Brauchen wir eine neue Demokratiepolitik?
Rückschau auf den Roundtable aus der Reihe #DemocraticFutures
Was ist und wie geht Demokratiepolitik? Diese Frage stellten sich Christopher Gohl, Siri Hummel und Ariane Fäscher unter der Moderation von Lenz Jacobsen, Redakteur bei ZeitOnline. Die Diskussion fand im Rahmen der Reihe #DemocraticFutures vom Progressiven Zentrum, dem Zentrum Liberale Moderne und der Alfred Herrhausen Gesellschaft statt.
Die Demokratie hat es nicht leicht zurzeit: Die einen sehen ein Revival, gerade in der Konkurrenz mit autoritären Mächten wie Russland und China, andere sehen einen Rückgang, sehen sie außerstande, auf Herausforderungen zu reagieren und dabei alle Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen. Die Werte zum sozialen Zusammenhalt sind seit Jahren recht stabil, auch Großkrisen wie die Coronapandemie haben ihr vergleichsweise wenig anhaben können.[1] Zugleich sehen in Umfragen 30% der Menschen in Deutschland eine Scheindemokratie, 50% eine starke Polarisierung.[2] DochDemokratie, so Paulina Fröhlich vom Progressiven Zentrum, ist besser als ihr Ruf. Allerdings sollte die häufig geäußerte Unzufriedenheit aufhorchen lassen. Grund genug also, sich über die Weiterentwicklung der liberalen Demokratie Gedanken zu machen.
Was meint Demokratiepolitik?
Wie entwickelt sich Demokratie weiter? Zu wenig systematisch, findet Dr. Christopher Gohl vom Weltethos-Institut in Tübingen und Ombudsmann der FDP, es gebe in Deutschland keine Demokratiepolitik, die die Weiterentwicklung unserer Lebensform systematisch in den Blick nimmt.
Was meint „Demokratiepolitik“? Gohl nimmt eine Dreiteilung vor: Demokratiepolitik ist zuerst eine Herrschaftsform – mit festgelegten Spielregeln: In Deutschland das Grundgesetz, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die starke Verankerung von Freiheitsrechten und den föderalen Aufbau des Staates. Demokratie ist, zweitens, eine Lebensform. Die Ebene der Praxis der Demokratie beschreibt, wie diese gelebt wird: Wie funktioniert das friedliche Zusammenleben? Wie viel Selbstorganisation geht von Bürgerinnen und Bürgern aus? Wie funktioniert Engagement? Wie ist die Öffentlichkeit und damit die Aushandlung von Interessen organisiert? Drittens ist Demokratie eine Regierungsform mit verschiedenen Parteien und Institutionen, die auf eine bestimmte Weise zusammenwirken. In letzter Zeit wird dabei die Ergänzung der bestehenden Institutionen durch Bürgerräte diskutiert, auch eine dialogfähigere Verwaltung gerät stärker in den Blick.
Demokratiepolitik im Koalitionsvertrag
Um Demokratie aktiv und kohärent weiterzuentwickeln, braucht es Gohl zufolge eine Vogelperspektive. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Ampelregierung seien viele gute Impulse in Richtung Demokratiepolitik zu sehen: Europa soll demokratischer werden, Kinder- und Jugendbeteiligung gestärkt, die Größe des Bundestages neu ausgehandelt, das Parlament durch Bürgerräte beraten, das Gemeinnützigkeitsrecht reformiert werden und noch einiges mehr. Was aber fehlt, ist eine übergreifende Perspektive, ein Überbau und Leitbild, das Orientierung gibt, in welche Richtung Demokratie aktiv weiterentwickelt werden kann.
Auch Ariane Fäscher, MdB und stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement im Deutschen Bundestag sieht viele positive Impulse im Koalitionsvertrag. Dass der Überbau fehle, könne man auch als Chance begreifen, um beispielsweise die „Engagementstrategie“ des Bundes gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und angepasst an eine sich schnell verändernde Welt weiterzuentwickeln – vielleicht in einem zweijährigen Dialogprozess mit engagierten Menschen in Deutschland.
