Deutschlands Genozid-Problem
Deutschland hat die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang – anders als die Parlamente anderer Länder – bislang nicht als Genozid gebrandmarkt. Doch der Druck im Bundestag steigt. Deutsche Unternehmen könnten in Zukunft sogar per Gesetz dazu gezwungen werden, ihre Aktivitäten in der Uiguren-Provinz einzustellen.
Welche Folgen es hat, sich gegen die Politik der chinesischen Staatsführung zu stellen, erfuhr zuletzt H&M. Das schwedische Modeunternehmen kündigte im März an, keine Baumwolle mehr aus Xinjiang zu verwenden – um mögliche Zwangsarbeit in der Uiguren-Provinz auszuschließen.
Der Volksrepublik wird vorgeworfen, im Nordwesten des Landes ein System aus Lagern aufgebaut zu haben und dort bis zu eine Million Muslime ohne Prozess einzusperren – unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“. Uiguren sollen dort zu Arbeit gezwungen werden, unter anderem auf Baumwollfeldern.
Die Reaktion auf die Ankündigung von H&M war enorm. Staatliche Medien sowie die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei (KP) riefen zum Boykott auf. Auf chinesischen Social-Media-Plattformen tobte die Entrüstung, chinesische Promi-Werbepartner distanzierten sich von der Modekette und alle großen Online-Shopping-Portale in China nahmen H&M‑Produkte aus ihrem Angebot.
Die chinesische Reaktion zeigte zweierlei: Geschäft und Politik lassen sich in China nicht trennen. Und: Kritik an der Politik der Staatsführung hat einen Preis. Analysten rechnen wegen des staatlich orchestrierten Boykotts mit massiven Verlusten für H&M.
Auch Staaten zahlen für ihre Kritik an Peking einen Preis. Und weil er hoch ist, haben bisher nur wenige Länder die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang mit deutlichen Worten kritisiert. Die Parlamente Kanadas, der Niederlande und Großbritanniens sind eine Ausnahme. Sie haben die Verbrechen in Xinjiang als Völkermord gebrandmarkt. Auch der US-Außenminister Antony Blinken sprach von Genozid, machte dies aber als seine persönliche Meinung deutlich.
Vergleichbare Äußerungen gibt es aus Deutschland nicht, weder von der Regierung noch vom Bundestag. Berlin hält sich mit offener Kritik an Peking zurück – aus Rücksicht auf die eigene Abhängigkeit. Für die deutsche Automobilindustrie ist China der wichtigste Markt. Ein staatlich orchestrierter Boykott deutscher Autos hätte für die Herzkammer der deutschen Wirtschaft dramatische Folgen.
Doch auch in Deutschland verschärft sich die Debatte.
So fand am Montagabend eine Anhörung im Bundestag statt, die die Frage diskutierte, wie die Unterdrückung der Uiguren juristisch einzuordnen ist. Konkret gingen die von den sechs Fraktionen des Bundestags eingeladenen Experten der Frage nach, ob die chinesischen Verbrechen in Xinjiang als Völkermord gebrandmarkt werden können.
Das Fazit der Experten lautet: Als Genozid lassen sich die Verbrechen nicht beurteilen. Die Mehrheit der Experten sprach sich zwar dafür aus, die systematische Internierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten. Aber praktisch wäre das folgenlos. Denn die völkerrechtliche Realität ist ernüchternd. Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt – dessen Gründungsstatut China nicht unterzeichnet hat.
Aber damit liegen die Experten mit einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages über Kreuz. Das Gutachten, das nur wenige Tage alt ist kommt zu dem Schluss, dass nach deutscher Gerichtsauffassung sehr wohl von einem Völkermord gesprochen werden kann. Laut den Gutachtern weicht die deutsche Rechtsauffassung in einem entscheidenen Punkt von der internationalen ab: Deutsche Gerichte haben in der Vergangenheit bereits die Zerstörung der kulturellen Identität einer Bevölkerungsgruppe als Völkermord beurteilt, so das Gutachten. Internationale Gerichte hingegen sprechen erst von Genozid, wenn eine Bevölkerungsgruppe physisch ausgelöscht wird. Folgt der Bundestag dem Gutachten seiner eigenen Wissenschaftlichen Dienste, etwa mit einem Parlamentsbeschluss, könnte er die Verbrechen in Xinjiang also durchaus als Völkermord bezeichnen.
Das Gutachten kommt aber auch noch zu einem anderen Schluss, der für deutsche Unternehmen alarmierend ist: Im März brachte das Kabinett das Lieferkettengesetz auf den Weg. Das Gesetz soll Rechte von Menschen schützen, die Waren für Deutschland produzieren. Es beinhaltet eine Selbstverpflichtung zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.
Hierzu hält das Gutachten fest: Sobald das Lieferkettengesetz in Kraft tritt, drohen deutschen Unternehmen bei Verstößen gegen ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten Bußgelder. Zu Konzernen, die in Xinjiang tätig sind, gehören etwa Adidas, Puma, BMW, Bosch, Siemens, Volkswagen und BASF. „Staaten haben die völkerrechtliche Pflicht, Völkermord zu verhindern“, sagt Margarete Bause, die menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, die das Gutachten in Auftrage gegeben hat: „Das Gutachten sendet eine klare Botschaft: Wegschauen ist keine Option.“
Die Expertenanhörung im Bundestag und das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zeigen, dass in die deutsche Xinjiang-Debatte Bewegung kommt. Zwar stand in beiden Fällen die juristische Dimension der Verbrechen im Vordergrund. Aber die juristische Debatte befeuert die politische. Politische Konsequenzen fordert etwa Gyde Jensen (FDP), die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestags: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Welt mehr darüber erfährt, was in Xinjiang passiert und wir müssen verhindern, dass die Verantwortlichen straflos davonkommen“. Die Bundestagsfraktionen müssten sich jetzt abstimmen, um zu einem Beschluss zu kommen.
Das ein kritischer Parlamentsbeschluss sich auf das deutsch-chinesische Verhältnis auswirken würde, zeigt derweil die Reaktion der chinesischen Botschaft auf die Expertenanhörung im Bundestag. Es gehe in Xinjiang nicht um Menschenrechte, sondern um die Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und Separatismus, heißt es in einer Pressemitteilung. Der Bundestag instrumentalisiere die Menschenrechte und mische sich in die inneren Angelegenheiten Chinas ein.
Die Pressemitteilung zeigt: Kritik an der Politik der chinesischen Staatsführung hat einen Preis.
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