstruktion und Inter­pre­tation am Zugang zu dieser Welt. Die Orien­tierung am kanti­schen Restma­te­ria­lismus ist angemes­sener. Hier liegt dann auch eine grund­sätz­liche philo­so­phische Aufgabe in der Kritik am Postfaktizismus.

Der Kampf der Diskurs­lo­giken von Postfak­ti­zismus und Aufklärung ist nach Trump nicht zu Ende. Zwar hat die Erwei­te­rungs­logik der Vernunft nun bessere Chancen, wieder durch­zu­dringen, doch damit ist das geistige Trümmerfeld, das diese Präsi­dent­schaft hinter­lässt, nicht auch schon beseitigt. Die populis­tische Versu­chung ist nicht nur in den USA, sondern weltweit noch stark. Politik, Medien und Wissen­schaft sollten deshalb darüber nachdenken, was aus diesen vier turbu­lenten und auch enervie­renden Jahren zu lernen ist und wie sie auf ihren je beson­deren Feldern dem Postfak­ti­zismus und den weiterhin starken antili­be­ralen und antira­tio­nalen Tendenzen entge­gen­wirken können. Gute Anregungen dazu lassen sich aus einer um Fakten und vernunft­ge­lei­tetes Argumen­tieren bemühten rheto­ri­schen Tradition entnehmen. Doch ein solches Anliegen darf nicht nur die antiauf­lä­re­ri­schen Tendenzen, die sozusagen von außen auf sie einwirken, zurück­weisen. Sie muss sich auch der Dialektik der Aufklärung stellen und blinde Flecken aufklären, an denen das Aufklä­rungs­projekt selbst auf Abwege geraten ist – nicht zuletzt in einer Verwahr­losung der instru­men­tellen Vernunft, die den globalen ökolo­gi­schen Krisen Vorschub geleistet hat.

Textende


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