„Die Gedan­ken­spiele zur Wieder­be­sied­lung des Gaza­strei­fens schaden Israel immens“

Foto: Imago

Yossi Klein Halevi im Interview über Ziele und Motive der extremen Rechten in Israels Regie­rungs­ko­ali­tion – und warum die Entschei­dung über die Wehr­dienst­be­freiung für Ultra­or­tho­doxe zum Sturz der Regierung führen könnte.

Yossi Klein Halevi wurde 1953 in New York geboren. Er ist Autor des Best­sel­lers „Letters to My Pales­ti­nian Neighbor“ und publi­ziert in israe­li­schen und US-ameri­ka­ni­schen Zeit­schriften. Am Shalom Hartman Institute in Jerusalem leitet er die Muslim Leader­ship Initia­tive, die Verbin­dungen zwischen nord­ame­ri­ka­ni­schen Muslimen und Juden vertiefen will. Er nahm zuletzt auch an den Protesten gegen die geplante Justiz­re­form teil. Zusammen mit Donniel Hartmann moderiert Klein Halevi „Israel at War“ als Teil der Podcast-Reihe „For Heaven’s Sake“.

Auf einer Konferenz Ende Januar verpflich­teten sich mehrere Minister und Amts­träger der israe­li­schen Koali­ti­ons­re­gie­rung, jüdische Sied­lungen im Gaza­streifen wieder­auf­zu­bauen und wurden dafür von einem begeis­terten Publikum gefeiert. Welche poli­ti­sche und kultu­relle Bedeutung hat diese Ankündigung? 

Sie ist enorm zerstö­re­risch. Inmitten des Krieges mit der Hamas ist Israel mehreren Bedro­hungen ausge­setzt. Dazu gehört die äußere Bedrohung durch eine wachsende Bewegung, die versucht, den jüdischen Staat zum Erzkri­mi­nellen unter den Nationen zu erklären. Aber es gibt auch interne Bedro­hungen: von links­ge­rich­teten Juden, die meist in der Diaspora leben und die Bemü­hungen unter­stützen, Israel zu krimi­na­li­sieren – und von rechts­ge­rich­teten Juden, die meist in Israel leben und von einer Rückkehr nach Gaza träumen. Die Absichten, Hand­lungen und die Rhetorik der Letzteren scheinen die schlimmsten Vorwürfe gegen uns zu bestä­tigen und schaden dem, was von Israels gutem Ruf im Ausland noch übrig ist.

Die rechts­extremen Fantasien sind aber auch äußerst destruktiv für die innere Dynamik der israe­li­schen Gesell­schaft. Wenn liberale Israelis das Gefühl hätten, dass es bei dem Krieg letztlich um den Wieder­aufbau der Sied­lungen im Gaza­streifen geht, würden sie aufhören, den Krieg zu unter­stützen, ihre Kinder in den Kampf zu schicken und auch selbst nicht mehr kämpfen. Um es aber ganz klar zu sagen: Davon sind wir weit entfernt. Denn die Israelis verstehen, dass diesem Krieg keine messia­ni­schen Fantasien zugrunde liegen sondern stra­te­gi­sche und rationale Ziele. Leider versteht das ein Großteil der inter­na­tio­nalen Gemein­schaft nicht.

Wie wahr­schein­lich ist ein Wieder­aufbau der jüdischen Sied­lungen in Gaza?

Das wird nicht passieren. Denn eine Rückkehr nach Gaza findet weder bei der Mehrheit der Israelis Unter­stüt­zung, noch würde die inter­na­tio­nale Gemein­schaft, insbe­son­dere unsere Verbün­deten, dies akzep­tieren. Aber der Schaden, den die Rechts­extremen anrichten, ist immens. Mitten im brutalsten und notwen­digsten Krieg, den Israel je geführt hat, sollten wir uns nicht mit den Gedan­ken­spielen der Rechts­extremen und ihrer Anhänger innerhalb des Likud beschäf­tigen müssen.

Was genau wollen die radikalen Koali­ti­ons­partner in Netan­jahus Regierung? 

Die Koalition umfasst eine Reihe von Parteien. Shas, die mizra­chi­sche ultra­or­tho­doxe Partei, würde ich außerhalb dieser rechts­extremen Konstel­la­tion ansiedeln. Shas kümmert sich haupt­säch­lich um den Erhalt der ultra­or­tho­doxen sepa­ra­tis­ti­schen Gemein­schaft, und neigt deshalb dazu, in poli­ti­schen Fragen etwas gemä­ßigter zu sein. Das Gleiche würde ich auch über die asch­ke­na­si­sche ultra­or­tho­doxe Partei, das Verei­nigte Thora-Judentum, sagen. Doch eine gewisse Radi­ka­li­sie­rung hat in dieser Partei zwei Lager geschaffen und eine Minder­heit hat die oben erwähnte Konferenz oder die Wieder­be­sied­lung in Gaza unterstützt.

