Nach Trump 2: Medien, Politik und Wissenschaft
In der Epoche der Selbstredakteure breitet postfaktisches Denken sich viral aus. Das berührt auch das Feld der Wissenschaft, deren Bedeutung der Welt 2020 bewusster denn je wurde. Der zweite von zwei Teilen eines philosophischen Einordnungsversuchs.
Der Postfaktizismus als Teil eines Angriffs auf die Vernunft hat das Potenzial, die liberale Demokratie und das Programm der modernen Aufklärung an der Wurzel zu treffen. Das ist die bittere Erfahrung aus vier Jahren Trump – auch wenn die Dämme, das heißt in diesem Fall die demokratischen Institutionen der USA, einem solchen Angriff noch einmal standgehalten haben. Aber was lässt sich aus dieser Erfahrung lernen? Welche Dämme müssen gegen den Postfaktizismus verstärkt oder auch neu aufgeschüttet werden? Hier sind nicht zuletzt Medien, Politik und Wissenschaft gefordert. Denn sie sind ja nicht bloß Spielfelder der Auseinandersetzung, sondern haben zugleich einen Akteursstatus. Vieles hängt davon ab, dass sie sich der Verantwortung stellen und aus den durchaus prekären Zeitgeistläuften die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Dazu gilt es, beide Erweiterungslogiken im Blick zu haben, die gegenwärtig miteinander ringen, nämlich die der populistischen Rede, der eine eskalatorische Logik der Erweiterung und Vertiefung des Wir-gegen-Sie-Gegensatzes innewohnt, und die Erweiterungslogik des aufklärerischen Geistes, die sich gegenwärtig in einem etwas zerzausten Zustand befindet. Wir sahen, wie letzterer bei Kant angelegt war. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft sollte zunächst für die Welt der Gelehrten erkämpft werden. Sie sollten – selbst an die strenge Logik der wissenschaftlichen Argumentation gebunden – gegenüber dem sich bildenden Publikum die Gatekeeper der Aufklärung sein. Mit der Rede- und Pressefreiheit rückten die Redakteure einer aufklärerischen Presse in diese Gatekeeper-Funktion ein – und behielten sie bis vor wenigen Jahren in einer sich historisch um Funk und Fernsehen erweiternden Medienlandschaft. Doch eine populäre und sich im Interesse von Gewinnmaximierung oder politischer Einflussnahme häufig ins Populistische kehrende Welt der Klatschpresse und des Boulevards begleitete die Entwicklung von Anfang an. Die Blame Games und Spektakel des heutigen Populismus haben eine lange Geschichte.
Es sollte nicht verwundern, dass die gegensätzliche Entwicklung sich nun weiter fortschreibt.
Die durch Digitalisierung technisch erweiterte Kommunikation hat viele neue Akteure auf dem Spielfeld. Mit Social Media sind alle Nutzer potenziell zu ihren eigenen Chefredakteuren geworden. Jeder und jede kann nun selbst berichten und kommentieren, Beiträge anderer liken oder disliken, teilen und weiterleiten. Gleichzeitig haben die klassischen Qualitätsmedien ihre Gatekeeper-Funktion teilweise eingebüßt. Damit werden auch Standards, die für sachliche Wahrheit und Relevanz der Berichterstattung, für ethisch-kommunikative Richtigkeit oder logisch-argumentative Folgerichtigkeit in der Kommentierung einstehen zunehmend in Frage gestellt.
Die Selbstredakteure in Social Media wissen zumeist wenig über die Qualitätskriterien und das Berufsethos des Journalismus. Und mit Boulevardmedien und populistischer Politik sind ja auch lautstarke Player auf dem Feld, die nicht gerade die besten Vorbilder abgeben. Zudem wird die Emotionalisierung der Posts durch die Algorithmen der Plattformen weiter angeheizt. Die Nutzer erhalten durch eine emotionalisierte Kommunikation größere Reichweiten – und pushen gleichzeitig die Reichweiten für kommerzielle Werbung, die die Plattformen damit verbreiten. Die Erweiterungslogik des Spektakels, der starken Emotionen, der Beschämung, Anfeindung und Tribalisierung schafft sich seine selbst verstärkenden Kreisläufe und mündet nur zu leicht in einer Logik der Eskalation und Radikalisierung, in der Hass immer mehr Hass erzeugt.
