Anschlag in Halle: Ist Europa für Juden verloren?

Anteeru [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)] via Wikimedia

Die Bundes­re­pu­blik steht bei liberalen Israelis hoch im Kurs. Gleich­zeitig wächst die Sorge vor einem anti­se­mi­ti­schen Rückfall in Europa. Durch den Anschlag von Halle sehen viele ihre düstere Einschät­zung bestätigt. Ein Stim­mungs­bild aus Tel Aviv von Richard C. Schneider.

Man darf nie vergessen, warum der Zionismus entstanden ist und es den Staat Israel gibt: um Juden vor Anti­se­mi­tismus zu schützen. Als Theodor Herzl, der für eine Wiener Tages­zei­tung aus Paris berich­tete, Augen­zeuge des anti­se­mi­ti­schen Prozesses gegen den fran­zö­sisch-jüdischen Artil­lerie-Hauptmann Alfred Dreyfus wurde, erkannte er, dass Juden in Europa keine Zukunft haben. Er schrieb sein bahn­bre­chendes Buch „Der Juden­staat“, das 1896 erschien. Damit legte er das intel­lek­tu­elle Fundament für die letzte euro­päi­sche Natio­nal­be­we­gung des 19. Jahrhunderts.

Diaspora als „neuro­ti­sche Lösung“

Und so darf es nicht verwun­dern, dass Israel genau hinschaut, wenn sich in Europa anti­se­mi­ti­sche Vorfälle ereignen. Nach der Shoah stellt sich Europa aus israe­li­scher Perspek­tive als „verbrannte Erde“ dar. Als der einstige Staats­prä­si­dent Ezer Weizman bei einem Deutsch­land­be­such die Juden auffor­derte, nach Israel zu kommen und als Premier Benjamin Netanyahu nach dem Anschlag im „Hyper Cacher“ in Paris erklärte, die fran­zö­si­schen Juden sollten „nach Hause“ kommen, da war die Empörung vonseiten deutscher und fran­zö­si­scher Juden aller­dings groß: Sie wollten sich von den israe­li­schen Poli­ti­kern nicht verein­nahmen lassen; sie seien deutsche bzw. fran­zö­si­sche Staats­bürger, Israel habe kein Recht für sie zu sprechen. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Doku­men­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spon­dent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Doch im Sinne der zionis­ti­schen Idee ist das Verhalten der Politiker konse­quent gewesen, selbst wenn Juden mit euro­päi­schen Staats­bür­ger­schaf­tenn den Aufruf zurück­wiesen. Der Zionismus sieht die Diaspora als „neuro­ti­sche Lösung“ an, wie der israe­li­sche Schrift­steller A.B. Yehoshua einmal schrieb. Neuro­tisch, weil man nach israe­li­scher Lesart in der Diaspora als Jude stets einen Teil seiner Identität verleugnen muss, um zu überleben. Dass man dennoch prag­ma­tisch ist, dass sich Netanyahu & Co. im Klaren darüber sind, dass Juden immer auch außerhalb Israels leben werden, versteht sich.

Dass Netanyahu aber aus politisch-takti­schen Gründen mit anti­se­mi­ti­schen Regie­rungen in Osteuropa paktiert, macht Israel als Anwalt der jüdischen Diaspora im Augen­blick unglaub­würdig. Durch seine Äuße­rungen erleich­terte der Premier es der polni­schen Regierung, die Geschichte des Holocaust zu klittern und die Verant­wor­tung polni­scher Täter abzu­schwä­chen. Ähnliches geschah in Ungarn.

Einige Freunde und Bekannte, die mich vor zwei Jahren noch für verrückt erklärten, als ich den Entschluss traf, mich in Israel nieder­zu­lassen, bringen mir seit dem Anschlag mehr Verständnis entgegen. 

Von außen betrachtet ist die Lage für Juden in vielen euro­päi­schen Ländern schlimmer als in Deutsch­land, allen voran in Frank­reich. Doch wenn es in Deutsch­land zu anti­se­mi­ti­schen Vorfällen kommt, hat das vor dem Hinter­grund des von Deutschen began­genen Völker­mords ein anderes Gewicht.

Anti­se­mi­ti­sche Vorfälle nehmen zu

Die Ereig­nisse von Halle wurden in israe­li­schen Medien deshalb aufmerksam verfolgt. Noch Tage später wird über den Anschlag berichtet, aber auch über die Mahn­wa­chen und Protest­kund­ge­bungen. Dass Angela Merkel noch am selben Tag an einer Mahnwache vor der Neuen Synagoge in Berlin teilnahm, fanden in Israel alle großartig.

