Lukashenka in der Klemme
Will Wladimir Putin eine Annexion von Belarus erzwingen? Die wirtschaftliche Abhängigkeit des von Diktator Aljaksandr Lukashenka geführten Nachbarlandes spielt ihm in die Karten. Aber der Verlust der belarussischen Souveränität wäre ein weiterer Schlag des Kremls gegen die europäische Ordnung.
Der Flughafen in Minsk begrüßt seine Gäste in drei Sprachen: Russisch, Belarussisch und Chinesisch. Die Botschaft ist eindeutig. Hier versucht sich ein autoritärer Führer dem Druck des Nachbarn im Osten durch Anlehnung an China zu entziehen. Die Gerüchteküche über einen vom Kreml gewünschten Anschluss brodelt schon lange. So soll Putin persönlich die Order gegeben haben, das westliche Nachbarland bis zum Jahresende von einer eurasischen Zollunion in eine politische Union mit Russland zu überführen. Ein solches Manöver würde Spielraum für eine Verfassungsreform eröffnen, die Putin gelegen käme. Die Amtszeitbegrenzung würde fallen und den Weg für einen Präsidenten Putin auf Lebenszeit frei machen.
Kein Zweifel, diese Perspektive schmeckt einem Präsidenten Lukashenka nicht. Ein Leben als Vasall des großen Nachbarn im Osten? Das hat er sich anders vorgestellt. So blieb Lukashenka denn auch sperrig, als der Angriff auf die sich von Moskau emanzipierende Ukraine begann. Die Annexion der Krim hat Belarus bis zum heutigen Tage nicht anerkannt. Am 3. Juli ließ Lukashenka ein souveränes Belarus mit großem militärischen Tamtam hochleben. 75 Jahre Belarus! Die Botschaft an Moskau war eindeutig.
Die Machtmittel des Kreml jedoch sind erheblich. Seit Jahren gewährt der große Bruder ein einträgliches Zubrot für den klammen belarussischen Staatshaushalt. Russisches Gas und Öl werden zu Inlandpreisen geliefert. Belarus raffiniert das Öl und leitet es zu Weltmarktpreisen auf den Westmarkt weiter. Die faktische Subvention beläuft sich auf bis zu 6 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Viel für das arme Belarus. Inzwischen aber auch viel für den Kreml, dessen ökonomische Lage nicht rosig ist. In Russland drücken die Subventionen, der Ölpreis ist gefallen, die Bevölkerung altert, die soziale Lage vieler ist prekär und die geplante Heraufsetzung des Rentenalters stößt auf massiven Unmut.
Lukashenka gilt als der „letzte Diktator Europas“
So ist ein Ende der brüderlichen Subvention absehbar. Sei es, um die russische Staatskasse zu entlasten. Sei es, um Belarus unter Druck zu setzen. Ein Ende der Lieferung von Gas und Öl zu russischen Inlandspreisen würde nicht nur den lukrativen Weiterverkauf an Westmärkte beenden. Auch im Inland würden Gas- und Öl-Produkte teurer werden. Die Konsequenzen träfen Belarus also in doppelter Weise.
Auch dem belarussischen Agrarmarkt kann der Kreml mit wenigen Verordnungen Ärger machen. Französischer Käse – seit Beginn der EU-Sanktionen und der russischen Gegensanktionen auf wundersame Weise aus belarussischer Milch gezaubert – könnte als fake enttarnt werden. Belarus würde das lukrative Business verlieren, bei dem Sanktionen umgangen werden, bei dem französischer Käse in belarussischen umetikettiert wird. Zudem könnte der Kreml dies als Anlass nutzen, Milchprodukte aus Belarus grundsätzlich zu untersagen. Der wirtschaftliche Schaden für Minsk wäre enorm, denn im Agrarsektor ist Russland mit Abstand der wichtigste Absatzmarkt. Der Kreml nutzt seit je her hygienische Mängel als Anlass, um Lukaschenka mit vorübergehenden Importstopps unter Druck zu setzen.
Das alles sieht Lukashenka, der sich rühmt, das Land stabil, sauber und ohne westliche Sperenzchen zu steuern, sehr wohl. Den Preis für diese Politik der Ordnung zahlen derzeit Jugendliche, die mit drastischen Lagerstrafen für vergleichsweise harmlosen Marihuanakonsum bestraft werden. Das Dilemma ist offensichtlich: Von Osten droht der Hunger des amputierten Imperiums, von Westen droht der Ruf nach freien und fairen Wahlen und Menschenrechten.
Durchaus zeigte sich der „letzte Diktator Europas“ beweglich, als ein Schaukeln zwischen Ost und West noch möglich war. Die EU pilgerte nach Minsk, sieben Kandidaten durften zur Präsidentenwahl 2010 antreten. Doch als die Ergebnisse allzu peinlich für den Präsidenten ausfielen, wurde der Protest niedergeknüppelt. Die oppositionellen Bewerber landeten im Knast. Der Westen fühlte sich betrogen – und zog das diplomatische Personal ab.
Was heißt das für ein Belarus des Jahres 2019? Was heißt das für den Westen – soweit es ihn als politische Kraft noch gibt?
Russische Truppen stünden an der Grenze zu Estland, Lettland und Litauen
Der Verlust der Souveränität des Landes wäre ein weiterer Schlag des Kremls gegen die europäische Ordnung. Russische Truppen stünden an der Grenze zu Estland, Lettland und Litauen. Auch Polen fände sich als Nachbar der russischen Föderation wieder. Anders als in Deutschland ist der Einmarsch der Roten Armee am 27. September 1939, der dem Einmarsch der Wehrmacht vom 1. September folgte, in Polen noch im historischen Gedächtnis.