Wenn einer solche Logik gegenüber die Logik von vernünftiger Rede und Aufklärung eine Chance haben soll, dann muss sie sich selbst mit einigem Nachdruck auf den Feldern der neuen sozialen Medien geltend machen. Das geht nur sehr begrenzt durch Verbote. Natürlich ist Hassrede im Internet zu bekämpfen. Und Regulationen der Plattformen sind wichtig. Doch der Gesetzgeber und der Staatsanwalt können nicht die einzigen oder gar wichtigsten Instanzen sein. Nötig ist vor allem eine nachhaltige Erweiterung der Medienkompetenzen, die den Nutzern Perspektiven eröffnen, wie sie für den qualitätsvollen Journalismus leitend sind.
Auch bei dieser Aufgabe kann das Modell der rationalen und sachangemessenen Rede Orientierung geben. Denn es liefert ja auch das Grundmodell der Rationalität, die sich in Qualitätsmedien verkörpert – und übrigens auch in demokratischer Politik und verantwortlicher Wissenschaft. Die fundamental wichtige Unterscheidung zwischen Sachstand und These in der beratenden und der Gerichtsrede kehrt im Medienbetrieb in der Grundunterscheidung zwischen Bericht und Kommentar wieder. Medien berichten darüber, was geschehen ist. Die berühmten sieben W‑Fragen: Wer, Was, Wo, Wann, Wie, Warum, Woher stecken die Grundzüge eines faktischen Geschehens ab, über das zu berichten ihr Informationsauftrag ist. Die darüber hinaus gehenden Einschätzungen und Wertungen, die in der klassischen Rede der These vorbehalten sind, erfüllt der Pressekommentar. Er nimmt Stellung zum Geschehen, ordnet ein, wertet und ist mutig auch im Vortragen sachangemessener Kritik. Und er eruiert praktische Handlungsmöglichkeiten und Folgen. Damit treibt er die öffentliche Debatte voran.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat die Ansprüche, mit denen auch die Selbstredakteure in den sozialen Medien zu konfrontieren sind, im Leitbild einer „redaktionellen Gesellschaft“ zusammengefasst. Die Standards und Kompetenzen der alten Gatekeeper im professionellen Medienbetrieb müssen – zumindest ihren Grundzügen nach – zu Allgemeinkompetenzen der Social-Media-Nutzer werden. Das ist heute eine Grundaufgabe für eine nicht nur technische, sondern auch aufklärerische Erweiterung der sozialen und politischen Kommunikation, und ohne Zweifel auch eine große und dringliche Aufgabe für Medienbildung an Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. Sie müssen unbedingt ein Grundwissen um Mediengeschichte und medialen Machtverhältnisse und die Fallstricke von Irrtum, Fake und Falschbehauptung sowie eine Ethik des Sprechens in der Medienwelt vermitteln.
Aber es ist auch eine konkrete Aufgabe für das Learning by Doing in einer praktischen Mediennutzung, in der sich die Zivilgesellschaft heute über viele Milliarden Accounts einzelner Nutzerinnen und Nutzern hinweg mit sich selbst ins Benehmen setzt. Und es ist auch eine Aufgabe von Bloggern und Usern mit größerer Reichweite. Die Beiträge des Videobloggers Rezo sind hier in mancher Hinsicht vorbildlich. Denn sie führen den Betrachtern vor Augen, welche Qualitätsstandards für eigene Beiträge zu politischen und sozialen Themen eigentlich relevant sind – vom Faktencheck über Quellenangaben bis hin zu Transparenz und auch Selbstkritik am eigenen Tun.
Entsprechende Aufgaben haben auch die Macher der klassischen Qualitätsmedien. Sie sollten ihre Standards und ihr Berufsethos gegen Boulevardisierung und eine Spektakelmedialität verteidigen, die sich als Antwort auf den ökonomischen Druck durch den Rückgang von Auflagen und Werbeeinnahmen nur zu leicht aufdrängt. Und sie sollten über das Ethos und die Standards auch reden und immer wieder herausstellen, dass es sie überhaupt gibt. Und in der Medienepoche der Selbstredakteure auf Social Media sind solche Winke und Hinweise aus dem professionellen Bereich nicht nur im zivilen Aufklärungssinne wichtig. Sie sind wichtig auch als Hinweise darauf, dass die Herstellung journalistischer Qualitätsprodukte viel Aufwand und Sorgfalt erfordert und nicht umsonst zu haben ist.
Politische Debatte: Gegner oder Feind?
