Israels Nationalstaatsgesetz: Warum spaltet Netanjahu sein Land?
Das israelische Parlament hat mit knapper Mehrheit ein Nationalstaatsgesetz verabschiedet, dass allein dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung garantiert. Bislang ist es mehr oder weniger gut gelungen, den Doppelcharakter Israels als jüdischer Nationalstaat und Staat aller seiner Bürger in Einklang zu bringen. Jetzt spitzt Premier Netanjahu den latenten Konflikt zwischen jüdischem Partikularismus und demokratischem Universalismus zu. Er riskiert damit die dauerhafte Entfremdung der arabischen Minderheit.
Das israelische Nationalstaatsgesetz hat eine gewaltige Kontroverse ausgelöst, zunächst und vor allem wegen des ersten Paragraphen, der dem jüdischen Volk das alleinige Recht zur Selbstbestimmung in Israel zuspricht. Kritiker erkennen darin einen Beleg für oder zumindest einen Schritt in Richtung Apartheid.
Unterstützer des Gesetzes, das als ein Grundgesetz Verfassungsrang hat, setzen dem entgegen, dass ein Israel, das sich als jüdischer Staat definiert, sich nicht von anderen demokratischen Staaten unterscheidet, die ihre nationale Identität in ihrer Verfassung festschreiben. Jonathan Tobin, Chefredakteur Jewish News Syndicate, schrieb im National Review: „Der spanischen Nationalität wird Vorrang vor der derjenigen ethnischer Minderheiten wie den Basken oder den Katalanen gegeben“. Der konservative Rechtswissenschaftler Eugene Kontorovich schrieb im Wall Street Journal, dass ähnliche Verfassungen in anderen Ländern „alltäglich“ seien. Er merkt an, die slowakische Verfassung verkünde das „natürliche Recht der Völker auf Selbstbestimmung“.
Nicht minder problematisch ist, was das Nationalstaatsgesetz auslässt, nämlich vor allem irgendeinen Hinweis auf Gleichheit. Gegenwärtig gibt es unter den Grundgesetzen des Landes keines, das ausdrücklich die Gleichstellung aller Bürger garantieren würde.
Die Anhänger des Gesetzes kommen zu dem Schluss, die Kritik an Israel wegen einer in der Verfassung verankerten Verkündung seiner jüdischen Identität bedeute, scheinheilig doppelte Standards anzulegen, die einer anti-israelische Agenda entspringen würden.
Die Frage ist nun: Unterscheidet sich das Nationalstaatsgesetz tatsächlich signifikant von den Verfassungsklauseln, die die Identität anderer westlicher demokratischer Staaten definieren?
Wie Israel Minderheiten aus dem Staatsvolk herausdefiniert
Beide oben genannten Autoren haben – womöglich mit Bedacht – Länder untersucht, die zu ihrer These passen. Wie sieht es aber mit den beiden archetypischen europäischen Demokratien Frankreich und Deutschland aus? Mit Bedacht lasse ich hier die USA und Kanada außer Acht, die in ihren Verfassungen explizit eine staatsbürgerliche Nationalität und eine multikulturelle Identität definieren.
In der Tat definieren sowohl Frankreich, als auch Deutschland eine nationale Identität: In der Präambel der Verfassung Deutschlands steht, dass die Deutschen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet hätten. Die französische Verfassung ist vom französischen Volk „verkündet“ worden, und Artikel zwei fährt fort und definiert die Symbole des französischen Staates, ganz wie es das israelische Nationalstaatsgesetz tut.
Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied: In beiden Fällen deckt sich die Definition von Nationalität mit der von Staatsbürgerschaft. Artikel 11 der deutschen Verfassung definiert Deutsche als jeden, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und sie formuliert besondere Bestimmungen zur Wiederherstellung der Staatsangehörigkeit für jene, die sie während des zweiten Weltkrieges verloren haben. In der Verfassung Frankreichs verkündet Artikel eins die Gleichheit aller Bürger.
Das neue Nationalstaatsgesetz von Israel hingegen liefert eine verfassungswirksame Definition des Landes, die lediglich auf einer Teilgruppe seiner Bürger gründet. Rund ein Viertel der Bürger Israels sind nicht jüdisch, und sie haben jetzt in ihrem eigenen Land nicht mehr das Recht auf Selbstbestimmung als ethnische Minderheit.
Nationalstaatsgesetz ist beispiellos
Die von Eugene Kontorovich im Wall Street Journal vorgebrachte Rechtfertigung, die slowakische Verfassung enthalte ein ähnlich diskriminierendes Nationalstaatsrecht, trägt nicht. In der Verfassung der Slowakei [s. d. Übersetzung ins Deutsche und Englische] lautet die Zeile unmittelbar nach dem „nationalen Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ folgendermaßen: „gemeinsam mit den im Gebiet der Slowakischen Republik lebenden Angehörigen der nationalen Minderheiten und ethnischen Gruppen”, und in der letzten Zeile der Präambel heißt es: “wir, die Bürger”, wodurch wiederum gezeigt wird, dass die Zugehörigkeit zur Nation der Gesamtheit seiner Bürger zuerkannt wird.
