Israel: Beten statt Militärdienst

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In Israel wollen die Ultra­or­tho­doxen ein Grund­gesetz, das sie für immer vom Militär­dienst befreit. Dahinter stehen religi­ons­phi­lo­so­phische und sehr praktische Gründe. Ein solches Gesetz würde die israe­lische Gesell­schaft endgültig spalten. Und das Land zunehmend theokra­tisch werden lassen.

Die Knesset, das israe­lische Parlament, befindet sich in der Sommer­pause. Doch Israel kommt nicht zur Ruhe. Die Massen­pro­teste gegen die Pläne der Regierung, das Oberste Gericht als Kontroll­organ über die Politik zu schwächen und damit die Gewal­ten­teilung aufzu­heben, gehen weiter. Nachdem ein erstes Gesetz der Justiz­reform der ultra­rechten und ultra­re­li­giösen Regie­rungs­ko­alition von Premier Benjamin Netanyahu im Juli verab­schiedet worden ist, wartet jeder in Israel auf den 12. September. Dann wird das Oberste Gericht die Petitionen anhören gegen dieses Gesetz, das nun den höchsten Richtern des Landes verwehrt, Verwal­tungs­ent­schei­dungen der Regierung zu kippen, falls diese nicht „angemessen“ sind, wie das in der Juris­ten­sprache heißt. Im Klartext: Das Gesetz ermög­licht der Regierung beispiels­weise, einen Krimi­nellen zum Minister zu berufen. Und das Oberste Gericht könnte nichts dagegen tun.

„Mögli­cher­weise steht Israel schon bald vor einer Staats- und Verfassungskrise“

Nach dem 12. September hat dann das Gericht 90 Tage Zeit zu entscheiden, ob das Gesetz verfas­sungs­konform ist oder nicht. Falls nein, kommt es darauf an, ob die Regierung das Urteil der Richter annimmt. Schon jetzt sagen viele radikale Minister, sie werden es nicht akzep­tieren. Und Netanyahu will auf diese Frage in zahlreichen Inter­views keine Antwort geben. Mögli­cher­weise steht Israel schon bald vor einer Staats- und Verfassungskrise.

Gesetzlich verbriefte Befreiung der Ultra­or­tho­doxen vom Wehrdienst

Wobei letzteres zumindest im Detail nicht ganz stimmt. Israel hat nämlich keine Verfassung, sondern nur eine Reihe sogenannter „Basic Laws“, Grund­ge­setze, die aller­dings einen verfas­sungs­ähn­lichen Charakter haben. Das im Juli verab­schiedete Gesetz gegen die „Angemes­senheit“ ist ein solches. Ein anderes soll ein Gesetz sein, über das jetzt im Sommer unter den Koali­tio­nären hart disku­tiert und verhandelt wird: Ein Grund­gesetz, das den Ultra­or­tho­doxen endgültig die Befreiung vom Militär- und Zivil­dienst garantiert.

Dieses Gesetz wäre weiterer Zündstoff für eine sich immer stärker polari­sie­rende und desin­te­grie­rende israe­lische Gesell­schaft. Doch zunächst einmal zu den Ursprüngen dieser Forderung der Ultraorthodoxen.

Garantien und Privi­legien für die Ultra­or­tho­doxie im „Status-quo-Brief“ von Ben Gurion

1947 hat der Führer der zionis­ti­schen Bewegung und spätere erste Premier Israels, David Ben Gurion, den Ultra­or­tho­doxen in seinem sogenannten „Status-quo-Brief“ eine Reihe von Monopolen und Garantien zugestanden. Unter anderem, dass Schüler von Jeschiwot, also Talmud­schulen, im späteren Staat Israel nicht zur Armee gehen müssen. Ben Gurion kam den Frommen in vielen Bereichen sehr entgegen, denn er wollte damals, dass die jüdische Gemein­schaft in Palästina als Einheit gegenüber der Welt, gegenüber der UN die Entstehung eines jüdischen Staates fordert.

Er musste den Haredim, den Gottes­fürch­tigen, wie sie genannt werden, entge­gen­kommen, da viele von ihnen aus religiösen Gründen zunächst Gegner des Zionismus waren. Die Überlie­ferung besagt, dass es einen jüdischen Staat erst wieder geben wird und darf, wenn der Messias kommt. Was die Zionisten betrieben, war in ihren Augen im Grunde Blasphemie. Doch nur zwei Jahre nach dem Holocaust verstanden auch viele Rabbiner, dass ein eigener Staat eine Überle­bens­not­wen­digkeit für das jüdische Volk ist. So akzep­tierten sie Ben Gurions Bestreben, ließen sich das aber natürlich teuer „bezahlen“.

