Geschichts­po­litik in Belarus: Streit um Gedenk­stätte Kuropaty

Die Regierung Lukaschenko in Belarus / Weißrussland will die Gedenkstätte Kuropaty zerstören. Dagegen regt sich Protest in der liberalen demokratischen Zivilgesellschaft, berichtet Natalia Radina, Chefredakteurin der Internetplattform Charter-97 für Zentrum Liberale Moderne / LibMod.
Shutter­stock /​ Fisher_​Y

Im Waldstück Kuropaty nahe Minsk erinnern hunderte Holzkreuze an Massen­er­schie­ßungen der roten Armee während des Zweiten Weltkrieges. Doch das Regime Lukaschenka will die Gedenk­stätte zerstören – die Zivil­ge­sell­schaft hält dagegen. Natalia Radina erklärt, warum Kuropaty zum Symbol für die demokra­tische Opposition in Weißrussland geworden ist.

Das Waldstück Kuropaty nördlich von Minsk ist der bekann­teste Ort auf weißrus­si­schem Boden, an dem während des Zweiten Weltkriegs Massen­er­schie­ßungen durch sowje­tische Truppen erfolgten. Unter­schied­lichen Infor­ma­tionen zufolge wurden hier zwischen 100.000 und 250.000 Menschen ermordet und verscharrt. Als 1988 die Wahrheit über die Erschie­ßungen in Kuropaty ans Licht kam, war dies der Auslöser für den Kampf der Weißrussen um Freiheit und Unabhän­gigkeit von der Sowjet­union. Und gerade deshalb versucht das Lukaschenka-Regime immer wieder, diesen Ort zu zerstören.

Verbrechen in Kuropaty: Späte Recherchen

Zum ersten mal wurden die Erschie­ßungen von Kuropaty am 3. Juni 1988 in einem Artikel von Jewgenij Schmy­galjow und Senon Posnjak öffentlich erwähnt. Die Forscher hatten Zeugen­aus­sagen von Anwohnern gesammelt, die belegten, dass in dem Waldstück von 1937 bis 1941 täglich Hinrich­tungen statt fanden. Die meisten Massen­er­schie­ßungen gab es um 1940 nach der Einglie­derung Westweiß­russ­lands in die UdSSR. In geschlos­senen LKWs wurden die Menschen antrans­por­tiert. Durch Kopfschüsse wurden die Opfer getötet. Ihre Leichen wurden recht­winklig in Reihen in mehreren Schichten überein­ander in zuvor ausge­hobene Gruben gelegt, die anschließend mit Kiefern bepflanzt wurden. Allein in einer dieser Gruben fand man bei Grabungen die sterb­lichen Überreste von 300 Toten.

Die Veröf­fent­li­chung des Artikels führte dazu, dass am 14. Juni 1988 ein Straf­ver­fahren eröffnet wurde. Auf einem Gelände von ca. 30 ha wurden über 500 Gräber gefunden und unter­sucht. Bei Grabungen gefundene Sachbe­weise, wie z. B. Geschoss­hülsen und Kugeln sowie Zeugen­aus­sagen von Bewohnern der Nachbar­dörfer bestä­tigten, dass sowje­tische Straf­be­hörden die Exeku­tionen verantworteten.

Die General­staats­an­walt­schaft der Weißrus­si­schen SSR stimmte den Ergeb­nissen der Ermitt­lungen zu. „Es wurde hinrei­chend bewiesen, dass die Erschießung der Verur­teilten durch Mitar­beiter der Komman­dantur des NKWD der Weißrus­si­schen SSR erfolgte“, heißt es in der entspre­chenden im November 1988 veröf­fent­lichten Entscheidung.

Aktivisten stellen Holzkreuze auf

Aus den Grabungen ergab sich auch, dass in Kuropaty nicht nur Weißrussen, sondern auch Polen, Ukrainer, Russen, Juden, Litauer und Angehörige anderer ethni­scher Gruppen ermordet wurden, die auf dem Gebiet der Weißrus­si­schen SSR gelebt hatten. Bei der Mehrzahl der Toten handelte es sich um Zivilisten. Dem polni­schen Histo­riker Wojtek Macerski zufolge wurden in Kuropaty jedoch auch ca. 3000 polnische Offiziere von der sogenannten „Katyn-Liste“ begraben.

Nachdem die Infor­ma­tionen über die Gräber veröf­fent­licht und in dem Waldstück Nachfor­schungen angestellt worden waren, begann die Errichtung einer „Volks­ge­denk­stätte“. Am 29. Oktober 1989 wurde im Rahmen der Prozession zum Tag des Gedenkens an die Vorfahren in Kuropaty ein sieben Meter hohes „Kreuz des Leidens“ errichtet und anschließend von Vertretern sämtlicher christ­licher Konfes­sionen des Landes gesegnet. In den Folge­jahren wurden hunderte Kreuze in verschie­denen Größen zum Gedenken an die Erschos­senen von Kuropaty aufge­stellt. Um Ordnung und regel­mäßige Reinigung der Gräber in dem Waldstück kümmerten sich Aktivisten. Regel­mäßig kamen neue Kreuze hinzu.

1994 kam der damalige US-Präsident Bill Clinton nach Kuropaty und ließ ein Denkmal, das sogenannte „Clinton-Bänkchen“ aufstellen.

