Libera­lismus neu denken: Globa­li­sierung und demokra­tische Regression

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Hat die Globa­li­sierung zum Triumph der Demokratie geführt? Nur vorüber­gehend, sagt Michael Zürn, Direktor am Wissen­schafts­zentrum Berlin. Sie hat aber auch neue Gegner der liberalen Demokratie ermög­licht, im Inland wie durch autoritäre Mächte. [1]

Die Globa­li­sierung hat zum vorüber­ge­henden Triumph der Demokratie geführt. Sie brachte die Abschot­tungs­stra­tegie der sozia­lis­ti­schen Welt von der Dynamik kapita­lis­ti­scher und demokra­ti­scher Gesell­schaften zum Scheitern. Sie erhöhte den Erneue­rungs­druck in diesen Gesell­schaften und brachte sie letztlich zum Einstürzen. Ohne Globa­li­sierung hätte es kein 1989 gegeben.

Die Globa­li­sierung hat aber gleich­zeitig erst die neuen Gegner der liberalen Demokratie hervor­ge­bracht und gestärkt. Sie hat zum einen durch den Export von Kapital und Wissen zur ökono­mi­schen Dynami­sierung von Regionen geführt, die angesichts der Heraus­for­de­rungen der nachho­lenden Entwicklung lange Zeit schei­terten. Vor allem Ostasien hat von der Globa­li­sierung profi­tiert und einen eigenen Weg in die wohlha­bende Moderne gefunden. Zunächst konnte dieser Prozess in Gesell­schaften beobachtet werden, die sich im Zuge ihrer ökono­mi­schen Dynamik auch demokra­ti­sierten. Nach 1989 bewies aber insbe­sondere China, dass es keinen engen Zusam­menhang zwischen erfolg­reicher kapita­lis­ti­scher Entwicklung und Demokratie zu geben braucht. Die Globa­li­sierung ermög­lichte also auch die Erfolgs­ge­schichte eines autokra­ti­schen politi­schen Systems wie China. Spätestens seit der Finanz­krise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Prove­nienz eine ordnungs­po­li­tische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existie­renden Sozia­lismus beides ist: anders und erfolgreich.

Globa­li­sierung hat auch die neuen Gegner der liberalen Demokratie hervorgebracht

Sie ist anders, weil sie die Entfaltung ökono­mi­scher Markt­dy­na­miken explizit nicht an die Insti­tu­tionen der liberalen Demokratie koppelt und damit die scheinbar unauf­lösbare Verbindung von Markt und Demokratie infrage stellt. Sie ist erfolg­reich, weil sich die autoritär regie­renden Eliten in Ländern wie China und Singapur nicht ohne Weiteres als eigen­süchtige Despoten abtun lassen. Ihre Politik hat eine erkennbare Gemein­wohl­kom­po­nente und kann dabei auf erheb­liche Fortschritte insbe­sondere bei der Armuts­be­kämpfung verweisen. Aber auch bei der Pande­mie­be­kämpfung haben sie sich als erfolg­reicher erwiesen, als die westeu­ro­päi­schen und nordame­ri­ka­ni­schen Länder. Diese Staaten zeigen, dass gesell­schaft­licher Fortschritt möglich ist ─ und dies ohne die demokra­tische Kontrolle der Macht­ha­benden und der Garantie von Indivi­du­al­rechten, verbunden mit weitrei­chenden Überwa­chungs- und Beloh­nungs­sys­temen. Damit wird die insbe­sondere nach 1989 vertretene Vorstellung von der Alter­na­tiv­lo­sigkeit der liberalen Demokratie unter­graben. Wenn China heute in Teilen des Globalen Südens als ordnungs­po­li­tische Alter­native gesehen wird, dann ist die Frage nach der richtigen politi­schen Ordnung wieder auf der globalen Tagesordnung.

Rasanter Wandel hat die Gegner der liberalen Demokratie gestärkt

Die Globa­li­sierung hat zudem auch die inneren Gegner der liberalen Demokratie gestärkt. Sie führte innerhalb der westlichen Welt zu einer drama­ti­schen Zunahme an kultu­reller Diver­sität, zu wachsender ökono­mi­scher Ungleichheit und zur Entfremdung von Teilen der Bevöl­kerung von einer als abgehoben wahrge­nommen politi­schen Klasse. Das sind die Entwick­lungen, die den Aufstieg der Populisten möglich gemacht haben. Damit sind die Parteien und politi­schen Bewegungen gemeint, die für sich rekla­mieren der einfachen Bevöl­kerung im Namen der Demokratie wieder eine Stimme zu verleihen, aber gleich­zeitig eine grund­le­gende Gefahr für die liberale Demokratie darstellen. Der gegen­wärtige Populismus ist nämlich vorrangig ein autori­tärer Populismus. Es handelt sich um eine politische Ideologie, die auf eine entpro­ze­du­ra­li­sierte Form der Mehrheits­re­prä­sen­tation baut und sich natio­na­lis­tisch gegen „liberale kosmo­po­li­tische Eliten“ wendet. Der Topos our nation first bringt den Natio­na­lismus zum Ausdruck. Die Entpro­ze­du­ra­li­sierung verweist auf die Ablehnung des demokra­ti­schen Streites über das, was richtig ist. Es muss nicht ausge­handelt werden, was das Richtige ist. Es steht fest. „Er weiß, was wir wollen“ stand auf einem Wahlplakat der Freiheit­lichen Partei Öster­reichs mit Blick auf H.C. Strache.

