Geschichtspolitik in Belarus: Streit um Gedenkstätte Kuropaty
Im Waldstück Kuropaty nahe Minsk erinnern hunderte Holzkreuze an Massenerschießungen der roten Armee während des Zweiten Weltkrieges. Doch das Regime Lukaschenka will die Gedenkstätte zerstören – die Zivilgesellschaft hält dagegen. Natalia Radina erklärt, warum Kuropaty zum Symbol für die demokratische Opposition in Weißrussland geworden ist.
Das Waldstück Kuropaty nördlich von Minsk ist der bekannteste Ort auf weißrussischem Boden, an dem während des Zweiten Weltkriegs Massenerschießungen durch sowjetische Truppen erfolgten. Unterschiedlichen Informationen zufolge wurden hier zwischen 100.000 und 250.000 Menschen ermordet und verscharrt. Als 1988 die Wahrheit über die Erschießungen in Kuropaty ans Licht kam, war dies der Auslöser für den Kampf der Weißrussen um Freiheit und Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Und gerade deshalb versucht das Lukaschenka-Regime immer wieder, diesen Ort zu zerstören.
Verbrechen in Kuropaty: Späte Recherchen
Zum ersten mal wurden die Erschießungen von Kuropaty am 3. Juni 1988 in einem Artikel von Jewgenij Schmygaljow und Senon Posnjak öffentlich erwähnt. Die Forscher hatten Zeugenaussagen von Anwohnern gesammelt, die belegten, dass in dem Waldstück von 1937 bis 1941 täglich Hinrichtungen statt fanden. Die meisten Massenerschießungen gab es um 1940 nach der Eingliederung Westweißrusslands in die UdSSR. In geschlossenen LKWs wurden die Menschen antransportiert. Durch Kopfschüsse wurden die Opfer getötet. Ihre Leichen wurden rechtwinklig in Reihen in mehreren Schichten übereinander in zuvor ausgehobene Gruben gelegt, die anschließend mit Kiefern bepflanzt wurden. Allein in einer dieser Gruben fand man bei Grabungen die sterblichen Überreste von 300 Toten.
Die Veröffentlichung des Artikels führte dazu, dass am 14. Juni 1988 ein Strafverfahren eröffnet wurde. Auf einem Gelände von ca. 30 ha wurden über 500 Gräber gefunden und untersucht. Bei Grabungen gefundene Sachbeweise, wie z. B. Geschosshülsen und Kugeln sowie Zeugenaussagen von Bewohnern der Nachbardörfer bestätigten, dass sowjetische Strafbehörden die Exekutionen verantworteten.
Die Generalstaatsanwaltschaft der Weißrussischen SSR stimmte den Ergebnissen der Ermittlungen zu. „Es wurde hinreichend bewiesen, dass die Erschießung der Verurteilten durch Mitarbeiter der Kommandantur des NKWD der Weißrussischen SSR erfolgte“, heißt es in der entsprechenden im November 1988 veröffentlichten Entscheidung.
Aktivisten stellen Holzkreuze auf
Aus den Grabungen ergab sich auch, dass in Kuropaty nicht nur Weißrussen, sondern auch Polen, Ukrainer, Russen, Juden, Litauer und Angehörige anderer ethnischer Gruppen ermordet wurden, die auf dem Gebiet der Weißrussischen SSR gelebt hatten. Bei der Mehrzahl der Toten handelte es sich um Zivilisten. Dem polnischen Historiker Wojtek Macerski zufolge wurden in Kuropaty jedoch auch ca. 3000 polnische Offiziere von der sogenannten „Katyn-Liste“ begraben.
Nachdem die Informationen über die Gräber veröffentlicht und in dem Waldstück Nachforschungen angestellt worden waren, begann die Errichtung einer „Volksgedenkstätte“. Am 29. Oktober 1989 wurde im Rahmen der Prozession zum Tag des Gedenkens an die Vorfahren in Kuropaty ein sieben Meter hohes „Kreuz des Leidens“ errichtet und anschließend von Vertretern sämtlicher christlicher Konfessionen des Landes gesegnet. In den Folgejahren wurden hunderte Kreuze in verschiedenen Größen zum Gedenken an die Erschossenen von Kuropaty aufgestellt. Um Ordnung und regelmäßige Reinigung der Gräber in dem Waldstück kümmerten sich Aktivisten. Regelmäßig kamen neue Kreuze hinzu.
1994 kam der damalige US-Präsident Bill Clinton nach Kuropaty und ließ ein Denkmal, das sogenannte „Clinton-Bänkchen“ aufstellen.
