Wahlen in der Türkei: Wie man Erdoğan besiegen kann

Quelle: Shutter­stock

In wenigen Wochen wählt die Türkei Parlament und Präsident. Die Opposition könnte Erdoğan in eine Stichwahl zwingen und müsste sich dann auf einen gemein­samen Heraus­for­derer einigen, fordern die Politik­wis­sen­schaftler Burak Çopur und Sharo Garip. Andern­falls sei die türkische Demokratie endgültig verloren.

Die Kandi­da­tInnen für die Staats­prä­si­dent­schaftswahl und die Wahlbünd­nisse für die Parla­mentswahl am 24. Juni 2018 stehen offiziell fest: Feder­führend hat die regie­rende AKP mit ihrem fakti­schen Junior­partner, der ultra­na­tio­na­lis­ti­schen MHP, die sog. „Volks­al­lianz“ als Wahlbündnis gegründet. Da es unsicher war, ob die MHP die in der Türkei bis heute geltende Zehn-Prozent-Hürde bei der Parla­mentswahl überwindet, wurde im Rahmen der Wahlge­setz­än­derung der AKP im März 2018 indirekt die Regelung einer sog. „Null-Prozent-Hürde“ einge­führt. Diese ermög­licht es auch kleineren Parteien, in einem Wahlbündnis in das Parlament einzu­ziehen, sofern mindestens eine Partei innerhalb eines Bündnisses die Zehn-Prozent-Hürde überschreitet.

Freilich sind diese Wahlen keine Perso­nen­wahlen, sondern eine letzt­malige Entscheidung über das zukünftige politische System der Türkei. 

Diese Änderung wurde aller­dings zu einem Eigentor für das Erdoğan-Regime, als sich unerwartet Teile der türki­schen Opposi­ti­ons­par­teien ebenfalls zu einem Wahlbündnis zusam­men­schlossen, um die antide­mo­kra­tische Zehn-Prozent-Hürde für die kleineren Opposi­ti­ons­par­teien zu umgehen und den Durch­marsch Erdoğans zu verhindern. Mithilfe dieser Null-Prozent-Hürde wird das türkische Regime aktuell durch die opposi­tio­nelle „Nationale Allianz“, zu der die kemalis­tische CHP (Republi­ka­ni­schen Volks­partei), die natio­na­lis­tische IYI-Partei (Gute Partei), die islamis­tische SP (Partei der Glück­se­ligkeit) und die liberal-konser­vative DP (Demokra­tische Partei) angehören, heraus­ge­fordert – eigentlich passen diese Parteien zuein­ander wie der Igel zum Taschentuch.

HDP hat Schlüs­sel­funktion bei den Wahlen

Als höchst kritik­würdig bleibt anzumerken, dass die linke prokur­dische HDP (Demokra­tische Partei der Völker) mit ihren fünf bis sechs Millionen Wähle­rInnen (entspricht etwa 11–13 % bei den Parla­ments­wahlen) maßgeblich auf Drängen der Partei­chefin der IYI-Partei Meral Akşener, in den westlichen Medien gerne als die „türkische Le Pen“ bezeichnet, von dem Opposi­ti­ons­bündnis ausge­grenzt wurde. Damit stehen sich zwei rechts­kon­ser­vativ-islamisch dominierte Bündnisse im Wahlkampf gegenüber. Die HDP ist von dem Opposi­ti­ons­bündnis ausge­schlossen und muss sich bis auf weiteres ohne Verbündete durch­kämpfen. Der angekün­digte Besuch des CHP-Präsi­dent­schafts­kan­di­daten Muharrem Ince beim verhaf­teten Präsi­dent­schafts­kan­di­daten der HDP Selahattin Demirtaş hat daher einen wichtigen symbo­li­schen und solida­ri­schen Charakter.

Sollte es die HDP dennoch nicht über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen, würden ihre fast 60 Abgeord­ne­ten­sitze größten­teils an die AKP gehen, was dazu führen würde, dass sich die AKP auch im Parlament die absolute Mehrheit sichert. Damit kommt der HDP eine Schlüs­sel­funktion bei den Wahlen zu.

Bedeutung der Parlamentswahl

Entgegen einiger politi­scher Analysen ist die Parla­mentswahl trotz der Verfas­sungs­än­derung mit dem Referendum am 16. April 2017, die mit Inkraft­treten die Befug­nisse des Präsi­denten deutlich stärken wird, mindestens genauso bedeutend wie die am selben Tag statt­fin­dende Staats­prä­si­dent­schaftswahl. Bekanntlich ist das neue, von Erdoğan angestrebte Präsi­di­al­system darauf ausge­richtet, dass sowohl die Exekutive als auch die Legis­lative von einer Person gesteuert wird.