Was ist mit Finanz­mi­nister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, dem Minister für Nationale Sicherheit?

Sie wollen, dass Israel erklärt, dass es keine Chance auf Verstän­di­gung mit den Paläs­ti­nen­sern gibt. Dass das ganze Land nicht nur rechtlich, sondern auch de facto Israel gehört. Die meisten Israelis würden zustimmen, dass das Land von Rechts wegen dem jüdischen Volk gehört. Aber sie sehen auch, dass es ein anderes Volk in diesem Land gibt, mit dem wir uns arran­gieren müssen.

Für die extreme Rechte aber gibt es kein anderes Volk in diesem Kontext und somit auch kein mora­li­sches Dilemma. Statt­dessen betonen sie die Stärke und Entschlos­sen­heit Israels und erklären die Welt um uns herum für irrele­vant, denn Israel würden alle sowieso hassen – als gäbe es keine Verbün­deten auf unserer Seite. Das eigent­liche Ziel der extremen Rechten ist es, „zu tun, was getan werden muss“. Das ist ein Euphe­mismus für die Vertrei­bung der Palästinenser.

Nehmen Ben-Gvir, Smotrich und andere Befür­worter der Wieder­be­sie­de­lung des Gaza­strei­fens Rücksicht auf die Zwänge der Real­po­litik und mäßigen ihre Pläne?

Ich würde eine kleine Unter­schei­dung machen: Smotrich ist ratio­naler und gedul­diger, und er scheint sich selbst als staats­män­ni­scher zu begreifen. Ben-Gvir hingegen ist ein Rowdy und Gangster, der sich ohne jede stra­te­gi­sche Raffi­nesse verhält. Insgesamt zeigt sich aber hier die messia­nis­ti­sche Ideologie, die davon ausgeht, dass jetzt die Zeit des Messias gekommen ist.

Das impli­ziert die Vorstel­lung, dass das jüdische Volk der Welt trotzen muss, nur auf Gott vertrauen kann und sich nicht nur gegen seine Feinde schützen, sondern sie sogar vernichten muss. Es ist eine Art jüdische Version des radikalen Isla­mismus. So wie der radikale Schiismus, der im irani­schen Regime verankert ist und an die Zerstö­rung Israels als notwen­dige Voraus­set­zung für die Rückkehr des Messias glaubt.

Können Sie das an der Sprache verdeut­li­chen, die die rechts­extremen jüdischen Messia­nisten verwenden?

Sie sprechen ständig von Amalek. Histo­risch gesehen ist Amalek der alte Stamm, der die Kinder Israels beim Auszug aus Ägypten angriff und sie zu vernichten versuchte. In der jüdischen Vorstel­lung wurde Amalek zu einem mythi­schen Arche­typus für einen tödlichen Feind, der ausge­rottet werden muss. Für viele Juden der Holocaust-Gene­ra­tion, auch für mich als Sohn eines Holocaust-Über­le­benden, verkör­perte Deutsch­land Amalek. Diese Gleich­set­zung war jedoch reine Fantasie, ein jüdischer und Bewältigungsmechanismus.

Die mythische Figur des Amalek auf die Paläs­ti­nenser zu über­tragen, ist jedoch sehr gefähr­lich. Denn wir haben Macht über sie. Zwei­fellos hat die Hamas am 7. Oktober all das erfüllt, was sich Juden schon immer unter Amalek vorge­stellt haben. Aber wir haben eine mora­li­sche Verant­wor­tung, einen klaren Unter­schied zwischen der Hamas und dem paläs­ti­nen­si­schen Volk zu machen auch wenn viele Paläs­ti­nenser selbst diese Grenze nicht ziehen. Für die meisten Israelis verkör­pern die Paläs­ti­nenser jedoch nicht Amalek, die Sicht­weise ist auf die radikale Rechte beschränkt.

Welche Macht und welchen Einfluss hat die messia­ni­sche extreme Rechte innerhalb der derzei­tigen Koalition?

Die extreme Rechte ist Teil der Regierung, aber nicht Teil des Kriegs­ka­bi­netts. Praktisch haben sie keinen Einfluss darauf, wie dieser Krieg geführt wird. Und das ist der eigent­liche Grund, warum sie diese Konferenz im Januar einbe­rufen haben. Es ist jedoch absurd, dass poli­ti­sche Parteien, die Teil der Regierung sind, so tun, als seien sie die Opposition.