Auch die Politik ist im Kampf der beiden Diskurslogiken, die sich heute gegenüberstehen, Spielfeld und Akteur zugleich. Deswegen kommt der Art und Weise, wie sie Debatten führt, besondere Bedeutung zu. Die Eskalationslogik der populistischen Rede ist verführerisch, nicht nur in Wahlkämpfen, sondern auch als Schallverstärker der Tagesmobilisierung. Zahlreiche populistische Parteien finden in einer Mobilisierung an sich bereits ihren Daseinszweck. Sie betreiben eine von Sachinhalten befreite, über weite Strecken vollkommen beliebige Politik. So hat auch die Corona-Politik der AfD ein 180-Grad-Ziel in Sachen inhaltlicher Flexibilität erreicht, als sie ihre Forderungen aus dem März nach einem striktem Lockdown und Ausgangssperren bald schon in einen verwahrlosten Ego-Liberalismus Trumpscher Provenienz verkehrte. Aus der Forderung nach einem „Corona-Kabinett“ wurde schnell die Denunziation einer vermeintlichen „Corona-Diktatur“. Ebenso glaubt die AfD, dass der lautstarke Protest gegen die vermeintlich freiheitseinschränkenden Auswirkungen eines Maskengebots die richtige Antwort auf das Sterben in den Intensivstationen sei. Doch in dieser Wendigkeit bleibt eine Konstante. Die wechselnden Sachinhalte von Politik sind gleichbleibend ein Vehikel der personalisierenden Blame-game-Politik. Ob die Regierenden das Volk nun nicht genug oder zu sehr vor Corona schützen – sie tun stets das Falsche und sind auf jeden Fall der verwerfliche Andere im Wir-gegen-die Anderen-Spiel.
Es ist hochgefährlich für die Demokratie, wenn demokratische Parteien auf ein solches Spiel einsteigen – so wie konservative Parteien es in einigen Ländern bereits getan haben. Stattdessen gilt es, mit demokratischen Debatten im emphatischen Sinn des Wortes für das Modell der liberalen Demokratie einzustehen, um damit auch ein Vorbild zu sein für Debatten in der breiten Öffentlichkeit und den Sozialen Netzwerken. Demokratische Debatten sind engagiert und bisweilen hart, drehen sich aber stets auf einer gesicherten und gemeinsam respektierten Faktengrundlage um die Sache. Das, worum gekämpft und gestritten wird, sind die Thesen und praktischen Vorschläge zu einer Faktenlage. Es geht darum, ob Vorschläge sachlich angemessen und zielführend sind. Die miteinander ringenden Personen sind entsprechend Gegner in der Sache und keineswegs persönliche Feinde, zwischen denen jedes moralische Band zerschnitten ist. Die Einsicht in den Unterschied zwischen Feind und Gegner bildet das normative Fundament der demokratischen Debatte.
Der postfaktische Populismus ist aber auch deshalb so gefährlich, weil er die Sachauseinandersetzung aus dem Spiel bringt oder nur scheinhaft hochhält. In seinem Sprachsystem stehen Personalpronomen dann nur für Personen. Ein sachliches Es ist nicht vorgesehen. Das hat weitreichende Folgen. Mit vom Tisch ist damit die ganze systemische Aufklärung von Marx bis Luhmann, anerkennt, dass Menschen in der funktional ausdifferenzierten und hoch arbeitsteiligen Gesellschaft der Moderne sich nicht wie Ritter in der Ritterrüstung gegenüberstehen. Sie beziehen sich vermittelt über komplexe Handlungssysteme aufeinander. Ihre Handlungen werden nach den Codes etwa des Finanz‑, Rechts‑, Handels‑, Medien‑, Bildungs- oder Gesundheitssystems koordiniert. Und zur modernen Erfahrung gehört auch, dass das nicht zwingend eine existentielle Verdinglichung der Akteure darstellen muss, sondern – wenn die Systeme denn klug und gerecht reguliert sind – auch eine wohltuende und sehr effektive Versachlichung ihrer Beziehungen sein kann. Die Auseinandersetzungen in der Politik sind heute ganz wesentlich Verhandlungen über die Regularien solcher Handlungssysteme. Diese Systeme sind hier das sachliche Es, das Dritte als das gemeinsam anerkannte Faktum, das die Basis der politischen Debatte abgibt und bei aller Gegnerschaft auch einen sachlichen Kompromiss zulässt und zumeist auch erforderlich macht. Der Postfaktizismus kennt dagegen nur Freunde und Feinde. Es orientiert sich letztlich an einem vormodernen, von der buntscheckigen persönlichen Feudalbande bestimmtem Prinzip der Vergesellschaftung. Trumps Umgang mit dem Welthandelssystem war ein Beispiel dafür. Er traktierte fein austarierte Regelwerke nach den Tageslaunen eines verrückten Königs. So zerriss er den fertig ausgehandelten TTP-Handelsvertrag der USA mit ihren asiatischen Verbündeten. Doch auch hier schlug die Sache zurück und verschaffte dem Realitätsprinzip Geltung. Mit seinem Tun trieb Trump die Verbündeten der USA in einen von China dominierten RCEP-Vertrag – mit noch nicht überschaubaren Konsequenzen.
