„Niemand würde sie vermissen: Die israe­lische
Linke steht für nichts mehr“

Foto: Imago Images

Die israe­lische Linke erreicht große Teile der Bevöl­kerung nicht mehr – und hat auch aus dem jüngsten Wahlde­bakel nichts gelernt. Richard C. Schneider zeichnet den Weg der Linken in die Bedeu­tungs­lo­sigkeit nach.

Die israe­lische Linke. Was ist an diesem Satz falsch? Die israe­lische Linke. Nein? Keine Ahnung? Nun, dann folgt die Auflösung: es gibt sie nicht. Es gibt keine israe­lische Linke. Schon lange nicht mehr. Sie begann spätestens in den 2000er Jahren während der Zweiten Intifada, des zweiten paläs­ti­nen­si­schen Aufstands gegen die Besatzung, zu sterben. Damals glaubte man noch an eine Zwei-Staaten-Lösung. Und obwohl der sozial­de­mo­kra­tische Premier Ehud Barak nach dem Scheitern der Verhand­lungen mit Jassir Arafat in Camp David den Slogan ausgab, es gäbe auf der anderen Seite „keinen Partner für Frieden“ – ein Spruch, der vom damaligen US-Präsi­denten Bill Clinton noch flankiert wurde –, glaubte die Linke immer noch an den Frieden und hoffte, dafür Mehrheiten in der israe­li­schen Gesell­schaft mobili­sieren zu können. Es kam anders. Ganz anders. Als die Autobusse in Tel Aviv und Jerusalem und Netanya und in anderen inner­is­rae­li­schen Städten in die Luft flogen, als vor dem Tel Aviver Dolphi­narium ein Selbst­mord­at­ten­täter der Hamas sich in die Luft jagte und Dutzende israe­lische Jugend­liche tötete, als ein Terrorist in einem Hotel in Netanya während des Seder­abends des jüdischen Pessach­festes seine Bomben explo­dieren ließ und dabei 30 Feiernde tötete und 140 verletzte, waren die Slogans und Träume, die Politik und die Überzeu­gungen der Linken von der Realität ebenfalls in Stücke gerissen worden.

Rechts­drift der israe­li­schen Gesell­schaft und Parteien in den 2000er Jahren

Die gesamte israe­lische Gesell­schaft driftete damals nach rechts ab, inklusive der sogenannten linken Parteien, vorzugs­weise der Arbeits­partei („Avoda“), dem israe­li­schen Pendant zur SPD, und der Meretz, die noch weiter links angesiedelt war als die Avoda. Die Folgen dieser Entwicklung waren fatal. Die Linke verlor ihre politische Bedeutung, da sie mit ihrem außen­po­li­tisch wichtigsten Pfund nicht mehr wuchern konnte: Frieden zu schaffen. Im Gegenteil, die „Zwei-Staaten-Lösung“ wurde zu einem toxischen Begriff, mit ihm einen Wahlkampf zu führen, war der sichere Weg in die Opposition. Nur einmal noch schien es, als ob die Liberalen und Sozial­de­mo­kraten eine Wahl gewinnen könnten, das war 2015, als der heutige Staat­prä­sident Isaac Herzog mit Zipi Livni an seiner Seite gegen Netanyahu antrat. Er widmete sich fast ausschließlich den brennenden sozialen Fragen, er war sympa­thisch und jung und offen und hatte lange Zeit die besten Aussichten, Netanyahu schlagen zu können. In der Wahlnacht ging man während der Stimmen­aus­zählung mit der Gewissheit ins Bett, Herzog habe mindestens sechs Mandate Vorsprung. Am nächsten Morgen dann das Erwachen: Der neue Premier hieß wieder einmal wie der alte: Benjamin Netanyahu.

