Anschlag in Halle: Ist Europa für Juden verloren?
Die Bundesrepublik steht bei liberalen Israelis hoch im Kurs. Gleichzeitig wächst die Sorge vor einem antisemitischen Rückfall in Europa. Durch den Anschlag von Halle sehen viele ihre düstere Einschätzung bestätigt. Ein Stimmungsbild aus Tel Aviv von Richard C. Schneider.
Man darf nie vergessen, warum der Zionismus entstanden ist und es den Staat Israel gibt: um Juden vor Antisemitismus zu schützen. Als Theodor Herzl, der für eine Wiener Tageszeitung aus Paris berichtete, Augenzeuge des antisemitischen Prozesses gegen den französisch-jüdischen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus wurde, erkannte er, dass Juden in Europa keine Zukunft haben. Er schrieb sein bahnbrechendes Buch „Der Judenstaat“, das 1896 erschien. Damit legte er das intellektuelle Fundament für die letzte europäische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts.
Diaspora als „neurotische Lösung“
Und so darf es nicht verwundern, dass Israel genau hinschaut, wenn sich in Europa antisemitische Vorfälle ereignen. Nach der Shoah stellt sich Europa aus israelischer Perspektive als „verbrannte Erde“ dar. Als der einstige Staatspräsident Ezer Weizman bei einem Deutschlandbesuch die Juden aufforderte, nach Israel zu kommen und als Premier Benjamin Netanyahu nach dem Anschlag im „Hyper Cacher“ in Paris erklärte, die französischen Juden sollten „nach Hause“ kommen, da war die Empörung vonseiten deutscher und französischer Juden allerdings groß: Sie wollten sich von den israelischen Politikern nicht vereinnahmen lassen; sie seien deutsche bzw. französische Staatsbürger, Israel habe kein Recht für sie zu sprechen.
Doch im Sinne der zionistischen Idee ist das Verhalten der Politiker konsequent gewesen, selbst wenn Juden mit europäischen Staatsbürgerschaftenn den Aufruf zurückwiesen. Der Zionismus sieht die Diaspora als „neurotische Lösung“ an, wie der israelische Schriftsteller A.B. Yehoshua einmal schrieb. Neurotisch, weil man nach israelischer Lesart in der Diaspora als Jude stets einen Teil seiner Identität verleugnen muss, um zu überleben. Dass man dennoch pragmatisch ist, dass sich Netanyahu & Co. im Klaren darüber sind, dass Juden immer auch außerhalb Israels leben werden, versteht sich.
Dass Netanyahu aber aus politisch-taktischen Gründen mit antisemitischen Regierungen in Osteuropa paktiert, macht Israel als Anwalt der jüdischen Diaspora im Augenblick unglaubwürdig. Durch seine Äußerungen erleichterte der Premier es der polnischen Regierung, die Geschichte des Holocaust zu klittern und die Verantwortung polnischer Täter abzuschwächen. Ähnliches geschah in Ungarn.
Einige Freunde und Bekannte, die mich vor zwei Jahren noch für verrückt erklärten, als ich den Entschluss traf, mich in Israel niederzulassen, bringen mir seit dem Anschlag mehr Verständnis entgegen.
Von außen betrachtet ist die Lage für Juden in vielen europäischen Ländern schlimmer als in Deutschland, allen voran in Frankreich. Doch wenn es in Deutschland zu antisemitischen Vorfällen kommt, hat das vor dem Hintergrund des von Deutschen begangenen Völkermords ein anderes Gewicht.
Antisemitische Vorfälle nehmen zu
Die Ereignisse von Halle wurden in israelischen Medien deshalb aufmerksam verfolgt. Noch Tage später wird über den Anschlag berichtet, aber auch über die Mahnwachen und Protestkundgebungen. Dass Angela Merkel noch am selben Tag an einer Mahnwache vor der Neuen Synagoge in Berlin teilnahm, fanden in Israel alle großartig.