Wissenschaft und die Dialektik von Zweifel und Sicherheit
Auch Wissenschaft ist mit der postfaktischen Logik konfrontiert. Dabei gilt sie gerade als Instanz der Sacherkenntnis, die in einer unsicheren und nur teilweise überschaubaren Welt mehr Sicherheit und Realitätskontrolle verspricht – und so häufig auch erbringt, dass sie in unserer Moderne die Religion als wichtigste gesellschaftliche Vergewisserungsinstanz abgelöst hat. Und damit liefert sie auch die wichtigste Grundlage für das Fortschrittsversprechen der Aufklärung. Der Fortschritt von Freiheit und Gerechtigkeit, von Sicherheit und Wohlstands findet seine Basis in einem von der Wissenschaft angeleiteten Fortschritt des Wissens und Könnens.
Tatsächlich ist Wissenschaft jedoch eine Unternehmung zwischen Zweifel und relativer Sicherheit. Und im Wissenschaftsbetrieb ist nicht jeden Tag Nobelpreis. Weit häufiger sind Irrtum und Vergeblichkeit an der Tagesordnung. Die relative Sicherheit, die im Ergebnis möglich wird, gründet auf ziemlich radikalem Zweifel – eine Situation, die auch in Descartes „cogito, ergo sum“ festgehalten wird – einem zweifelnden Denken, das vor lauter Zweifel diesem Denkens zumindest einen Beweis für die eigene Existenz abringen will.
Zweifel und Ungewissheit sind das Ferment der forschenden Wissenschaft. Und damit sind sie noch tiefer in das eingespannt, was die rationale Rede mit ihren drei Hauptteilen herausstellen will. Wissenschaft kommt an ihre Fakten nicht so einfach heran, wie das in der Politik zumeist der Fall ist. Sie hat als Faktum keine Rechtslage, die erst einmal sprachlich fixiert ist und über deren Auslegung man dann streiten kann. Sie muss sich ihre Fakten selbst suchen. Stets ist sie dabei von Fake-Fakten bedroht, etwa von Messfehlern, die eine Faktenlage nur vorgaukeln. Oder von den eigenen theoretischen Voraussetzungen, die nicht nur einen Interpretationsrahmen für Fakten abgeben, sondern auch eine Maschine zur Produktion von „Fakten“ sein können, die sich ihre eigene Faktenwelt überhaupt erst konstruiert. Das Faktenfundament, das die politische Rede und die Medienberichterstattung tragen soll – und es zumeist auch recht zuverlässig tut -, erscheint in der Wissenschaft oft als brüchig und wenig eindeutig. Gleiches gilt für Thesen und Antithesen, die auf dieser Grundlage entwickelt werden. Es ist die wissenschaftliche Arbeit selbst, in der sie immer wieder ineinander übergehen oder auch gegeneinander mobilisiert werden – in der kritischen Selbstbefragung des Wissenschaftlers und in der Fachdebatte. Der Zweifel und das Bewusstsein um eine ganz und gar nicht eindeutige Forschungslage zeugt so gerade nicht von Inkompetenz, sondern von Seriosität der Arbeit.
Ein besseres und breiteres Wissen um diese Dialektik von relativer Sicherheit und Zweifel in der Wissenschaft scheint dringend benötigt in der Auseinandersetzung mit dem Postfaktizismus. Denn der sucht ja trotz oder gerade wegen seines Nicht-Verhältnisses zur Welt der Fakten nach „wissenschaftlichen“ Belegen seiner Verlautbarungen. Das Postfaktische ist dabei dabei nicht immer so leicht ausmachen wie bei jenem pensionierten Lungenarzt, der es zum Höhepunkt der Debatte um die Schädlichkeit von Dieselabgasen in den Innenstädten mit einer krassen fachwissenschaftlichen Außenseitermeinung breit in Talkshows, Boulevardpresse und Social Media schaffte. Auch vom fachlich zuständigen Bundesverkehrsminister erhielt er Zuspruch für seine These, dass alles halb so schlimm sei. Tatsächlich stand es um die Dinge hundert Mal schlimmer als von ihm begutachtet. Denn das war der Faktor, um den er sich verrechnet hatte.