Für Ben Gurion war diese Ausnah­me­re­gelung für Jeschiwa-Studenten keine große Sache, es ging damals um gerade mal 400 Schüler. Er konnte nicht ahnen, dass im Jahre 2023 mehrere Hundert­tausend junge Haredim in Jeschiwot lernen und nicht zur Armee gehen. In den vergan­genen Jahren gab es immer wieder Bestre­bungen, dieses Privileg der Frommen aufzu­heben. Viele Israelis, deren Söhne und Töchter im Militär dienen und ihr Leben riskieren, sind wütend auf die Ultra­or­tho­doxen, die nichts riskieren, sondern lediglich alte heilige Texte lernen. Und sich das auch noch vom Staat hoch subven­tio­nieren lassen.

Netanyahu braucht die Justiz­reform, um den Korrup­ti­ons­prozess gegen ihn beenden zu können

Nun aber sehen die ultra­or­tho­doxen Parteien ihre Stunde und Chance gekommen. Denn noch nie gab es in Israel eine so rechts­extre­mis­tische und religiöse Regierung. Premier Netanyahu will die Justiz­reform zumindest in wichtigen Teilen umsetzen, um seinen Prozess wegen mutmaß­licher Korruption in drei Fällen zu beenden. Das sagen zumindest viele kritische Beobachter in Israel. Doch der Wider­stand in der Gesell­schaft ist groß, selbst wenn die Koalition das erste Gesetz durch­ge­bracht hat. Ursprünglich wollte sie bis Ende März die gesamte Reform durch­ge­zogen haben. Das misslang aufgrund der Massenproteste.

Geplantes Gesetz zur Umgestaltung des Berufungs­ko­mitees für Richter

Im Herbst wollen Netanyahu und seine Verbün­deten ein zweites Gesetz der Reform durch­peit­schen: Die Neube­setzung und Umgestaltung des Komitees, das Richter beruft. In Kurzform: Zukünftig will die Regierung in diesem Komitee das Sagen haben. Die Politiker könnten dann Richter einsetzen, die ihnen genehm sind. Das wäre das Aus für die Unabhän­gigkeit aller Gerichte, nicht nur des Obersten.

Die ortho­doxen Koali­ti­ons­par­teien versuchen Netanyahu damit zu erpressen. Erst muss es das Gesetz geben, das Fromme endgültig vom Armee­dienst befreit. Ansonsten würden sie bei diesem Plan nicht mitmachen. Es wird hart verhandelt. Denn Netanyahu weiß, dass ein Jeschiwa-Gesetz womöglich das Fass in der israe­li­schen Gesell­schaft endgültig zum Überlaufen bringen könnte.

Der Hass auf die Haredim ist in weiten Teilen der Gesell­schaft inzwi­schen unbändig. Das soeben verab­schiedete Haushalts­budget sieht für dieses und nächstes Jahr irrsinnige Summen für die Frommen vor, die damit ihre Jeschiwot und viele andere Parti­ku­lar­in­ter­essen auf Kosten der Bürger finan­zieren, die hart arbeiten und Militär­dienst leisten. Die meisten Haredim arbeiten nicht – und falls doch, dann häufig nur in einfachen Berufen. Sie sind nicht ordentlich ausge­bildet, sie können Thora und Talmud, haben aber von den Anfor­de­rungen einer modernen Gesell­schaft kaum Ahnung. Die neue Regierung finan­ziert inzwi­schen sogar religiöse Schulen, in denen keinerlei grund­le­gende Fächer wie Mathe­matik oder Englisch unter­richtet werden.

Religiöses Studium würde de facto dem Militär­dienst gleich­ge­setzt werden

Das Gesetz, das die Haredim fordern, wäre ein Grund­gesetz – es soll ja sozusagen „Ewigkeits­cha­rakter“ haben. Damit jedoch würde das Studieren von Thora und Talmud auf dieselbe Ebene gehievt werden wie der Militär­dienst. Beten und Lernen würden also in gleicher Weise den Staat „schützen“ wie der Dienst mit der Waffe. Das wäre die Kernaussage dieses Gesetzes.

Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer theokra­ti­sierten Gesellschaft

Im Augen­blick ist völlig unklar, wie Netanyahu vorgehen wird. Sollte dieses Gesetz in irgend­einer Form tatsächlich durch­kommen, wären massive Ausschrei­tungen garan­tiert. Aber mehr noch: Der Bruch zwischen denje­nigen, die jahrelang ihr Leben für die Sicherheit des Landes riskieren und denje­nigen, die genau deswegen in ihren Jeschiwot gemütlich lernen können, wäre endgültig. Die Disruption der israe­li­schen Gesell­schaft würde sich rasant beschleu­nigen. Last but not least: Ein solches Grund­gesetz wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg hin zu einer theokra­ti­sierten Gesell­schaft. Das ist sowieso das endgültige Ziel der Haredi

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