Der Bedeu­tungs­verlust der Arbeits­partei „Avoda“

Was danach kam, war der verzwei­felte Versuch einer unter­ge­henden politi­schen Richtung, eine Zauber­formel zu finden, um zu überleben. Seit der Gründung des Staates steht vor allem die Arbeits­partei bei den misra­chisch-orien­ta­li­schen Juden in Verruf, eine „Elite­partei“ der aschke­na­sisch-europäi­schen Juden zu sein, die in den frühen Jahren des Staates die „arabi­schen Juden“ nach ihrer Einwan­derung diskri­mi­niert und benach­teiligt hatte. Der Vorwurf war und ist berechtigt, wenngleich die Arbeits­partei der 2000er Jahre nichts mehr mit den Anfängen unter Ben Gurion gemeinsam hatte. Oder doch: Sie hatte immer noch den Überle­gen­heits­dünkel an sich, sie sprach immer noch eine Sprache, mit der man die tradi­tio­nellen Misrachim an der Peripherie, also in Städtchen wie Ofakim und Ashkelon, Ashdod und anderswo kaum erreichen konnte. Um sich nicht mehr so „weiß“ zu geben, begann man orien­ta­lische Politiker an die Spitze der Partei zu wählen. Doch diese waren entweder Wirtschafts­ma­nager gewesen und völlig unbedarft in der Politik oder sie waren selbst so „weiß“ wie ein Barack Obama nicht mehr wirklich „schwarz“ war in seinem gesamten Verhalten – ein Vorwurf, der ihm von seiner Community immer wieder gemacht wurde.

Irgendwann war die Avoda so ausge­höhlt, dass sie sich auf eine gemeinsame Wahlliste mit Meretz einließ, um nicht unter die 3,25% Hürde zu fallen. Als die Partei drohte, ihr Leben auszu­hauchen, obwohl sie gerade eben so in die Knesset kam, als die Gründungs­partei des jüdischen Staates kurz vor ihrer völligen Bedeu­tungs­lo­sigkeit stand, wählte sie schließlich eine neue Vorsit­zende, die nun eben doch dem Klischee all dessen entsprach, was die Orien­talen als „Elite“ ansehen: Merav Michaeli war Journa­listin und ist eine Intel­lek­tuelle, sie ist eine Tel Avivit, also ein hippes Großstadt­ge­wächs, sie unter­stützt die LGBTQ+ Community und gendert in ihrer Sprache, was in Israel überwiegend als blödsinnig angesehen wird. Sie trägt immerzu existen­ti­elles Schwarz und hat keine gemeinsame Sprache mit der Bevöl­kerung, deren soziale Sorgen ihr eigentlich am Herzen liegen, mehr als Netan­yahus Likud-Partei. Ja, auch sie hatte in ihrer Wahlliste „Alibi-Orien­talen“ wie die Schrift­stel­lerin Emilie Moatti, deren Intel­ligenz und analy­tische Fähig­keiten unbestreitbar sind, die aber mit ihrem Leben in der Tel Aviver Kultur­szene auch niemanden mehr erreichen kann. Oder die arabische Israelin Ibtisam Ma’arana, eine preis­ge­krönte Filme­ma­cherin, die mit einem jüdischen Israeli verhei­ratet ist. Um es deutlich zu machen: In der Avoda gab und gibt es kluge Leute, die in der Knesset seriöse Arbeit machten. Immerhin: In der vorletzten Wahl gelang es Michaeli, der Partei sieben Mandate zu sichern, was damals als irrsin­niger Erfolg gewertet wurde. Und das bei einer Partei, die einst weit über 35 bis 45 Sitze einfahren konnte. Sieben!

