Gekränkte Eisenbahner: Worum es beim Streik in Frankreich wirklich geht
Kulturkampf in Frankreich: Eine gallische Front aus Eisenbahnern, Anarcho-Bauern und Studenten stemmt sich gegen Macrons Reformprogramm und kämpft für Inseln des Müßiggangs. Macrons Taktzahl ist in der Tat präzedenzlos. LibMod-Autor Albrecht Sonntag fragt: Eilt le président den Franzosen davon?
„Ich glaube meinerseits, dass wir eine effektive Politik bauen können, eine Politik, die sich dem gewöhnlichen Zynismus entzieht und in die Wirklichkeit eingraviert, was die erste Pflicht des politischen Handelns sein muss, und damit meine ich die Würde des Menschen.“
Wer möchte Emmanuel Macron da widersprechen? Sicherlich nicht die französische Bischofskonferenz, an die er am 9. April diese Worte gerichtet hat – wohl aber ein nicht zu unterschätzender Teil der französischen Gesellschaft, der sich von demselben Präsidenten, ungeachtet seiner Worte, in seiner Würde verletzt sieht.
Auf zahllosen Schauplätzen tun die Bürger ihren Unmut kund: auf Bahnhöfen, in Universitäten, und auf den Äckern des ehemaligen Flughafenprojekts von Notre-Dame-des-Landes, wo Alternative derzeit einen Guerillakampf gegen die Ordnungskräfte der Regierung führen.
Begehren die Franzosen jetzt, nach einem Jahr „En Marche“ mit Macron gegen seine ununterbrochenen „Reform-Zumutungen“ auf? Oder handelt es sich bloß um die Lust am Protest, das Echo der romantisch verklärten „Revolution“ vom Mai 68, mit der eine große Mehrheit der Franzosen einen positiven gesellschaftlichen Wandel verbindet? An den Aufruhr von damals erinnern dieser Tage sämtliche Medien mit geradezu zärtlicher Sentimentalität.
Macron wird Reformen durchziehen
Wahrscheinlich spielen beides – frische Wut und Nostalgie – in die Gemütslage der Protestler hinein. Die von den Gewerkschaften erhoffte und den Linken beschworene „Konvergenz der sozialen Kämpfe“ stellt sich allerdings nicht ein: zu sehr sind die verschiedenen Gruppen durch Einzelinteressen gespalten, und weder Streikende noch Studenten stellen eine repräsentative Mehrheit dar, im Gegenteil.
Macron und seine Regierung wissen das. Aus den Scharmützeln werden sie als Sieger hervorgehen. Die Bahn-Reform werden sie durchziehen, und auch an den Universitäten wird Ruhe einkehren, sobald den Studenten eine Verbesserung der Zulassungsordnung in Aussicht gestellt worden ist. Aber es wird ein zwiespältiger Erfolg sein, denn er hinterlässt Verlierer, die nicht nur in einem Arbeitskampf unterlegen sind, sondern sich erniedrigt fühlen, missachtet in ihrer Würde.
Streikende fühlen sich gedemütigt
Der Schlüssel zum Verständnis dieser Bitterkeit liegt im Auseinanderklaffen der Wahrnehmung. Die Regierung beschreibt ihr Vorgehen als „pragmatisch“, „standhaft“ und „ehrlich“, habe man doch vor den Wahlen keinen Hehl daraus gemacht, dass man den Bürgern an Bereitschaft zum Wandel einiges abverlangen werde. Ihre Argumente trägt sie sachlich vor, untermauert sie mit dem Achselzucken des besserwissenden Technokraten.
Bei den Protestierenden und Streikenden hat sich das Problem sofort auf ein ganz anderes semantisches Feld verlagert. Die Schlüsselwörter sind „mépris“ („Verachtung“) und „humiliation“ („Demütigung“) – ob es nun um den Beamtenstatus geht, , um das Tabu der Selektion bei der Zulassung zum Studium, oder den Aufbau eines Ökotops nachhaltiger und kollektivistischer Landwirtschaft wie in Notre-Dame-des-Landes.