Autoritär-populis­tische Parteien haben in fast allen liberalen Demokratien in Westeuropa ein Wähler­po­tential von circa 20 Prozent der Stimmen. Viel wichtiger noch: Ein erheb­licher Anteil der Weltbe­völ­kerung wird von autori­tären Populisten regiert. Die bekann­testen Namen sind: Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Lech Kaczyński, Nicolás Maduro, Narendra Modi, Viktor Orbán, Wladimir Putin und bis vor kurzem allen voran Donald J. Trump. Das sind fast alles große Länder, was den autori­tären Populismus so wirkmächtig für die inter­na­tionale Ordnung macht. Der autoritäre Populismus hat sich in relativ kurzer Zeit global ausgebreitet.

Michael Zürn ist Professor für Inter­na­tionale Bezie­hungen an der Freien Univer­sität Berlin und Direktor der Abteilung Global Gover­nance am Wissen­schafts­zentrum Berlin. Er ist gemeinsam mit Tanja Börzel Sprecher des Exzel­lenz­clusters „Conte­sta­tions of the Liberal Script (SCRIPTS)“.

Der autoritäre Populismus ist global verbreitet

Dort wo die autori­tären Populisten an die Macht gekommen sind, erleben wir ein democratic backsliding. In all den acht angespro­chenen Ländern (Brasilien, Türkei, Polen, Venezuela, Indien, Ungarn, Russland und den USA) zeigt das Göteburger Demokra­tie­ba­ro­meter V‑Dem deutliche Verschlech­te­rungen in der Demokra­tie­qua­lität. Dabei hat sich die Qualität der demokra­ti­schen Regie­rungsform auch in vermeintlich konso­li­dierten Demokratien verschlechtert. War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeu­ro­päe­rinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher. Nicht nur in Venezuela oder Brasilien, sondern auch in den USA und Polen hat sich die Demokratie in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert. In manchen dieser Länder besteht die Hoffnung, dass ein Regie­rungs­wechsel eine Trend­umkehr bringen wird; wo aber die liberale Demokratie bereits durch eine elektorale Autokratie ersetzt worden ist, wird auch die Abwahl der Regierung immer unwahrscheinlicher.

Entscheidend für die weitver­breitete Entfremdung von der Demokratie sind Verän­de­rungen in der Funkti­ons­weise der Demokratie. Die bisherige Diskussion hat stark auf die ökono­mi­schen und kultu­rellen Ursachen des autori­tären Populismus abgehoben. Zwar spielt sicherlich die wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern eine Rolle und zum Teil lässt sich auch ein kultu­reller backlash beobachten, zentral ist jedoch die politische Frage. Ökono­mische und auch kultu­relle Erklä­rungen gehen davon aus, dass die Menschen mit spezi­fi­schen Politiken unzufrieden sind und sich deshalb den autoritär-populis­ti­schen Parteien zuwenden. Umfragen zeigen aber, dass der Unzufrie­denheit zumeist eine System­kritik an der politi­schen Klasse und den etablierten Volks­par­teien zugrunde liegt. Die ökono­mische Zufrie­denheit ist hingegen relativ hoch und die Gleich­stel­lungs­po­li­tiken finden eine breite Unterstützung.

Menschen fühlen sich in der Demokratie nicht mehr wahrgenommen

Die politische Erklärung besagt, dass es die Unzufrie­denheit mit dem politi­schen System ist, die von den autori­tären Populisten für ihre Zwecke instru­men­ta­li­siert wird. Zum einen fühlen sich viele Menschen durch ihre Parla­mente nicht angemessen reprä­sen­tiert. Die Abgeord­neten werden als profes­sio­na­li­sierte politische Klasse wahrge­nommen, die in einer Blase, abgehoben von den Inter­essen der Wähle­rinnen agiert. Zum anderen wurden in den letzten drei Jahrzehnten in beacht­lichem Ausmaß Entschei­dungs­kom­pe­tenzen von Mehrheits­in­sti­tu­tionen (MIs), wie Parteien und Parla­menten, hin zu nicht­ma­jo­ri­tären Insti­tu­tionen (NMIs) wie Zentral­banken, Verfas­sungs­ge­richten und inter­na­tio­nalen Insti­tu­tionen verlagert. Entschei­dungen werden zunehmend von Insti­tu­tionen getroffen, die weder dem Mehrheits­prinzip, noch den Rechen­schafts­pflichten reprä­sen­ta­tiver Gremien unter­liegen. Der Zweck vieler NMIs besteht darin, den dreifachen Libera­lismus aus indivi­du­ellen Rechten, inter­na­tio­nalen Regeln und offenen Märkten durchzusetzen.

