Israels Natio­nal­staats­ge­setz: Warum spaltet Netanjahu sein Land?

Shut­ter­stock

Das israe­li­sche Parlament hat mit knapper Mehrheit ein Natio­nal­staats­ge­setz verab­schiedet, dass allein dem jüdischen Volk das Recht auf Selbst­be­stim­mung garan­tiert. Bislang ist es mehr oder weniger gut gelungen, den Doppel­cha­rakter Israels als jüdischer Natio­nal­staat und Staat aller seiner Bürger in Einklang zu bringen. Jetzt spitzt Premier Netanjahu den latenten Konflikt zwischen jüdischem Parti­ku­la­rismus und demo­kra­ti­schem Univer­sa­lismus zu. Er riskiert damit die dauer­hafte Entfrem­dung der arabi­schen Minderheit.

Das israe­li­sche Natio­nal­staats­ge­setz hat eine gewaltige Kontro­verse ausgelöst, zunächst und vor allem wegen des ersten Para­gra­phen, der dem jüdischen Volk das alleinige Recht zur Selbst­be­stim­mung in Israel zuspricht. Kritiker erkennen darin einen Beleg für oder zumindest einen Schritt in Richtung Apartheid.

Unter­stützer des Gesetzes, das als ein Grund­ge­setz Verfas­sungs­rang hat, setzen dem entgegen, dass ein Israel, das sich als jüdischer Staat definiert, sich nicht von anderen demo­kra­ti­schen Staaten unter­scheidet, die ihre nationale Identität in ihrer Verfas­sung fest­schreiben. Jonathan Tobin, Chef­re­dak­teur Jewish News Syndicate, schrieb im National Review: „Der spani­schen Natio­na­lität wird Vorrang vor der derje­nigen ethni­scher Minder­heiten wie den Basken oder den Katalanen gegeben“. Der konser­va­tive Rechts­wis­sen­schaftler Eugene Konto­ro­vich schrieb im Wall Street Journal, dass ähnliche Verfas­sungen in anderen Ländern „alltäg­lich“ seien. Er merkt an, die slowa­ki­sche Verfas­sung verkünde das „natür­liche Recht der Völker auf Selbstbestimmung“.

Nicht minder proble­ma­tisch ist, was das Natio­nal­staats­ge­setz auslässt, nämlich vor allem irgend­einen Hinweis auf Gleich­heit. Gegen­wärtig gibt es unter den Grund­ge­setzen des Landes keines, das ausdrück­lich die Gleich­stel­lung aller Bürger garan­tieren würde. 

Die Anhänger des Gesetzes kommen zu dem Schluss, die Kritik an Israel wegen einer in der Verfas­sung veran­kerten Verkün­dung seiner jüdischen Identität bedeute, schein­heilig doppelte Standards anzulegen, die einer anti-israe­li­sche Agenda entspringen würden. 

Portrait von Dahlia Scheindlin

Dahlia Scheindlin ist Kolum­nistin des israe­li­schen Online Magazins +972 und betreibt den Podcast “The Tel Aviv Review” beim Radio­sender TLV1

Die Frage ist nun: Unter­scheidet sich das Natio­nal­staats­ge­setz tatsäch­lich signi­fi­kant von den Verfas­sungs­klau­seln, die die Identität anderer west­li­cher demo­kra­ti­scher Staaten definieren?

Wie Israel Minder­heiten aus dem Staats­volk herausdefiniert

Beide oben genannten Autoren haben – womöglich mit Bedacht – Länder unter­sucht, die zu ihrer These passen. Wie sieht es aber mit den beiden arche­ty­pi­schen euro­päi­schen Demo­kra­tien Frank­reich und Deutsch­land aus? Mit Bedacht lasse ich hier die USA und Kanada außer Acht, die in ihren Verfas­sungen explizit eine staats­bür­ger­liche Natio­na­lität und eine multi­kul­tu­relle Identität definieren.

In der Tat defi­nieren sowohl Frank­reich, als auch Deutsch­land eine nationale Identität: In der Präambel der Verfas­sung Deutsch­lands steht, dass die Deutschen in freier Selbst­be­stim­mung die Einheit und Freiheit Deutsch­lands vollendet hätten. Die fran­zö­si­sche Verfas­sung ist vom fran­zö­si­schen Volk „verkündet“ worden, und Artikel zwei fährt fort und definiert die Symbole des fran­zö­si­schen Staates, ganz wie es das israe­li­sche Natio­nal­staats­ge­setz tut.