Wer beteiligt sich?
Siri Hummel, stellvertretende Leiterin des Maecenata-Instituts für Philantropie und Zivilgesellschaft, sieht ein verstärktes Interesse der Politik an der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist pluralistisch – und sie ist häufig prekär. Dass Politik stärker mit Zivilgesellschaft interagiert und dabei nicht nur die großen Player anspricht, ist für Hummel ein gutes Zeichen. Aber: Zivilgesellschaft arbeitet häufig mit hoher Motivation und geringen Mitteln, sie ist abhängig von kurzfristiger und aufwendiger Projektfinanzierung, und der Staat formt sie durch seine Förderrichtlinien mit. Der Staat sollte sich stärker darauf beschränken, Leitplanken zu setzen und nachhaltig zu fördern, ohne zu stark einzugreifen, so Hummel.
Die Koalition möchte die Zivilgesellschaft stärker einbinden, bestätigt Ariane Fäscher und zeigt sich offen, die Bedingungen zivilgesellschaftlicher Arbeit weiterzudenken, etwa durch eine Stärkung hauptamtlicher, ein Ehrenamt ermöglichende Strukturen für Verwaltungsaufgaben. Auch Freistellungen oder Rentenansprüche für Ehrenamtliche sind denkbar.
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Mehr InformationenDemokratiepolitik konkret
Wie sieht Demokratiepolitik konkret aus – beispielsweise das Demokratiefördergesetz, die Bürger:innenräte oder die Beteiligung an großen Planungsvorhaben?
Das Demokratiefördergesetz sei zu klein gedacht, da es nur einen Schwerpunkt auf Extremismusprävention lege und die demokratische Bewältigung der Transformationsanforderungen durch den Klimawandel vernachlässige, so Christopher Gohl.
Potential liegt in einer beratenden Ergänzung der parlamentarischen Arbeit durch die Bürger:innenräte, könnten dadurch doch Fragen der Bevölkerung stärker mit den Diskussionen im Parlament gekoppelt und das Gefühl von Repräsentanz und Einbindung gestärkt werden. Die Bürger:innenräte müssten jedoch klar zugeschnitten, ihr Auftrag spezifisch genug sein, um wirklich Einfluss zu entfalten, so Gohl. Und Bürgerräte sind nicht alles: Auch Petitionsverfahren können zu einer stärkeren Durchlässigkeit von Parlamenten führen, wenn sie zugänglich gestaltet sind.
Verbesserungsbedarf besteht bei der Bürgerbeteiligung an Infrastrukturprojekten. Zur Bewältigung der anstehenden Transformationsaufgaben müssen die Projekte schneller als bisher umgesetzt werden – häufig wird dafür die Beteiligung der Betroffenen beschnitten. Das müsse nicht sein, meinte Gohl, klug gemachte Beteiligung könne sogar Zeit sparen und zu für alle akzeptableren Ergebnissen führen.
Demokratiepolitik aus einem Guss
Demokratiepolitik hat viele Aspekte: Engagementförderung, Ehrenamt, Partizipation, Integration, die Wehrhaftigkeit der Demokratie – die Hebel sind vielfältig und müssen in Zukunft stärker zusammengedacht werden.
[1] Siehe etwa Bertelsmann Stiftung. (2021). Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie. Ergebnisse einer Längsschnittstudie in Deutschland 2020 mit drei Messzeitpunkten.; Bertelsmann Stiftung, & infas. (2020). Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2020. Eine Herausforderung für uns alle. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie.; und Laura-Kristine Krause Jérémie Gagné, D. (2019). Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. www.moreincommon.de
[2] FAZ: Fast ein Drittel der Deutschen glaubt, in einer „Scheindemokratie“ zu leben, 11.04.2022. https://www.faz.net/aktuell/fast-ein-drittel-der-deutschen-glaubt-in-einer-scheindemokratie-zu-leben-17951345.html
[3] Frölich, Paulina: Demokratie-Temperatur: gemessen oder gefühlt? DPZ, 14.09.2022. https://www.progressives-zentrum.org/demokratietemperatur-gemessen-oder-gefuehlt/
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