Gekränkte Eisen­bahner: Worum es beim Streik in Frank­reich wirklich geht

Quelle: Shutter­stock

Kultur­kampf in Frank­reich: Eine gallische Front aus Eisen­bahnern, Anarcho-Bauern und Studenten stemmt sich gegen Macrons Reform­pro­gramm und kämpft für Inseln des Müßig­gangs. Macrons Taktzahl ist in der Tat präze­denzlos. LibMod-Autor Albrecht Sonntag fragt: Eilt le président den Franzosen davon?

„Ich glaube meiner­seits, dass wir eine effektive Politik bauen können, eine Politik, die sich dem gewöhn­lichen Zynismus entzieht und in die Wirklichkeit eingra­viert, was die erste Pflicht des politi­schen Handelns sein muss, und damit meine ich die Würde des Menschen.“

Wer möchte Emmanuel Macron da wider­sprechen? Sicherlich nicht die franzö­sische Bischofs­kon­ferenz, an die er am 9. April diese Worte gerichtet hat – wohl aber ein nicht zu unter­schät­zender Teil der franzö­si­schen Gesell­schaft, der sich von demselben Präsi­denten, ungeachtet seiner Worte, in seiner Würde verletzt sieht.

Auf zahllosen Schau­plätzen tun die Bürger ihren Unmut kund: auf Bahnhöfen, in Univer­si­täten, und auf den Äckern des ehema­ligen Flugha­fen­pro­jekts von Notre-Dame-des-Landes, wo Alter­native derzeit einen Gueril­la­kampf gegen die Ordnungs­kräfte der Regierung führen. 

Portrait von Albrecht Sonntag

Albrecht Sonntag ist Professor für Europa­studien an der ESSCA Ecole de Management in Angers, Frankreich.

Begehren die Franzosen jetzt, nach einem Jahr „En Marche“ mit Macron gegen seine ununter­bro­chenen „Reform-Zumutungen“ auf?  Oder handelt es sich bloß um die Lust am Protest, das Echo der roman­tisch verklärten „Revolution“ vom Mai 68, mit der eine große Mehrheit der Franzosen einen positiven gesell­schaft­lichen Wandel verbindet? An den Aufruhr von damals erinnern dieser Tage sämtliche Medien mit geradezu zärtlicher Sentimentalität.

Macron wird Reformen durchziehen

Wahrscheinlich spielen beides – frische Wut und Nostalgie –  in die Gemütslage der Protestler hinein. Die von den Gewerk­schaften erhoffte und den Linken beschworene „Konvergenz der sozialen Kämpfe“ stellt sich aller­dings nicht ein: zu sehr sind die verschie­denen Gruppen durch Einzel­in­ter­essen gespalten, und weder Strei­kende noch Studenten stellen eine reprä­sen­tative Mehrheit dar, im Gegenteil.

Macron und seine Regierung wissen das. Aus den Schar­mützeln werden sie als Sieger hervor­gehen. Die Bahn-Reform werden sie durch­ziehen, und auch an den Univer­si­täten wird Ruhe einkehren, sobald den Studenten eine Verbes­serung der Zulas­sungs­ordnung in Aussicht gestellt worden ist. Aber es wird ein zwiespäl­tiger Erfolg sein, denn er hinter­lässt Verlierer, die nicht nur in einem Arbeits­kampf unter­legen sind, sondern sich erniedrigt fühlen, missachtet in ihrer Würde.

Strei­kende fühlen sich gedemütigt

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Bitterkeit liegt im Ausein­an­der­klaffen der Wahrnehmung. Die Regierung beschreibt ihr Vorgehen als „pragma­tisch“, „standhaft“ und „ehrlich“, habe man doch vor den Wahlen keinen Hehl daraus gemacht, dass man den Bürgern an Bereit­schaft zum Wandel einiges abver­langen werde. Ihre Argumente trägt sie sachlich vor, unter­mauert sie mit dem Achsel­zucken des besser­wis­senden Technokraten.

Bei den Protes­tie­renden und Strei­kenden hat sich das Problem sofort auf ein ganz anderes seman­ti­sches Feld verlagert. Die Schlüs­sel­wörter sind „mépris“ („Verachtung“) und „humiliation“ („Demütigung“) –  ob es nun um den Beamten­status geht, , um das Tabu der Selektion bei der Zulassung zum Studium, oder den Aufbau eines Ökotops nachhal­tiger und kollek­ti­vis­ti­scher Landwirt­schaft wie in Notre-Dame-des-Landes.