Ein zu erwar­tender Gewinn der Staats­prä­si­dent­schaftswahl seitens Erdoğan würde aber bei etwaigem Verlust der Parla­ments­mehrheit der AKP zwar zu einer klassi­schen Gewal­ten­teilung führen, aber das ursprünglich von Erdoğan inten­dierte System der Macht­kon­zen­tration konter­ka­rieren (z. B. bei Parla­ments­ent­schei­dungen über in der Verfassung verbriefte Grund­rechte, Parla­ments­be­schlüssen über den Haushalts­entwurf des Präsi­denten sowie bei Entschei­dungen zum Ausnah­me­zu­stand) – diese System­blo­ckade gälte vice versa für die Opposition, würde einer­seits ihr/-e Kandidat/-in den Sieg der Präsi­dent­schaftswahl erreichen, anderer­seits das opposi­tio­nelle Wahlbündnis die Parla­ments­mehrheit nicht gewinnen.

Erdoğan diktiert die Spielregeln

Umso mehr ist die AKP bemüht, nichts dem Zufall zu überlassen: Bereits einmal hatte die AKP eine herbe Niederlage durch den Verlust der Parla­ments­mehrheit bei den Wahlen im Juni 2015 erlitten. Sie kündigte daraufhin Neuwahlen an, Erdoğan stürzte sein Land ins Chaos und die AKP erlangte bei der Wahl im November 2015 wieder die Parla­ments­mehrheit. Beim Verfas­sungs­re­fe­rendum am 16. April 2017 konnte das Regime nur mit offen­sicht­lichen Wahlma­ni­pu­la­tionen im repres­siven Klima des Ausnah­me­zu­stands die Wahl für sich entscheiden.

Mit dem nun zum siebten Mal verlän­gerten Ausnah­me­zu­stand, dem zugunsten der AKP verän­derten Wahlgesetz, den aus Steuer­geldern finan­zierten Wahlge­schenken von knapp fünf Milli­arden Euro, der weitest­ge­henden Gleich­schaltung der Medien, der Verhaftung von Tausenden von Opposi­tio­nellen und Dutzenden Politi­ke­rInnen sowie dem aus dem völker­rechts­wid­rigen Angriffs­krieg im syrischen Afrin entstan­denen natio­na­lis­ti­schen Rückenwind will der türkische Präsident sein von langer Hand geplantes autokra­ti­sches Präsi­di­al­system nun endgültig mit der Wahl im Juni offiziell besiegeln lassen.

Allein das aktuell modifi­zierte Wahlgesetz im März 2018 sieht 26 Änderungen vor und hat weitrei­chende Konse­quenzen. So werden die Wahlkreise zugunsten der AKP neu zugeschnitten, Wahlzettel können auch ohne den Stempel des Wahlvor­standes für gültig erklärt werden und Wahlvor­ste­he­rInnen werden zukünftig nur noch aus Verwal­tungs­mit­ar­bei­te­rInnen bestehen, die wiederum größten­teils von AKP-nahen LandrätInnen/​GouverneurInnen bestimmt werden. Hier zeigt sich eine verfas­sungs­widrige Wahlge­setz­än­derung kurz vor den Wahlen, die Wahlfäl­schungen und Manipu­la­tionen Tür und Tor öffnet. Erdoğan diktiert damit die Spiel­regeln, an die sich die Spiele­rInnen zu halten haben. Dabei ist er bei diesem Macht­spiel Kapitän, Schieds­richter und Trainer zugleich. Die Opposition muss daher alle erdenk­lichen natio­nalen Maßnahmen gegen Wahlma­ni­pu­la­tionen ergreifen und inter­na­tionale Gremien zur Wahlbe­ob­achtung aufrufen, um eine recht­mäßige Durch­führung der Wahlen zu gewährleisten.

Erneute Wahlen nicht gänzlich ausgeschlossen

Berech­tig­ter­weise erklärt die Wahlbe­ob­ach­tungs­kom­mission der Parla­men­ta­ri­schen Versammlung des Europa­rates, dass die Verän­derung des Wahlge­setzes drei Monate vor den Wahlen den Grund­sätzen der Venedig-Kommission widerspricht.

Dieses Verfahren der AKP entspricht aber exakt genau den Techniken der Wahlma­ni­pu­lation, die die Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Nic Cheese­man und Brian Klaa in ihrem neuen Buch „How to Rig an Elec­tion” analy­sieren und damit aufzeigen, wie Autokraten, wie Putin, Erdoğan und Orban mithilfe ihrer Manipu­la­tionen Macht­erhalt sichern. Zieht man noch in Erwägung, dass die AKP enormen politi­schen Einfluss auf den Hohen Wahlaus­schuss (YSK) hat und auch große Teile der Justiz vom Erdoğan-Regime dirigiert werden, bleibt auch der Rechtsweg gegenüber Wahlfäl­schungen keine Option, auf die sich die Opposition verlassen könnte.

Es ist nicht ausge­schlossen, dass Erdoğan sowohl bereits in der Antizi­pation der Niederlage generell die Wahl in Frage stellen wird als erst recht bei einem tatsäch­lichen Wahlverlust die Wähler­ent­scheidung nicht akzep­tieren und sogar versuchen wird, die Wahlen über das Verfas­sungs­ge­richt annul­lieren zu lassen oder zumindest wieder auf Neuwahlen zu drängen.