Warum Lukaschenka die Gedenk­stätte Kuropaty zerstören will

Lukaschenka, der in Belarus eine Renais­sance des Stalin-Kults betreibt, hat immer wieder versucht, den histo­ri­schen Wert der Gräber klein­zu­reden und zu beweisen, dass die Exeku­tionen in Kuropaty während des Zweiten Weltkriegs von den Natio­nal­so­zia­listen verübt worden waren. Auf sein Betreiben hin unterzog die Staats­an­walt­schaft mehrfach die Materialien zu Kuropaty einer Überprüfung. Ermitt­lungen und Grabungen in dem Waldstück wurden wieder aufge­nommen. Dennoch fand sich über die gesamte Zeit keine einzige Tatsache, die widerlegt hätte, dass die Erschie­ßungen durch Mitar­beiter des NKWD erfolgt waren. Ganz im Gegenteil entdeckte man 1999 sogar noch zusätz­liche Sachbe­weise, die die ursprüng­liche Datierung der Exeku­tionen belegten.

Aus den Schul­bü­chern für den Geschichts­un­ter­richt hat man die Infor­ma­tionen über die Erschie­ßungen in Kuropaty getilgt, und in den offizi­ellen Medien gibt es auch keine Infor­ma­tionen darüber.

Außerdem wurde in der Folge auch weiter versucht, die Toten von Kuropaty aus dem Gedächtnis zu löschen. Regel­mäßig schänden Unbekannte die Gräber, reißen Gedenk­in­schriften und Gedenk­tafeln nieder, zerstören Kreuze. Die „Clinton-Bank“ wurde drei Mal völlig zerstört. Und in keinem einzigen der Hunderten Fälle von Vanda­lismus wurde ermittelt, nie wurde ein Täter gefunden oder gar bestraft.

Wider­stand der Zivilgesellschaft

Im September 2001, unmit­telbar nach den manipu­lierten Präsi­dent­schafts­wahlen, versuchten die Behörden, einen Teil der Gedenk­stätte zu zerstören, indem sie begannen, den Minsker Autobahnring zu verbreitern, der ohnehin schon über den Gräbern der Opfer der stali­nis­ti­schen Repression verlief. Aktivisten übernahmen die Vertei­digung des Waldstücks und hielten die Baufahr­zeuge auf. Sie bauten bei Kuropaty Zelte auf und hielten rund um die Uhr Wache, was schließlich ein halbes Jahr andauerte. Im Oktober erreichte der Wider­stand dann seinen Höhepunkt, als OMON-Einheiten mit Tränengas gegen die Aktivisten vorgingen. Auch wenn einige Aktivisten verhaftet wurden, so gelang es doch, Kuropaty zu vertei­digen. Das Gelände, auf dem gebaut werden sollte, musste wesentlich verkleinert werden.

Außerdem gab es noch weitere Versuche. So verrin­gerten die Behörden 2014 geset­zes­widrig die Schutzzone um die Gedenk­stätte von 120 auf 50 Meter, und die dadurch frei gewor­denen Flächen wurden anschließend zu Bauland. Im Frühjahr 2017 gelang es den Aktivisten, die Errichtung eines Gewer­be­parks zu stoppen, und seit Sommer 2018 gibt es tägliche Protest­ak­tionen gegen das in der ehema­ligen Schutzzone gebaute Restaurant „Pojedem pojedim“.

Am 4. April 2019 wurden in Kuropaty ca. 70 ursprünglich von Aktivisten errichtete Kreuze zerstört. Die Entfernung der Kreuze erfolgte unter dem Schutz der Miliz und auf persön­liche Anweisung Lukaschenkos hin, der im Vorfeld während einer Rede am 1. März gefordert hatte, es solle in Kuropaty „in der Umgebung keine Demons­tra­tionen mit Kreuzen“ geben. Die Kreuze wurden aus der Erde gerissen, demoliert und anschließend mit unbekanntem Ziel abgefahren. Und dieje­nigen, die versucht hatten die Zerstörung zu verhindern, wurden mit Schlägen traktiert und verhaftet.

Das Vorgehen der Behörden wurde von Vertretern aller christ­lichen Konfes­sionen Weißruss­lands verur­teilt, wie auch von vielen Promi­nenten, Politikern, Persön­lich­keiten des öffent­lichen Lebens, Schrift­stellern und Musikern. Und dennoch zerstörten die Behörden eine Woche später noch einmal 60 Kreuze und zäunten das Gelände des Waldstücks ein, so dass nun praktisch kein freier Zugang zur Gedenk­stätte mehr möglich ist.

Aktivisten, die sich nach dem Entfernen der Kreuze an Aktionen in Kuropaty betei­ligen, werden festge­nommen und müssen Geldstrafen bezahlen. Die Initia­toren des Bittgot­tes­dienstes für die Gedenk­stätte am 7. April 2019, der Vorsit­zende der sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei „Narodnaja Gromada“, Nikolaj Statke­witsch, der Ko-Vorsit­zende der Partei „Belarus­sische Christ­de­mo­kratie“, Pawel Sewerinez und der Koordi­nator der zivil­ge­sell­schaft­lichen Kampagne „Europäi­sches Belarus“, Maxim Winjarskij kamen ins Gefängnis.

Viele Persön­lich­keiten des öffent­lichen Lebens und Politiker sind der Auffassung, dass das Ziel der Behörden darin besteht, die Gedenk­stätte endgültig zu zerstören, da sie so gar nicht zur offizi­ellen Ideologie passt, an die Verbrechen einer Diktatur erinnert, nämlich die der sowje­ti­schen, und zum Symbol des Wider­stands gegen eine andere, nämlich die Lukaschenkas geworden ist.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.