Premier Netanyahu deutete den Anschlag indes als ein weiteres Zeichen, dass Europa immer antisemitischer werde. Von linksliberalen Journalisten wurde sofort kritisiert, er würde den Anschlag in Halle politisch ausnutzen, um Angst zu schüren.
Warum eigentlich? Er hat ja recht. Diverse Studien, unter anderem von der EU in Brüssel, belegen, dass antisemitische Vorfälle in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien in den letzten beiden Jahren um 30–50 Prozent zugenommen haben. Ebenso wie Präsident Reuven Rivlin forderte Netanyahu, die Bundesregierung auf, alles dafür zu tun, dass es zu solch einem Attentat nicht mehr kommen kann.
Einige junge Israelis, die wissen, dass ich aus Deutschland stamme, fragten mich in den letzten Tagen, ob es denn noch sicher sei, nach Berlin zu reisen. Der Hype um Berlin als Sehnsuchtsort ist noch immer nicht abgeklungen. Wahrheitsgemäß erklärte ich ihnen, dass sie sehr wohl nach Berlin könnten, allerdings lieber keine jüdischen Symbole tragen sollten, und – je nachdem, in welchem Stadtteil sie sich bewegten –auch vorsichtig sein müssten, wenn sie öffentlich Hebräisch sprächen.
Ist Europa für Juden verloren?
Natürlich wurden in israelischen TV-Sendern auch „Deutschland-Experten“ befragt. Diese, auch sie überwiegend linksliberal, wiegelten ab, differenzierten, redeten allerdings auch die Lage ein wenig schön, da sie eben nicht in Deutschland leben und nicht am eigenen Leib erleben, wie sich der Alltag für Juden verändert und verschärft hat. Im Versuch Verallgemeinerungen und Klischees zu vermeiden, zeichnen sie ein zu schön gefärbtes Deutschlandbild, das für mich, dem Juden aus Deutschland, etwas realitätsfern ist.
Entlang der politischen Linien in Israel, also auf der einen Seite „rechts“, „orthodox“, „nationalistisch“, auf der anderen „links“ und „säkular“ verläuft die Wahrnehmung Deutschlands. Für die Rechten und Frommen ist Deutschland überwiegend das Böse schlechthin, da in diesen Kreisen Deutschland einfach für immer „Nazi-Land“ ist. Für die andere Seite ist Deutschland mit seiner im Prinzip gut funktionierenden Demokratie ein leuchtendes Vorbild.
Von beiden Lagern jedoch wird Angela Merkel als Freundin Israels gesehen. Viele machen sich Sorgen, welche Regierung auf die Kanzlerschaft Merkels folgt, und ob sich der Antisemitismus in Deutschland dann noch stoppen lasse. In Tel Aviv erzählt man sich einen Witz, wie die Weltlage zu retten sei: Netanyahu würde Präsident in den USA, Obama Bundeskanzler und Angela Merkel israelische Premierministerin – das zeigt, welche Wertschätzung die deutsche Bundeskanzlerin unter den Bürgern des jüdischen Staates genießt.
Angesichts der Gesamtentwicklung in Europa und der zunehmenden Einwanderung französischer Juden sind sich trotzdem fast alle einig, dass Europa „verloren“ sei und es für Juden dort keine Zukunft mehr gebe. Wobei Linksliberale sarkastisch hinzufügen, dass auch in Israel Juden keine Zukunft mehr haben.
Einige Freunde und Bekannte, die mich vor zwei Jahren noch für verrückt erklärten, als ich den Entschluss traf, mich in Israel niederzulassen, bringen mir seit dem Anschlag mehr Verständnis entgegen: ich hätte recht gehabt mit meinen düsteren Prophezeiungen über das, was sich in Deutschland und Europa zusammenbraut. „Hier bist du daheim; Israel ist deine Heimat, gut dass du hier bist“.
Ich erwidere ihnen nicht, dass ich schon lange nicht mehr weiß, wo meine Heimat ist. Und dass es im Grunde auch egal ist, weil man in diesen Zeiten einfach nicht mehr weiß, wo man als Jude überhaupt noch wird leben können.
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