Und die Belarussen selbst? Lukashenka gilt vielen als Fuchs: Russischen Expansionsgelüsten kommt er zuvor, indem er die Belarussen zu den besseren Russen erklärt, die, versteht sich, ihre Unabhängigkeit nie aufgeben würden. In der Tat: Auch Belarus ist eine Nation im Werden. Ganz langsam blüht die belarussische Sprache wieder auf. Ähnlich wie in der Ukraine hatte Stalin das Land auch auf dem Feld der Sprache gründlich russifiziert.
Zudem hat Lukashenka offenbar erfasst, dass seine Chancen, das Land vor Putins Gelüsten zu schützen, in erheblichem Maße von einer ökonomischen Modernisierung des Landes abhängen. Kolchose Lukashenka ist nicht mehr. Wo er noch 2006 einen erbitterten Kampf gegen jegliches Unternehmertum führte und selbst Marktfrauen und Kleinunternehmer vor staatlicher Verfolgung nicht sicher waren, bekommt der private Sektor Luft. Es gibt viele gut ausgebildete IT-Fachleute. Familienbetriebe dürfen prosperieren. Selbst dem ökologischen Landbau wurde durch parlamentarische Initiativen, an denen Aktivisten mitarbeiteten, ein neuer Raum eingerichtet. Wer die Produktpalette der belarussischen Staatsbetriebe kennt, vom Kristall der Fünfzigerjahre bis zur Tischwäsche mit Design aus Großmutters Zeiten, der weiß, wie dringend nötig Unternehmergeist und Marktwirtschaft für das Land sind.
Wer „Wandel durch Handel“ mit Gazprom preist, verkennt, dass der Wandel eher im Westen stattzufinden droht. Wandel durch Handel mit privaten, kleinen und mittleren Unternehmen in Belarus jedoch könnte Potential für eine gewisse Liberalisierung enthalten. Nicht die EU, sondern die durch Putin geschaffene eurasische Zollunion stellt Belarus vor ein Entweder-Oder. Hier ist eine kreative Antwort der EU gefragt, um Belarus aus der Umklammerung der eurasischen Union zu befreien.
Visafreiheit und Ryanair wären wie Sauerstoff für die belarussische Zivilgesellschaft
Die politische Landschaft hat sich seit 2010 verändert. Wo bis 2010 ein zu allen Mitteln bereiter Staatschef die politische Opposition verfolgte, einsperrte, viele von ihnen vertrieb oder aufrieb, so tut sich etwas Neues auf. Trotz der bleiernen Schwere in Ökonomie und Politik – vieles riecht noch nach Kolchose und homo sovieticus – gibt es Bewegung bei den Jungen. Ihre Strategie ist geschmeidiger als die der alten Opposition. Sie betrachten Veränderungen in einer aktiven Bürgerschaft als politisch. Sie denken in der Öffnung von Räumen, anstatt in die frontale politische Konfrontation zu gehen.
Ein „European College of Liberal Arts“ bietet ein vielfältiges Angebot in Bildung und Weiterbildung. Die Dozenten sind gut ausgebildet, jung und modern. Von Ökologie bis Philosophie ist das Curriculum breit gefächert. Obwohl nicht staatlich anerkannt, werden die Kurse zertifiziert und der Zulauf ist groß, auch von Berufstätigen nach Feierabend. Initiativen gegen häusliche Gewalt haben einen Rückschlag erlitten, nachdem Lukshenka mit dem dummen Spruch, ein Klaps habe noch niemandem geschadet, ein bereits fertiges Gesetz wieder kassierte. Aber die Frauen sind guten Mutes. Ihre Chancen, Lukashenka zu überdauern, stehen schon aus biologischen Gründen gut.
„Sag die Wahrheit“, eine Inititaive für bürgerliches Engagement hat über 700 Mitglieder. Und das nicht nur in Minsk. Es geht um gesellschaftliche Selbstorganisation, um ganz praktische Initiativen. Das kann die Stadtgestaltung sein, die Abwehr ökologischer Schäden im eigenen Umfeld, das Öffentlichmachen von unterbliebenen Nachrichten. Kein staatlicher Nachrichtensender hatte vom Tod einer Frau und mehreren Verletzten bei dem Feuerwerk der Militärparade am Abend des 3. Juli berichtet. „Sag die Wahrneit“ informierte die Öffentlichkeit. Das Internet ist immer noch ein Raum für freie Nachrichten.
Der Westen darf das Debakel von 2010 nicht wiederholen. Die EU kann Lukashenka keine Herrschaft auf Lebenszeit garantieren. Aber sie könnte bessere wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem Westen anbieten – ohne Bedingungen zu stellen, die auf einen Regimewechsel hinauslaufen. Aber sie muss verlangen, dass Lukashenka im Gegenzug die Zivilgesellschaft atmen lässt. Demokratie wächst von unten. Wir sollten Belarus nicht ins Abseits stellen. Es gibt dort viele, die sich als Europäer fühlen. Visafreiheit und Ryanair wären wie Sauerstoff für diese Bewegung. Auf nach Belarus: Es lohnt sich.
Dieser Artikel erschien am 2. September in gekürzter Fassung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke).
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