Aller­dings besteht ein entschei­dender Unter­schied: In beiden Fällen deckt sich die Defi­ni­tion von Natio­na­lität mit der von Staats­bür­ger­schaft. Artikel 11 der deutschen Verfas­sung definiert Deutsche als jeden, der die deutsche Staats­an­ge­hö­rig­keit besitzt, und sie formu­liert besondere Bestim­mungen zur Wieder­her­stel­lung der Staats­an­ge­hö­rig­keit für jene, die sie während des zweiten Welt­krieges verloren haben. In der Verfas­sung Frank­reichs verkündet Artikel eins die Gleich­heit aller Bürger.

Das neue Natio­nal­staats­ge­setz von Israel hingegen liefert eine verfas­sungs­wirk­same Defi­ni­tion des Landes, die lediglich auf einer Teil­gruppe seiner Bürger gründet. Rund ein Viertel der Bürger Israels sind nicht jüdisch, und sie haben jetzt in ihrem eigenen Land nicht mehr das Recht auf Selbst­be­stim­mung als ethnische Minderheit.

Natio­nal­staats­ge­setz ist beispiellos

Die von Eugene Konto­ro­vich im Wall Street Journal vorge­brachte Recht­fer­ti­gung, die slowa­ki­sche Verfas­sung enthalte ein ähnlich diskri­mi­nie­rendes Natio­nal­staats­recht, trägt nicht. In der Verfas­sung der Slowakei [s. d. Über­set­zung ins Deutsche und Englische] lautet die Zeile unmit­telbar nach dem „natio­nalen Recht der Völker auf Selbst­be­stim­mung“ folgen­der­maßen: „gemeinsam mit den im Gebiet der Slowa­ki­schen Republik lebenden Ange­hö­rigen der natio­nalen Minder­heiten und ethni­schen Gruppen”, und in der letzten Zeile der Präambel heißt es: “wir, die Bürger”, wodurch wiederum gezeigt wird, dass die Zuge­hö­rig­keit zur Nation der Gesamt­heit seiner Bürger zuerkannt wird.

Die spanische Verfas­sung von 1978 hebt ebenfalls dezidiert auf die spanische Nation und das spanische Volk als Quelle der Selbst­be­stim­mung ab. Artikel 2 schreibt jedoch fest, dass „die spanische Nation [...] das Recht auf Autonomie der Natio­na­li­täten und Regionen, aus denen sie sich zusam­men­setzt, und auf die Soli­da­rität zwischen ihnen [anerkennt und gewähr­leistet”]. Der Artikel legt das Spanische (castel­lano) als alleinige Staats­sprache fest, postu­liert aber auch, dass andere Sprachen Spaniens in den Autonomen Gemein­schaften und gemäß ihren jewei­ligen Statuten ebenfalls Amts­spra­chen sind. Mit anderen Worten: Die Verfas­sung erkennt Minder­heiten als Teil des Staats­kör­pers an und drückt als Teil der poli­ti­schen Identität des Landes die Soli­da­rität mit ihnen aus.

Das Natio­nal­staats­ge­setz in Israel erwähnt in keiner Weise die Existenz von Minder­heiten, ganz zu schweigen von einer Bekundung von Soli­da­rität oder einer Verbun­den­heit mit ihnen als Teil der Nation. Es erkennt einen Sonder­status des Arabi­schen an, aller­dings nicht die betref­fenden Menschen selbst. Und die berüch­tigte Sprach­klausel stuft das Arabische von seinem früheren Status als Amts­sprache herab.

Nicht minder proble­ma­tisch ist, was das Natio­nal­staats­ge­setz auslässt, nämlich vor allem irgend­einen Hinweis auf Gleich­heit. Gegen­wärtig gibt es unter den Grund­ge­setzen keines, das ausdrück­lich die Gleich­stel­lung aller Bürger garan­tieren würde. Das Grund­ge­setz über Menschen­rechte und Freiheit von 1992 enthält einen Zusatz, der auf den Geist der Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1948 verweist, die die soziale und poli­ti­sche Gleich­heit aller Bewohner fordert, unab­hängig von Religion, ethni­scher Zuge­hö­rig­keit oder Geschlecht. Die Gleich­heit in dem erwähnten Grund­ge­setz von 1992 hängt aller­dings von denje­nigen ab, die das Gesetz inter­pre­tieren, da in dem Geset­zes­text das Wort „Gleich­heit“ nirgends tatsäch­lich auftaucht. Das neue Grund­ge­setz verweist weder auf Gleich­heit, noch auf Demokratie.