Der Zweifel und das beständige Hinterfragen, die seriöse Wissenschaft auszeichnen, werden in der Außenwahrnehmung des Postfaktizismus zum Steinbruch, in dem sich Belege auch für die abstrusesten Thesen auffinden lassen. Dabei geht es nicht nur um Auftragsforschungen in der Nachfolge von Dr. Marlboro, sondern um den ganz normalen Wissenschaftsprozess. Tatsächlich ist bei kaum einem Thema nur eine einzelne Studie relevant und sticht dann alle anderen aus. Nötig sind in aller Regel eine Vielzahl von Studien, Vergleichsstudien und Metastudien. Sie zusammen ergeben erst eine Grundlage, auf der sich seriös Entscheiden und Handeln lässt. Die Aufklärung und soziale Erweiterung des Wissens um die manchmal flirrenden Ambivalenzen der Wissensproduktion wird im Zeitalter der medialen Selbstredaktion und der postfaktischen Konstruktion von Eindeutigkeit immer wichtiger.
Im Innern des Wissenschaftsprozesses ist sie zu ergänzen und fortzuführen mit dem erkenntniskritischen Teil des kantischen Aufklärungsprogramms. Auch hier steht ja die besondere Ambivalenz zwischen Faktum und Interpretation im Mittelpunkt. Das, was gemeinhin als Welt der Fakten angesprochen wird, hat bei Kant einen Halt in der Welt der Dinge an sich. Das ist die Formulierung für den kantischen Restmaterialismus, der an einer unabhängigen Außenwelt festhält, sie jedoch stets auf die Leistungen einer mit ihren Anschauungsformen und Verstandesbegriffen auf sie gerichteten Subjektivität bezieht. Kants Dinge an sich sind nicht nichts. Kant ist kein Idealist, bei dem die Welt der Faktizität in einem konstruktivistischen Spiel aufgeht oder sich in Dekonstruktion verflüchtigt. Daran ist heute wieder anzuknüpfen. Die Massivität, mit der eine faktische und nur zu lange übergangene Außenwelt heute zurückschlägt – als Corona-Virus, im Artensterben, im neuen Waldsterben, als Klimaerhitzung – macht es nötig, sie auch philosophisch und theoriesprachlich wieder angemessen anzuerkennen. Ein kruder Materialismus ist aber nicht der richtige Weg. Er unterschätzt die Rolle menschlicher Konstruktion und Interpretation am Zugang zu dieser Welt. Die Orientierung am kantischen Restmaterialismus ist angemessener. Hier liegt dann auch eine grundsätzliche philosophische Aufgabe in der Kritik am Postfaktizismus.
Der Kampf der Diskurslogiken von Postfaktizismus und Aufklärung ist nach Trump nicht zu Ende. Zwar hat die Erweiterungslogik der Vernunft nun bessere Chancen, wieder durchzudringen, doch damit ist das geistige Trümmerfeld, das diese Präsidentschaft hinterlässt, nicht auch schon beseitigt. Die populistische Versuchung ist nicht nur in den USA, sondern weltweit noch stark. Politik, Medien und Wissenschaft sollten deshalb darüber nachdenken, was aus diesen vier turbulenten und auch enervierenden Jahren zu lernen ist und wie sie auf ihren je besonderen Feldern dem Postfaktizismus und den weiterhin starken antiliberalen und antirationalen Tendenzen entgegenwirken können. Gute Anregungen dazu lassen sich aus einer um Fakten und vernunftgeleitetes Argumentieren bemühten rhetorischen Tradition entnehmen. Doch ein solches Anliegen darf nicht nur die antiauflärerischen Tendenzen, die sozusagen von außen auf sie einwirken, zurückweisen. Sie muss sich auch der Dialektik der Aufklärung stellen und blinde Flecken aufklären, an denen das Aufklärungsprojekt selbst auf Abwege geraten ist – nicht zuletzt in einer Verwahrlosung der instrumentellen Vernunft, die den globalen ökologischen Krisen Vorschub geleistet hat.
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