Die spanische Verfassung von 1978 hebt ebenfalls dezidiert auf die spanische Nation und das spanische Volk als Quelle der Selbstbestimmung ab. Artikel 2 schreibt jedoch fest, dass „die spanische Nation [...] das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, aus denen sie sich zusammensetzt, und auf die Solidarität zwischen ihnen [anerkennt und gewährleistet”]. Der Artikel legt das Spanische (castellano) als alleinige Staatssprache fest, postuliert aber auch, dass andere Sprachen Spaniens in den Autonomen Gemeinschaften und gemäß ihren jeweiligen Statuten ebenfalls Amtssprachen sind. Mit anderen Worten: Die Verfassung erkennt Minderheiten als Teil des Staatskörpers an und drückt als Teil der politischen Identität des Landes die Solidarität mit ihnen aus.
Das Nationalstaatsgesetz in Israel erwähnt in keiner Weise die Existenz von Minderheiten, ganz zu schweigen von einer Bekundung von Solidarität oder einer Verbundenheit mit ihnen als Teil der Nation. Es erkennt einen Sonderstatus des Arabischen an, allerdings nicht die betreffenden Menschen selbst. Und die berüchtigte Sprachklausel stuft das Arabische von seinem früheren Status als Amtssprache herab.
Nicht minder problematisch ist, was das Nationalstaatsgesetz auslässt, nämlich vor allem irgendeinen Hinweis auf Gleichheit. Gegenwärtig gibt es unter den Grundgesetzen keines, das ausdrücklich die Gleichstellung aller Bürger garantieren würde. Das Grundgesetz über Menschenrechte und Freiheit von 1992 enthält einen Zusatz, der auf den Geist der Unabhängigkeitserklärung von 1948 verweist, die die soziale und politische Gleichheit aller Bewohner fordert, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht. Die Gleichheit in dem erwähnten Grundgesetz von 1992 hängt allerdings von denjenigen ab, die das Gesetz interpretieren, da in dem Gesetzestext das Wort „Gleichheit“ nirgends tatsächlich auftaucht. Das neue Grundgesetz verweist weder auf Gleichheit, noch auf Demokratie.
Positivbeispiel ist Kosovo
Hingegen verkünden alle der hier genannten Verfassungen an prominenter Stelle ausdrücklich die Gleichheit aller. Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik lautet schlicht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”. Artikel 1 der französischen Verfassung erklärt, Frankreich werde die „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz [gewährleisten]”. Auch die Slowakei hat in ihre Verfassung eine klare und ausdrückliche Gleichheitsklausel aufgenommen (2. Hauptstück, 1. Abteilung 1, Art. 12). Spanien mit seinem heiklen Austarieren zwischen der spanischen Nationalität und denen der Minderheiten geht noch weiter: Artikel 9 Abs. 2 legt fest, dass der Staat die Herstellung der notwendigen Bedingungen für Gleichheit aktiv befördern soll:
„Der öffentlichen Gewalt obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, denen er angehört, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung verhindern oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu fördern”.
Es ließe sich argumentieren, dass zwischen Israel und diesen Ländern ein Unterschied besteht, weil Israel in einen einzigartigen Konflikt verwickelt ist, der seine gesamte Existenz bedroht, weshalb das Land einer exklusiveren Selbstdefinition bedarf. An dieser Stelle ist ein wenig naheliegender Vergleich hilfreich, und zwar der mit dem kleinen, neuentstandenen Staat des Kosovo. Das Kosovo ist ebenfalls aus einem Krieg heraus entstanden. Im Unterschied zu Israel wird ihm eine Anerkennung seiner Souveränität und eine Mitgliedschaft in der UNO noch immer verweigert. Die Albaner in der ehemaligen Provinz Kosovo waren in Bezug auf den größeren Staat Jugoslawien – später Serbien – eine Minderheit; sie waren einem diskriminierenden Militärregime sowie später physischen Angriffen und Vertreibungen durch feindliche serbische Kräfte unterworfen. Im Kosovo hingegen stellen Albaner die Mehrheit und Serben eine kleine Minderheit – kommt einem das nicht bekannt vor?
Wie haben die Albaner des Kosovo – angesichts des noch frischen Traumas des Krieges von 1999 – ihr Land definiert und gleichzeitig die Serben und anderen Minderheiten anerkannt? In seiner 2008 ratifizierten Verfassung (s. engl. Fassung) verkündet der erste Artikel (Abs. 2), dass der Kosovo der Staat aller seiner Bürger sei, was aus Sicht des rechtsgerichteten Teils der jüdischen Gemeinschaft Israels einem Hochverrat gleichkäme. In Artikel 3 erklärt der Kosovo sich zu einer „multiethnischen Gesellschaft aus Albanern und anderen Gemeinschaften“. Der zweite Absatz des gleichen Artikels garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz. Zwar hat, wie in Spanien, diese Verfassung Minderheiten, die nach Loslösung streben, nicht zufriedengestellt. Darüber hinaus ist die Verfassung das Ergebnis einer internationalen Einmischung.
Doch die Verfassungen des Kosovos, der Slowakei, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens zeigen, wie eine legitime nationale Selbstbestimmung mit einem inklusiven und respektvollen Ansatz gegenüber nationalen Minderheiten zu vereinbaren sind. Die genannten Beispiele machen deutlich, dass es für das israelische Nationalstaatsgesetz andere Möglichkeiten gegeben hätte, die aber leider der Regierung Israels nicht opportun erschienen.
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