Opposition macht Erdoğan Strich durch die Rechnung

Die Opposition, die von der vorge­zo­genen Neuwahl im Juni überrumpelt wurde, hat sich aller­dings relativ schnell sortiert. Sie verzichtete letztlich darauf, einen gemein­samen Dachkan­di­daten aufzu­stellen. Folglich treten die Opposi­ti­ons­par­teien mit ihren eigenen Präsi­dent­schafts­kan­di­da­tInnen an. Dies war eine kluge Entscheidung, mit der das opposi­tio­nelle Wahlbündnis Erdoğan einen Strich durch seine Rechnung gemacht hat. Denn diese Strategie der Opposition bei den Wahlen mit mehreren Präsi­dent­schafts­kan­di­da­tInnen anzutreten, erhöht vermutlich die Wahlbe­tei­ligung und reduziert die Wahrschein­lichkeit, dass Erdoğan im ersten Wahlgang die 50+x‑Prozent erhält.

Freilich sind diese Wahlen keine Perso­nen­wahlen, sondern eine letzt­malige Entscheidung über das zukünftige politische System der Türkei. Das Land steht damit an einem Schei­deweg und die Bevöl­kerung entscheidet in ihrer Schick­salswahl am 24. Juni 2018 darüber, ob sie in einer muster­haften Autokratie leben oder ihre stark beschä­digte parla­men­ta­rische Demokratie wieder­be­leben will.

Die Hoffnung auf einen Macht­wechsel bei diesen Wahlen ist bei weiten Teilen der türki­schen Wähler­schaft sehr groß. Seit den Gezi Park-Protesten 2013 ist die Infra­ge­stellung der autori­tären Politik Erdoğans wieder enorm angestiegen und das Image des Staats­prä­si­denten angekratzt. Erdoğans Abwahl zu erreichen, wird auch davon abhängen, ob die Opposition den plura­lis­tisch-parti­zi­pa­to­ri­schen „Geist von Gezi“ aufleben lassen kann.

Den „Geist von Gezi“ wieder­auf­leben lassen!

Hierzu bedarf es einer plura­lis­tisch aufge­stellten Abgeord­ne­ten­liste für das Parlament, die unter­schied­liche politische Ideologien umfasst und die ethnisch-religiöse Vielfalt der türkei­stäm­migen Bevöl­kerung wie u. a. TürkInnen, KurdInnen, Alevi­tInnen, JüdInnen und Armenie­rInnen abbildet.

Der/​die im Ausgang einer Stichwahl zur Entscheidung stehende/-r Kanditat/-in der Opposition müsste im Verein mit einem überzeu­genden Schat­ten­ka­binett ein Programm dekla­rieren, das die verfas­sungs­wid­rigen Dekrete des Staats­prä­si­denten Erdoğan aufhebt. Dazu gehört die Erklärung, die unschuldig verhaf­teten Opposi­tio­nellen, Journa­lis­tInnen und Politi­ke­rInnen aus den Gefäng­nissen freizu­lassen und den aus politi­schen Gründen gekün­digten Menschen ihre Arbeit zurück­zu­geben, sowie auf die ökono­mi­schen Probleme des Landes eine alter­native Antwort zu bieten bzw. einen Ausweg aus einer vermutlich bevor­ste­henden Wirtschafts­krise aufzuzeigen.

Diese Person müsste sich zu einem unabhän­gigen Rechts­staat und einer parla­men­ta­ri­schen Demokratie bekennen und bereit sein, gesell­schaft­liche Konflikt­linien, wie den Kurden­kon­flikt auf fried­lichem Wege zu lösen und die Türkei wieder zurück auf den Europäi­sie­rungspfad gen Westen zu führen.

Macht- und System­wechsel möglich

Nur wenn der Opposition diese Meister­leistung gelingt, vereint hinter einem/-r gemein­samen Präsi­dent­schafts­kan­di­daten/-in ein Zukunfts­pro­gramm mit dem Fokus auf einer Entpo­la­ri­sierung der Gesell­schaft zu präsen­tieren, kann ein Macht- und System­wechsel in Ankara vollzogen und mit dem politi­schen Wieder­aufbau des Landes begonnen werden.

Diese Faktoren werden bei der Wahl darüber bestimmen, ob der Ein-Mann-Staat von Erdoğan nur ein Inter­mezzo in der Geschichte der Türkei bleibt oder die Erdoğan‘sche Allein­herr­schaft langfristig etabliert wird. Die türkische Opposition sollte ihre Chance nicht erneut verspielen und bis zur Wahl sämtliche Meinungs­ver­schie­den­heiten dem Grundsatz der ehren­werten Totali­ta­ris­mus­for­scherin Hannah Arendt unter­ordnen: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“

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