Eisenbahner verteidigen Ehre
Der Kulturwissenschaftlicher Philippe d’Iribarne hat in mehreren Büchern herausgearbeitet, wie sehr Empfindungen in einer Kulturgemeinschaft von jahrhundertelang gewachsenen Vorstellungen über Gerechtigkeit und Würde, einem „mentalen Universum“, geprägt werden. Mit ihrer Hypersensibilität bezüglich „des Rangs, der einem jeden in der Gesellschaft zugewiesen ist“ stelle die französische Gesellschaft einen Sonderfall dar; ein besonders allergischer Bereich sei der „service public“, der öffentliche Dienst: Französische Beamte (darunter die Eisenbahner) unterlägen einer „Logik der Ehre“ und schöpften den Sinn ihrer Arbeit aus „einer gewissen Noblesse, die darin begründet ist, der Allgemeinheit zu dienen, ohne ihr Sklave zu sein“.
Als Erniedrigung wird auch die Infragestellung der über Jahrzehnte erkämpften „acquis“ empfunden: was von Außenstehenden als Privilegien wahrgenommen wird – etwa der frühe Einstieg ins Rentenalter – gilt für die Betroffenen als legitime Errungenschaften, deren Enteignung nicht nur ein Rückschritt ist, sondern die kollektive Identität nachhaltig erschüttert.
„Zivilisatorische Zumutung“
Natürlich kann man, wie es in den mittel- und nordeuropäischen Medien üblich ist, über die Streiklust der Franzosen, die sich den Zwängen des Spätkapitalismus nicht beugen wollen, den Kopf schütteln. In Deutschland weisen Politik und Wirtschaft darauf hin, man habe hierzulande „seine Hausaufgaben gemacht“ (Sozialreformen) – und jetzt seien damit die Franzosen an der Reihe.
Wer näher hinschaut, erkennt in den Konvulsionen der französischen Gesellschaft aber auch das verständliche Aufbäumen der Franzosen gegen einen kulturellen Umbruch. Das Macron-Projekt, das aus Frankreich im Rekordtempo ein „Skandinavien mit Sonnenschein und Weinbergen“ machen will, muss man als zivilisatorische Zumutung bezeichnen.
Gerade deshalb ist es erstaunlich, wie viele Franzosen nach Jahrzehnten der Stagnation bereit sind, diese „Hausaufgabe“ anzugehen. Die Frage ist nur: Sind sie genug – und bleiben sie bei der Stange? Davon wird der Erfolg dieser aufregenden Legislaturperiode abhängen. Noch liegt der Vorteil auf Seite des Präsidenten, dessen Arbeitspensum, Tempo und rhetorische Brillanz selbst Skeptikern Respekt abverlangt. Dennoch könnte Macron mit seiner liberalen Revolution noch immer scheitern.
Machtfülle verleitet Macron zum Durchregieren
Denn zum einen verbirgt sich, wie oben angedeutet, hinter dem Trommelfeuer aus Reformen (Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Reform des Bildungswesens, Neuordnung des öffentlichen Dienstes, Umschichtung des Steuersystems und Rückbau korporatistischer Privilegien) eine Infragestellung des gesellschaftlichen Unterbaus. Und um es mit Isaiah Berlin zu sagen: Gerade dort, wo Vorstellungen von Ehre und Würde verankert sind, kann ein heftig gekrümmter Zweig urplötzlich mit erstaunlicher Kraft zurückschnellen.
Zum anderen holen Emmanuel Macron jetzt die Mängel des politischen Systems der V. Republik ein, die er im Wahlkampf und den Monaten danach noch meisterhaft auszunutzen wusste. Das Mehrheitswahlrecht hat ihm einen unerhörten Gestaltungsfreiraum verschafft, der die tatsächlich herrschenden Kräfteverhältnisse aber nur verzerrt wiederspiegelt. Die Machtfülle des französischen Präsidenten verleitet, ja zwingt ihn dazu, über das schwache Parlament hinweg zu regieren, was unweigerlich den Protest auf der Straße (und der Schiene) provoziert.
Der Ernst seiner Lage ist dem Präsidenten bewusst. Zwei lange TV-Interviews und eine Reihe öffentlicher Diskussionen mit teils aufgebrachten Bürgern sollen die tiefsitzenden Verunsicherungen besänftigen. Ob das reicht? Das Macron-Experiment steht vor der ersten Bewährungsprobe.
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