Deutsch­lands Genozid-Problem

Foto: Shutter­stock, Azamat Imanaliev

Deutschland hat die Menschen­rechts­ver­brechen in Xinjiang – anders als die Parla­mente anderer Länder – bislang nicht als Genozid gebrand­markt. Doch der Druck im Bundestag steigt. Deutsche Unter­nehmen könnten in Zukunft sogar per Gesetz dazu gezwungen werden, ihre Aktivi­täten in der Uiguren-Provinz einzustellen.

Welche Folgen es hat, sich gegen die Politik der chine­si­schen Staats­führung zu stellen, erfuhr zuletzt H&M. Das schwe­dische Modeun­ter­nehmen kündigte im März an, keine Baumwolle mehr aus Xinjiang zu verwenden – um mögliche Zwangs­arbeit in der Uiguren-Provinz auszuschließen.

Der Volks­re­publik wird vorge­worfen, im Nordwesten des Landes ein System aus Lagern aufgebaut zu haben und dort bis zu eine Million Muslime ohne Prozess einzu­sperren – unter dem Vorwand der „Terro­ris­mus­be­kämpfung“. Uiguren sollen dort zu Arbeit gezwungen werden, unter anderem auf Baumwollfeldern.

Die Reaktion auf die Ankün­digung von H&M war enorm. Staat­liche Medien sowie die Jugend­or­ga­ni­sation der Kommu­nis­ti­schen Partei (KP) riefen zum Boykott auf. Auf chine­si­schen Social-Media-Platt­formen tobte die Entrüstung, chine­sische Promi-Werbe­partner distan­zierten sich von der Modekette und alle großen Online-Shopping-Portale in China nahmen H&M‑Produkte aus ihrem Angebot.

Die chine­sische Reaktion zeigte zweierlei: Geschäft und Politik lassen sich in China nicht trennen. Und: Kritik an der Politik der Staats­führung hat einen Preis. Analysten rechnen wegen des staatlich orches­trierten Boykotts mit massiven Verlusten für H&M.

Auch Staaten zahlen für ihre Kritik an Peking einen Preis. Und weil er hoch ist, haben bisher nur wenige Länder die Menschen­rechts­ver­brechen in Xinjiang mit deutlichen Worten kriti­siert. Die Parla­mente Kanadas, der Nieder­lande und Großbri­tan­niens sind eine Ausnahme. Sie haben die Verbrechen in Xinjiang als Völkermord gebrand­markt. Auch der US-Außen­mi­nister Antony Blinken sprach  von Genozid, machte dies aber als seine persön­liche Meinung deutlich.

Vergleichbare Äußerungen gibt es aus Deutschland nicht, weder von der Regierung noch vom Bundestag. Berlin hält sich mit offener Kritik an Peking zurück ­– aus Rücksicht auf die eigene Abhän­gigkeit. Für die deutsche Automo­bil­in­dustrie ist China der wichtigste Markt. Ein staatlich orches­trierter Boykott deutscher Autos hätte für die Herzkammer der deutschen Wirtschaft drama­tische Folgen.

Doch auch in Deutschland verschärft sich die Debatte.

So fand am Montag­abend eine Anhörung im Bundestag statt, die die Frage disku­tierte, wie die Unter­drü­ckung der Uiguren juris­tisch einzu­ordnen ist. Konkret gingen die von den sechs Fraktionen des Bundestags einge­la­denen Experten der Frage nach, ob die chine­si­schen Verbrechen in Xinjiang als Völkermord gebrand­markt werden können.

Das Fazit der Experten lautet: Als Genozid lassen sich die Verbrechen nicht beurteilen. Die Mehrheit der Experten sprach sich zwar dafür aus, die syste­ma­tische Inter­nierung als Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit zu betrachten. Aber praktisch wäre das folgenlos. Denn die völker­recht­liche Realität ist ernüch­ternd. Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit werden vor dem Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof in Den Haag verhandelt – dessen Gründungs­statut China nicht unter­zeichnet hat.