Posi­tiv­bei­spiel ist Kosovo

Hingegen verkünden alle der hier genannten Verfas­sungen an promi­nenter Stelle ausdrück­lich die Gleich­heit aller. Artikel 3 Abs. 1 des Grund­ge­setzes der Bundes­re­pu­blik lautet schlicht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”. Artikel 1 der fran­zö­si­schen Verfas­sung erklärt, Frank­reich werde die „Gleich­heit aller Bürger vor dem Gesetz [gewähr­leisten]”. Auch die Slowakei hat in ihre Verfas­sung eine klare und ausdrück­liche Gleich­heits­klausel aufge­nommen (2. Haupt­stück, 1. Abteilung 1, Art. 12). Spanien mit seinem heiklen Austa­rieren zwischen der spani­schen Natio­na­lität und denen der Minder­heiten geht noch weiter: Artikel 9 Abs. 2 legt fest, dass der Staat die Herstel­lung der notwen­digen Bedin­gungen für Gleich­heit aktiv befördern soll:

„Der öffent­li­chen Gewalt obliegt es, die Bedin­gungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleich­heit des einzelnen und der Gruppen, denen er angehört, real und wirksam sind, die Hinder­nisse zu besei­tigen, die ihre volle Entfal­tung verhin­dern oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen, kultu­rellen und gesell­schaft­li­chen Leben zu fördern”.
Es ließe sich argu­men­tieren, dass zwischen Israel und diesen Ländern ein Unter­schied besteht, weil Israel in einen einzig­ar­tigen Konflikt verwi­ckelt ist, der seine gesamte Existenz bedroht, weshalb das Land einer exklu­si­veren Selbst­de­fi­ni­tion bedarf. An dieser Stelle ist ein wenig nahe­lie­gender Vergleich hilfreich, und zwar der mit dem kleinen, neuent­stan­denen Staat des Kosovo. Das Kosovo ist ebenfalls aus einem Krieg heraus entstanden. Im Unter­schied zu Israel wird ihm eine Aner­ken­nung seiner Souve­rä­nität und eine Mitglied­schaft in der UNO noch immer verwei­gert. Die Albaner in der ehema­ligen Provinz Kosovo waren in Bezug auf den größeren Staat Jugo­sla­wien – später Serbien – eine Minder­heit; sie waren einem diskri­mi­nie­renden Mili­tär­re­gime sowie später physi­schen Angriffen und Vertrei­bungen durch feind­liche serbische Kräfte unter­worfen. Im Kosovo hingegen stellen Albaner die Mehrheit und Serben eine kleine Minder­heit – kommt einem das nicht bekannt vor?

Wie haben die Albaner des Kosovo – ange­sichts des noch frischen Traumas des Krieges von 1999 – ihr Land definiert und gleich­zeitig die Serben und anderen Minder­heiten anerkannt? In seiner 2008 rati­fi­zierten Verfas­sung (s. engl. Fassung) verkündet der erste Artikel (Abs. 2), dass der Kosovo der Staat aller seiner Bürger sei, was aus Sicht des rechts­ge­rich­teten Teils der jüdischen Gemein­schaft Israels einem Hoch­verrat gleich­käme. In Artikel 3 erklärt der Kosovo sich zu einer „multi­eth­ni­schen Gesell­schaft aus Albanern und anderen Gemein­schaften“. Der zweite Absatz des gleichen Artikels garan­tiert die Gleich­heit vor dem Gesetz. Zwar hat, wie in Spanien, diese Verfas­sung Minder­heiten, die nach Loslösung streben, nicht zufrie­den­ge­stellt. Darüber hinaus ist die Verfas­sung das Ergebnis einer inter­na­tio­nalen Einmischung.

Doch die Verfas­sungen des Kosovos, der Slowakei, Deutsch­lands, Frank­reichs und Spaniens zeigen, wie eine legitime nationale Selbst­be­stim­mung mit einem inklu­siven und respekt­vollen Ansatz gegenüber natio­nalen Minder­heiten zu verein­baren sind. Die genannten Beispiele machen deutlich, dass es für das israe­li­sche Natio­nal­staats­ge­setz andere Möglich­keiten gegeben hätte, die aber leider der Regierung Israels nicht opportun erschienen.

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