Warum Lukaschenka die Gedenkstätte Kuropaty zerstören will
Lukaschenka, der in Belarus eine Renaissance des Stalin-Kults betreibt, hat immer wieder versucht, den historischen Wert der Gräber kleinzureden und zu beweisen, dass die Exekutionen in Kuropaty während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten verübt worden waren. Auf sein Betreiben hin unterzog die Staatsanwaltschaft mehrfach die Materialien zu Kuropaty einer Überprüfung. Ermittlungen und Grabungen in dem Waldstück wurden wieder aufgenommen. Dennoch fand sich über die gesamte Zeit keine einzige Tatsache, die widerlegt hätte, dass die Erschießungen durch Mitarbeiter des NKWD erfolgt waren. Ganz im Gegenteil entdeckte man 1999 sogar noch zusätzliche Sachbeweise, die die ursprüngliche Datierung der Exekutionen belegten.
Aus den Schulbüchern für den Geschichtsunterricht hat man die Informationen über die Erschießungen in Kuropaty getilgt, und in den offiziellen Medien gibt es auch keine Informationen darüber.
Außerdem wurde in der Folge auch weiter versucht, die Toten von Kuropaty aus dem Gedächtnis zu löschen. Regelmäßig schänden Unbekannte die Gräber, reißen Gedenkinschriften und Gedenktafeln nieder, zerstören Kreuze. Die „Clinton-Bank“ wurde drei Mal völlig zerstört. Und in keinem einzigen der Hunderten Fälle von Vandalismus wurde ermittelt, nie wurde ein Täter gefunden oder gar bestraft.
Widerstand der Zivilgesellschaft
Im September 2001, unmittelbar nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen, versuchten die Behörden, einen Teil der Gedenkstätte zu zerstören, indem sie begannen, den Minsker Autobahnring zu verbreitern, der ohnehin schon über den Gräbern der Opfer der stalinistischen Repression verlief. Aktivisten übernahmen die Verteidigung des Waldstücks und hielten die Baufahrzeuge auf. Sie bauten bei Kuropaty Zelte auf und hielten rund um die Uhr Wache, was schließlich ein halbes Jahr andauerte. Im Oktober erreichte der Widerstand dann seinen Höhepunkt, als OMON-Einheiten mit Tränengas gegen die Aktivisten vorgingen. Auch wenn einige Aktivisten verhaftet wurden, so gelang es doch, Kuropaty zu verteidigen. Das Gelände, auf dem gebaut werden sollte, musste wesentlich verkleinert werden.
Außerdem gab es noch weitere Versuche. So verringerten die Behörden 2014 gesetzeswidrig die Schutzzone um die Gedenkstätte von 120 auf 50 Meter, und die dadurch frei gewordenen Flächen wurden anschließend zu Bauland. Im Frühjahr 2017 gelang es den Aktivisten, die Errichtung eines Gewerbeparks zu stoppen, und seit Sommer 2018 gibt es tägliche Protestaktionen gegen das in der ehemaligen Schutzzone gebaute Restaurant „Pojedem pojedim“.
Am 4. April 2019 wurden in Kuropaty ca. 70 ursprünglich von Aktivisten errichtete Kreuze zerstört. Die Entfernung der Kreuze erfolgte unter dem Schutz der Miliz und auf persönliche Anweisung Lukaschenkos hin, der im Vorfeld während einer Rede am 1. März gefordert hatte, es solle in Kuropaty „in der Umgebung keine Demonstrationen mit Kreuzen“ geben. Die Kreuze wurden aus der Erde gerissen, demoliert und anschließend mit unbekanntem Ziel abgefahren. Und diejenigen, die versucht hatten die Zerstörung zu verhindern, wurden mit Schlägen traktiert und verhaftet.
Das Vorgehen der Behörden wurde von Vertretern aller christlichen Konfessionen Weißrusslands verurteilt, wie auch von vielen Prominenten, Politikern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Schriftstellern und Musikern. Und dennoch zerstörten die Behörden eine Woche später noch einmal 60 Kreuze und zäunten das Gelände des Waldstücks ein, so dass nun praktisch kein freier Zugang zur Gedenkstätte mehr möglich ist.
Aktivisten, die sich nach dem Entfernen der Kreuze an Aktionen in Kuropaty beteiligen, werden festgenommen und müssen Geldstrafen bezahlen. Die Initiatoren des Bittgottesdienstes für die Gedenkstätte am 7. April 2019, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei „Narodnaja Gromada“, Nikolaj Statkewitsch, der Ko-Vorsitzende der Partei „Belarussische Christdemokratie“, Pawel Sewerinez und der Koordinator der zivilgesellschaftlichen Kampagne „Europäisches Belarus“, Maxim Winjarskij kamen ins Gefängnis.
Viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politiker sind der Auffassung, dass das Ziel der Behörden darin besteht, die Gedenkstätte endgültig zu zerstören, da sie so gar nicht zur offiziellen Ideologie passt, an die Verbrechen einer Diktatur erinnert, nämlich die der sowjetischen, und zum Symbol des Widerstands gegen eine andere, nämlich die Lukaschenkas geworden ist.
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