Eisen­bahner vertei­digen Ehre

Der Kultur­wis­sen­schaft­licher Philippe d’Iribarne hat in mehreren Büchern heraus­ge­ar­beitet, wie sehr Empfin­dungen in einer Kultur­ge­mein­schaft von jahrhun­der­telang gewach­senen Vorstel­lungen über Gerech­tigkeit und Würde, einem „mentalen Universum“, geprägt werden. Mit ihrer Hyper­sen­si­bi­lität bezüglich „des Rangs, der einem jeden in der Gesell­schaft zugewiesen ist“ stelle die franzö­sische Gesell­schaft einen Sonderfall dar; ein besonders aller­gi­scher Bereich sei der „service public“, der öffent­liche Dienst: Franzö­sische Beamte (darunter die Eisen­bahner) unter­lägen einer „Logik der Ehre“ und schöpften den Sinn ihrer Arbeit aus „einer gewissen Noblesse, die darin begründet ist, der Allge­meinheit zu dienen, ohne ihr Sklave zu sein“.

Als Ernied­rigung wird auch die Infra­ge­stellung der über Jahrzehnte erkämpften „acquis“ empfunden: was von Außen­ste­henden als Privi­legien wahrge­nommen wird – etwa der frühe Einstieg ins Renten­alter – gilt für die Betrof­fenen als legitime Errun­gen­schaften, deren Enteignung nicht nur ein Rückschritt ist, sondern die kollektive Identität nachhaltig erschüttert.

„Zivili­sa­to­rische Zumutung“

Natürlich kann man, wie es in den mittel- und nordeu­ro­päi­schen Medien üblich ist, über die Strei­klust der Franzosen, die sich den Zwängen des Spätka­pi­ta­lismus nicht beugen wollen, den Kopf schütteln. In Deutschland weisen Politik und Wirtschaft darauf hin, man habe hierzu­lande „seine Hausauf­gaben gemacht“ (Sozial­re­formen) – und jetzt seien damit die Franzosen an der Reihe.

Wer näher hinschaut, erkennt in den Konvul­sionen der franzö­si­schen Gesell­schaft aber auch das verständ­liche Aufbäumen der Franzosen gegen einen kultu­rellen Umbruch. Das Macron-Projekt, das aus Frank­reich im Rekord­tempo ein „Skandi­navien mit Sonnen­schein und Weinbergen“ machen will, muss man als zivili­sa­to­rische Zumutung bezeichnen.

Gerade deshalb ist es erstaunlich, wie viele Franzosen nach Jahrzehnten der Stagnation bereit sind, diese „Hausaufgabe“ anzugehen. Die Frage ist nur: Sind sie genug – und bleiben sie bei der Stange? Davon wird der Erfolg dieser aufre­genden Legis­la­tur­pe­riode abhängen. Noch liegt der Vorteil auf Seite des Präsi­denten, dessen Arbeits­pensum, Tempo und rheto­rische Brillanz selbst Skeptikern Respekt abver­langt. Dennoch könnte Macron mit seiner  liberalen Revolution noch immer scheitern.

Macht­fülle verleitet Macron zum Durchregieren

Denn zum einen verbirgt sich, wie oben angedeutet, hinter dem Trommel­feuer aus Reformen (Flexi­bi­li­sierung des Arbeits­markts, Reform des Bildungs­wesens, Neuordnung des öffent­lichen Dienstes, Umschichtung des Steuer­systems und Rückbau korpo­ra­tis­ti­scher Privi­legien) eine Infra­ge­stellung des gesell­schaft­lichen Unterbaus. Und um es mit Isaiah Berlin zu sagen: Gerade dort, wo Vorstel­lungen von Ehre und Würde verankert sind, kann ein heftig gekrümmter Zweig urplötzlich mit erstaun­licher Kraft zurückschnellen.

Zum anderen holen Emmanuel Macron jetzt die Mängel des politi­schen Systems der V. Republik ein, die er im Wahlkampf und den Monaten danach noch meisterhaft auszu­nutzen wusste. Das Mehrheits­wahl­recht hat ihm einen unerhörten Gestal­tungs­freiraum verschafft, der die tatsächlich herrschenden Kräfte­ver­hält­nisse aber nur verzerrt wieder­spiegelt. Die Macht­fülle des franzö­si­schen Präsi­denten verleitet, ja zwingt ihn dazu, über das schwache Parlament hinweg zu regieren, was unwei­gerlich den Protest auf der Straße (und der Schiene) provoziert.

Der Ernst seiner Lage ist dem Präsi­denten bewusst. Zwei lange TV-Inter­views und eine Reihe öffent­licher Diskus­sionen mit teils aufge­brachten Bürgern sollen die tiefsit­zenden Verun­si­che­rungen besänf­tigen. Ob das reicht? Das Macron-Experiment steht vor der ersten Bewährungsprobe.

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