Premier Netanyahu deutete den Anschlag indes als ein weiteres Zeichen, dass Europa immer anti­se­mi­ti­scher werde. Von links­li­be­ralen Jour­na­listen wurde sofort kriti­siert, er würde den Anschlag in Halle politisch ausnutzen, um Angst zu schüren.

Warum eigent­lich? Er hat ja recht. Diverse Studien, unter anderem von der EU in Brüssel, belegen, dass anti­se­mi­ti­sche Vorfälle in Ländern wie Frank­reich, Deutsch­land oder Groß­bri­tan­nien in den letzten beiden Jahren um 30–50 Prozent zuge­nommen haben. Ebenso wie Präsident Reuven Rivlin forderte Netanyahu, die Bundes­re­gie­rung auf, alles dafür zu tun, dass es zu solch einem Attentat nicht mehr kommen kann.

Einige junge Israelis, die wissen, dass ich aus Deutsch­land stamme, fragten mich in den letzten Tagen, ob es denn noch sicher sei, nach Berlin zu reisen. Der Hype um Berlin als Sehn­suchtsort ist noch immer nicht abge­klungen. Wahr­heits­gemäß erklärte ich ihnen, dass sie sehr wohl nach Berlin könnten, aller­dings lieber keine jüdischen Symbole tragen sollten, und – je nachdem, in welchem Stadtteil sie sich bewegten –auch vorsichtig sein müssten, wenn sie öffent­lich Hebräisch sprächen.

Ist Europa für Juden verloren?

Natürlich wurden in israe­li­schen TV-Sendern auch „Deutsch­land-Experten“ befragt. Diese, auch sie über­wie­gend links­li­beral, wiegelten ab, diffe­ren­zierten, redeten aller­dings auch die Lage ein wenig schön, da sie eben nicht in Deutsch­land leben und nicht am eigenen Leib erleben, wie sich der Alltag für Juden verändert und verschärft hat. Im Versuch Verall­ge­mei­ne­rungen und Klischees zu vermeiden, zeichnen sie ein zu schön gefärbtes Deutsch­land­bild, das für mich, dem Juden aus Deutsch­land, etwas reali­täts­fern ist.

Entlang der poli­ti­schen Linien in Israel, also auf der einen Seite „rechts“, „orthodox“, „natio­na­lis­tisch“, auf der anderen „links“ und „säkular“ verläuft die Wahr­neh­mung Deutsch­lands. Für die Rechten und Frommen ist Deutsch­land über­wie­gend das Böse schlechthin, da in diesen Kreisen Deutsch­land einfach für immer „Nazi-Land“ ist. Für die andere Seite ist Deutsch­land mit seiner im Prinzip gut funk­tio­nie­renden Demo­kratie ein leuch­tendes Vorbild.

Von beiden Lagern jedoch wird Angela Merkel als Freundin Israels gesehen. Viele machen sich Sorgen, welche Regierung auf die Kanz­ler­schaft Merkels folgt, und ob sich der Anti­se­mi­tismus in Deutsch­land dann noch stoppen lasse. In Tel Aviv erzählt man sich einen Witz, wie die Weltlage zu retten sei: Netanyahu würde Präsident in den USA, Obama Bundes­kanzler und Angela Merkel israe­li­sche Premier­mi­nis­terin – das zeigt, welche Wert­schät­zung die deutsche Bundes­kanz­lerin unter den Bürgern des jüdischen Staates genießt.

Ange­sichts der Gesamt­ent­wick­lung in Europa und der zuneh­menden Einwan­de­rung fran­zö­si­scher Juden sind sich trotzdem fast alle einig, dass Europa „verloren“ sei und es für Juden dort keine Zukunft mehr gebe. Wobei Links­li­be­rale sarkas­tisch hinzu­fügen, dass auch in Israel Juden keine Zukunft mehr haben.

Einige Freunde und Bekannte, die mich vor zwei Jahren noch für verrückt erklärten, als ich den Entschluss traf, mich in Israel nieder­zu­lassen, bringen mir seit dem Anschlag mehr Verständnis entgegen: ich hätte recht gehabt mit meinen düsteren Prophe­zei­ungen über das, was sich in Deutsch­land und Europa zusam­men­braut. „Hier bist du daheim; Israel ist deine Heimat, gut dass du hier bist“.

Ich erwidere ihnen nicht, dass ich schon lange nicht mehr weiß, wo meine Heimat ist. Und dass es im Grunde auch egal ist, weil man in diesen Zeiten einfach nicht mehr weiß, wo man als Jude überhaupt noch wird leben können.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.