„Kannibalen“-Wahlkampf innerhalb der Linken

Bei Meretz sah es nicht viel anders aus. Wenngleich die Partei immer schon die Nischen­partei eines links­li­be­ralen Milieus aus Nord-Tel Aviv war, hatte auch sie schon bessere Zeiten gesehen, als sie noch politische und intel­lek­tuelle Giganten wie Shulamit Aloni oder Yossi Sarid in ihren Kreisen hatte. Nun aber? Man war stolz mit Nizzan Horowitz einen homose­xu­ellen Vorsit­zenden zu haben, doch der agierte politisch so glücklos, dass man für die Wahl am 1. November seine Vorgän­gerin Zehava Gal-On aus dem Ruhestand zurück­holte, weil man den eigenen Untergang befürchtete. Interims-Premier Yair Lapid beschwor Merav Michaeli, mit Meretz wieder einmal in einer Wahlliste anzutreten, da die Umfragen das Wegkippen zumindest einer der beiden Parteien voraus­sagten. Michaeli lehnte leicht­sinnig und überheblich ab. Als schließlich zum Ende des Wahlkampfs Lapid für seine „Yesh-Atid“-Partei noch einen „Kannibalen“-Wahlkampf auf Kosten der beiden kleinen Koali­ti­ons­partner machte, war klar, was folgen musste: Meretz ist seit seiner Gründung vor über 30 Jahren nicht mehr in der Knesset, Avoda ist auf das Minimum geschrumpft, das nötig ist, um eine Fraktion zu bilden: vier Sitze.

Die Linke? Was ist das? Vergessen wir mal das typische Chaos, das man bei Linken überall auf der Welt sehen kann: Die Unfähigkeit sich auf den Gegner zu konzen­trieren und statt­dessen Schlachten gegen­ein­ander zu führen, während die Rechte wohlor­ga­ni­siert, diszi­pli­niert und mit klaren Slogans den Wahlkampf beherrscht. Vergessen wir, dass die sogenannte Linke außer dem erneuten Motto „Alles, nur nicht Bibi“ nichts anzubieten hatte. Vergessen wir, dass sie nicht einmal im Ansatz von den Paläs­ti­nensern sprach. Die Frage ist doch: wozu braucht Israel noch eine Linke? Was kann sie noch anbieten? Und wenn – warum gelingt es ihr nicht?

Die Linke erreicht die Israelis nicht mehr

Denn in der israe­li­schen Gesell­schaft brodelt es. Für das BIP müssen immer weniger Israelis immer mehr arbeiten und für immer mehr Menschen mit ihren Steuern aufkommen, da eine wachsende Zahl von Israelis – die Ultra­or­tho­doxen – vom Arbeits­markt so gut wie ausge­nommen und vom Militär­dienst befreit sind, und deren Schulen, die nicht einmal mehr die Basis säkularer Fächer unter­richten, großzügig finan­ziert werden. Die Lebens­hal­tungs­kosten in Israel sind völlig außer Rand und Band geraten, Tel Aviv ist laut dem Economist inzwi­schen die teuerste Stadt der Welt, die jungen Menschen haben keinerlei Chance mehr, sich eine Zukunft aufzu­bauen, wenn sie nicht im Hightech-Bereich arbeiten, wo sie schon mit Mitte Zwanzig ein Anfangs­gehalt von mindestens 40 000.- NIS erhalten, das sind derzeit etwas über 11 000.- €.

Es gelingt der Linken nicht, die Menschen, die in großen Nöten sind, zu erreichen, weil sie zwei wesent­liche Aspekte der israe­li­schen Wähler­schaft seit Jahrzehnten unter­schätzt: Herkunft und Religion bestimmen bei den meisten Israelis das Wahlver­halten. Je tradi­tio­neller, desto weniger sind jüdische Wähle­rinnen und Wähler bereit, sich den „Univer­sa­listen“ anzuver­trauen, die ja gar nicht mehr richtig „jüdisch“ sind, die sich sogar manchmal über jüdische Tradi­tionen lustig machen. Und dieje­nigen, die nicht religiös sind, wie viele Israelis aus der einstigen Sowjet­union, können mit allem „Sozial-istischem“ nichts anfangen. Sie wollen einen starken Staat, eine harte Hand gegenüber Arabern, eine starke Armee. Das können ihnen die „Linken“ aber nicht anbieten.