Aber damit liegen die Experten mit einem Gutachten der Wissen­schaft­lichen Dienste des Bundes­tages über Kreuz. Das Gutachten, das nur wenige Tage alt ist kommt zu dem Schluss, dass nach deutscher Gerichts­auf­fassung sehr wohl von einem Völkermord gesprochen werden kann. Laut den Gutachtern weicht die deutsche Rechts­auf­fassung in einem entschei­denen Punkt von der inter­na­tio­nalen ab: Deutsche Gerichte haben in der Vergan­genheit bereits die Zerstörung der kultu­rellen Identität einer Bevöl­ke­rungs­gruppe als Völkermord beurteilt, so das Gutachten. Inter­na­tionale Gerichte hingegen sprechen erst von Genozid, wenn eine Bevöl­ke­rungs­gruppe physisch ausge­löscht wird. Folgt der Bundestag dem Gutachten seiner eigenen Wissen­schaft­lichen Dienste, etwa mit einem Parla­ments­be­schluss, könnte er die Verbrechen in Xinjiang also durchaus als Völkermord bezeichnen.

Das Gutachten kommt aber auch noch zu einem anderen Schluss, der für deutsche Unter­nehmen alarmierend ist: Im März brachte das Kabinett das Liefer­ket­ten­gesetz auf den Weg. Das Gesetz soll Rechte von Menschen schützen, die Waren für Deutschland produ­zieren. Es beinhaltet eine Selbst­ver­pflichtung zur Umsetzung der UN-Leitprin­zipien für Wirtschaft und Menschenrechte.

Hierzu hält das Gutachten fest: Sobald das Liefer­ket­ten­gesetz in Kraft tritt, drohen deutschen Unter­nehmen bei Verstößen gegen ihre menschen­recht­lichen Sorgfalts­pflichten Bußgelder. Zu Konzernen, die in Xinjiang tätig sind, gehören etwa Adidas, Puma, BMW, Bosch, Siemens, Volks­wagen und BASF. „Staaten haben die völker­recht­liche Pflicht, Völkermord zu verhindern“, sagt Margarete Bause, die menschen­rechts­po­li­tische Sprecherin der Grünen, die das Gutachten in Auftrage gegeben hat: „Das Gutachten sendet eine klare Botschaft: Wegschauen ist keine Option.“

Die Exper­ten­an­hörung im Bundestag und das Gutachten der Wissen­schaft­lichen Dienste des Bundestags zeigen, dass in die deutsche Xinjiang-Debatte Bewegung kommt. Zwar stand in beiden Fällen die juris­tische Dimension der Verbrechen im Vorder­grund. Aber die juris­tische Debatte befeuert die politische. Politische Konse­quenzen fordert etwa Gyde Jensen (FDP), die Vorsit­zende des Menschen­rechts­aus­schusses des Bundestags: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Welt mehr darüber erfährt, was in Xinjiang passiert und wir müssen verhindern, dass die Verant­wort­lichen straflos davon­kommen“. Die Bundes­tags­frak­tionen müssten sich jetzt abstimmen, um zu einem Beschluss zu kommen.

Das ein kriti­scher Parla­ments­be­schluss sich auf das deutsch-chine­sische Verhältnis auswirken würde, zeigt derweil die Reaktion der chine­si­schen Botschaft auf die Exper­ten­an­hörung im Bundestag. Es gehe in Xinjiang nicht um Menschen­rechte, sondern um die Bekämpfung von Terro­rismus, Extre­mismus und Separa­tismus, heißt es in einer Presse­mit­teilung. Der Bundestag instru­men­ta­li­siere die Menschen­rechte und mische sich in die inneren Angele­gen­heiten Chinas ein.

Die Presse­mit­teilung zeigt: Kritik an der Politik der chine­si­schen Staats­führung hat einen Preis.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.