Wie würden Sie dagegen die Personen im Kriegs­ka­bi­nett beschreiben?

Als gemäßigt. Sie sind zwar Hardliner, aber vernünftig, wie beispiels­weise der Vertei­di­gungs­mi­nister Yoav Galant oder der führende Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker Benny Gantz, der dem Kriegs­ka­bi­nett beigetreten ist, um diese Regierung zu mäßigen. Premier­mi­nister Netanjahu hat den Begriff „Amalek“ unmit­telbar nach dem 7. Oktober verwendet, sich dabei aber nur auf die Hamas bezogen. Dennoch sind ihm dieser Begriff sowie die rechts­extreme reli­giösen Sprache fremd, er ist auch nicht für den Wieder­aufbau von Sied­lungen in Gaza. Der Krieg in Gaza ist ein Krieg, der von der über­wäl­ti­genden Mehrheit der Israelis unter­stützt wird, und sie vertrauen sowohl dem Kriegs­ka­bi­nett als auch der Armee.

Um seine im Januar 2023 ange­tre­tene Koalition zu schmieden und zu halten, hat Netanjahu jedoch den Rechts­extremen viel Macht und Aufmerk­sam­keit geschenkt.

Netanjahu hat den Rechts­extremen mehr Macht gegeben, als sie jemals hatten. Es ist ein histo­ri­scher Skandal, dass Ben-Gvir der israe­li­schen Polizei vorsteht. Auch Smotrich wurde als Finanz­mi­nister in eine sehr mächtige Position gebracht. Keinen Einfluss auf die Kriegs­füh­rung nehmen zu können, hat sie sehr frustriert.

Ben-Gvir hat deshalb mehrfach damit gedroht, die Regierung zu stürzen. Zwei­fellos wird er bei den nächsten Wahlen antreten. Nicht gegen die Linke und die Mitte, sondern gegen den Likud und Netanjahu. Er wird sagen, dass er, wenn er das Sagen gehabt hätte, den Krieg schnell und entschlossen beendet hätte, während Netanjahu und der Likud gar keine richtigen Rechten seien. Ben-Gvir will die Main­stream-Rechte aus dem Weg räumen.

Wie hat die Demo­kra­tie­be­we­gung, die vor dem 7. Oktober gegen den versuchten Justiz­putsch kämpfte, auf die Fantasien der extrem Rechten für Gaza reagiert? 

Sie hat sie ignoriert. Das war richtig, denn diese Fantasien sind völlig irrele­vant. Relevant ist jedoch die Tatsache, dass Ben-Gvir die Polizei kontrol­liert und Smotrich für den Haushalt und den Ausbau der Sied­lungen im West­jor­dan­land zuständig ist. Das sind Fragen, die die demo­kra­ti­sche Bewegung beschäf­tigen. Aus takti­schen Gründen konzen­triert sie sich im Moment aber darauf, die Regierung zu stürzen und Wahlen abzuhalten.

Wie wahr­schein­lich sind ein Rücktritt der Regierung und Neuwahlen?

Ein wichtiges Datum ist der 31. März. An diesem Tag muss das israe­li­sche Parlament darüber abstimmen, ob die generelle Befreiung der Ultra-Ortho­doxen vom Mili­tär­dienst verlän­gert wird. Ich gehe davon aus, dass die Regierung dieses Gesetz nicht verab­schieden kann, weil es in Teilen der Koalition zu erheb­li­chem Wider­stand kommen wird.

Aktuell kämpfen hundert­tau­sende junge Menschen in einem Krieg – für Netanjahu ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um seine Koalition zusam­men­zu­halten, indem er die ohnehin seit langem kriti­sierte Mili­tär­be­freiung fortsetzt. Wenn das Gesetz nicht verab­schiedet wird und die Armee mit der Einbe­ru­fung ultra­or­tho­doxer junger Männer beginnt, werden die beiden ultra­or­tho­doxen Parteien, Schas und Verei­nigtes Tora-Judentum, die Koalition mit ziem­li­cher Sicher­heit verlassen. Die derzei­tige Regierung würde stürzen.

Welche Chancen hätte die Oppo­si­tion bei Neuwahlen?

Ich denke, die derzei­tige Oppo­si­tion würde bei Neuwahlen einen Erdrutsch­sieg erringen. Das zeigen alle Umfragen und es ist auch die Stimmung im Lande. Die Menschen haben von dieser Regierung die Nase voll. Andere Regie­rungen mussten für weit weniger Verfeh­lungen zurück­treten, als die jetzige dem Land zugemutet hat.

Das Interview wurde am 11. März 2024 geführt und am 14. März auf Aktua­lität überprüft.

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