Hinzu­kommt in Israel ein Phänomen, das man in Deutschland aus den Merkel-Jahren kennt: Die Sozial­de­mo­kra­ti­sierung der konser­va­tiven Mitte, zu der vor allem Lapids „Yesh Atid“, aber auch Benny Gantz‘ „National Unity“ und andere gehören. Sie haben die „bürger­liche Mitte“, wie man das in Deutschland nennen würde, an sich gebunden. Menschen, die in Sicher­heits­fragen rechts stehen, aber dennoch eine soziale Gesell­schafts­po­litik möchten, in der den Ortho­doxen keine Privi­legien mehr zugestanden und Siedler nicht mehr ganz so massiv auf Kosten der Bürger im Kernland unter­stützt werden. Solche Menschen wählten einst die Arbeits­partei eine Jitzchak Rabin oder eines David Ben Gurion, heute nicht mehr.

Arabische Isralis fühlen sich im Stich gelassen

Last but definitely not least: Es ist der jüdischen Linken, trotz arabi­scher Alibi-Abgeord­neter, nicht gelungen, mit der arabi­schen Bevöl­kerung Israels – immerhin circa 20% von rund 9 Millionen Menschen im Land – einen Pakt einzu­gehen, ehrliches Interesse und Bemühen zu zeigen, sie mit hinein­zu­nehmen in ihre program­ma­tische Ausrichtung. Viele arabische Israelis sehen denn auch keinen großen Unter­schied zwischen linken und rechten Zionisten, zwischen Netanyahu oder Ben Gvir, zwischen Lapid, Michaeli oder Gal-On. Aus ihrer Sicht werden sie von allen „Zionisten“ immer nur benutzt und letzt­endlich im Stich gelassen.

Nach der brutalen Wahlnie­derlage am 1. November setzte sich das Debakel der Linken (und der moderaten Mitte) fort: Man bewarf sich mit Schlamm, beschul­digte sich gegen­seitig für die Katastrophe und war mehr mit sich selbst beschäftigt als mit dem politi­schen Gegner. Netanyahu und seine mutmaßlich neue Koalition aus Ultra­or­tho­doxen und Rechts­extremen wird von der Opposition, nicht einmal von Benny Gantz und Yair Lapid, wenig zu befürchten haben. Sollte diese Koalition frühzeitig scheitern, wird es ihr eigenes Versagen sein und wahrlich nicht das Zutun der Opposition. Meretz ist schon raus aus der Knesset. Avoda könnte bei den nächsten Wahlen folgen. Und die Wahrheit ist: Niemand würde sie vermissen. Sie stehen für nichts mehr. Nicht einmal mehr für die Bewahrung der Demokratie. Denn auch das haben sie versäumt: Einer breiten Gesell­schaft, die glaubt, Demokratie sei die Macht der Mehrheit, beizu­bringen, dass Demokratie auch etwas mit dem Schutz von Minder­heiten, der Wahrung der Menschen­rechte und mit Gewal­ten­teilung zu tun hat.

Und wieder einmal stellt sich die Frage: Quo vadis, Israel? Am 1. November wird zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren eine neue Regierung gewählt. Viele auslän­dische Beobachter halten das politische System in Israel inzwi­schen für marode. Doch das stimmt nur zum Teil. Das System würde funktio­nieren, wenn ein Mann seinen Hut nehmen und der Politik Adieu sagen würde: Benjamin Netanyahu. Denn seit Jahren geht es bei den Wahlen nur noch um ein Thema: Ist man für oder gegen Bibi, wie der Ex-Premier in Israel genannt wird. Es geht nicht mehr um politische Ideen oder Visionen, es geht nicht mehr um links oder rechts, es geht schon gar nicht mehr um die Paläs­ti­nenser, sondern nur noch um die Frage: Wer ist für den Mann, der wegen mutmaß­licher Korruption in drei Fällen vor Gericht steht, und wer ist gegen ihn.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.