Vor dem Hinter­grund dieser beiden Mecha­nismen entsteht offen­sichtlich bei vielen Menschen der Eindruck, sie wären aus dem Blick der Politik geraten – und diese Wahrnehmung hat eine reale Grundlage. Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch umgesetzt werden. Dabei konnte sich die Vorstellung ausbreiten, es gebe eine homogene politische Klasse, die abgehoben von der Bevöl­kerung ihr Ding macht und dabei den Inter­essen einer verwöhnten und tenden­ziell korrupten kosmo­po­li­ti­schen Schicht dient. Dementspre­chend scheinen die meisten autoritär-populis­ti­schen Kampagnen auch nicht konkrete ökono­mische oder kultu­relle Politiken zu kriti­sieren, sondern das System, das sie hervor­bringt, also die „System­par­teien“, das „links-rot-grün versiffte Systeme“ und die gesamte politische Klasse, allen voran das erklärte Feindbild Angela Merkel.

Der gegen­wärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorüber­ge­hende Erscheinung. Die optimis­tische Erzählung, wonach sich die Demokratie in Wellen ausbreitet, zwischen denen lediglich kurze Perioden parti­eller Rückschritte liegen, deckt sich kaum mit der tatsäch­lichen Entwicklung. Vielmehr hat sich im Nachhinein vor allem die Zeit von 1945 bis zum Ende des 20. Jahrhundert als eine Phase der weltweiten Demokra­ti­sierung erwiesen. Dieses halbe Jahrhundert war aller­dings durch positive Rahmen­be­din­gungen gekenn­zeichnet, die heute nicht in derselben Weise bestehen. Die demokra­tische Progression war weniger das Resultat einer unaus­weich­lichen Fortschritts­logik, sondern vielmehr einer spezi­fi­schen histo­ri­schen Konstel­lation geschuldet. Die Verän­derung dieser beson­deren Umstände ermög­licht nun die demokra­tische Regression. Gesell­schaften gleiten nicht auf einer vorge­zeich­neten Trasse auf die liberale Demokratie zu, sondern entwi­ckeln sich durch politische Konflikte und Kämpfe um die Ausweitung sozialer und demokra­ti­scher Rechte – und diese Konflikte können die Fahrt nicht nur verlang­samen, sondern auch zu einem Wechsel des Zielbahnhofs führen.

Ein neuer Libera­lismus muss vor allem versöhnen

Ein neuer Libera­lismus muss Kosmo­po­li­tismus und Demokratie insti­tu­tionell mitein­ander versöhnen, um wieder auf die richtige Spur zu kommen. Es bedarf realer Verän­de­rungen in unserer Demokratie, um dem Erfolg der autori­tären Populis­tinnen etwas entgegen zu setzen. Der exklusive Blick auf die Merkmale und Strategien der Gegner führt nur zur Repro­duktion des Freund-Feind-Denkens. Er nimmt uns die Einsicht in die zentralen Fragen, die wir uns stellen müssen, um dem autori­tären Populismus die Grundlage zu entziehen: Wie können wir das Reprä­sen­ta­ti­ons­problem lösen? Wie können wir nicht­ma­jo­ritäre Insti­tu­tionen so refor­mieren, dass sie respon­siver werden und weiterhin gute Ergeb­nisse in einer komplexen, globa­li­sierten und plura­li­sierten Welt erzielen? Verein­fachte Lösungen, die darauf abzielen die insti­tu­tio­nellen Grund­lagen der Demokratie zu re-natio­na­li­sieren und homoge­ni­sieren, wie dies die autori­tären Populisten fordern, greifen in einer globa­li­sierten Welt zu kurz. Was also tun? Die Antwort eines neuen Libera­lismus muss sein: Mehr Demokratie wagen und für die Komple­xi­täts­to­leranz in unserer Gesell­schaft werben.


[1] Dieser kurze Beitrag beruht auf einer breit angelegten Unter­su­chung, die unter dem Titel „Die demokra­tische Regression. Die politi­schen Ursachen des autori­tären Populismus“ (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2021) erschienen ist.

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