Die Anerkennung eines palästinensischen Staates jetzt ist reine Symbolpolitik

Seit fast zwei Jahren – seit dem 7. Oktober 2023, als die Terrororganisation Hamas Israel überfiel, 1.200 Zivilisten ermordete und 240 Geiseln nahm – herrscht Krieg in Gaza. Der Konflikt wird mit unverminderter Härte geführt – von beiden Seiten. Kerstin Müller, Programmleiterin Netzwerk Nahost, ordnet die aktuelle Lage ein und erklärt, warum eine Anerkennung eines palästinensischen Staates derzeit reine Symbolpolitik wäre.
Erklärtes Kriegsziel der Regierung Netanjahu ist die Vernichtung der Hamas. Seit fast zwei Jahren aber ist es dem israelischen Militär nicht gelungen, diese zur Kapitulation zu zwingen oder gar zu vernichten. Traumatisch und weitaus bedeutsamer für die israelische Gesellschaft ist allerdings, dass das weitere erklärte Ziel – die Befreiung der noch immer festgehaltenen Geiseln – durch das bisherige militärische Vorgehen gescheitert ist: 53 Menschen befinden sich weiterhin in den Händen der Hamas, sie werden in unterirdischen Tunneln gefoltert und zu Tode gehungert oder sind bereits ermordet. Wahrscheinlich sind kaum mehr als 20 von ihnen noch am Leben.
Die wenigen Geiseln, die inzwischen freikamen, wurden durch den einzigen Waffenstillstand vom 19. Januar bis 2. März 2025 im Austausch gegen Hunderte palästinensische Gefangene freigelassen. Die extremistische Regierung Netanjahus aber setzt inzwischen ausschließlich auf das Militär – diplomatische Optionen stehen nicht mehr auf der Agenda. Die Mehrheit des Kabinetts lehnte gar einen erneuten teilweisen Deal ab und beschloss am 20. August stattdessen, ganz Gaza militärisch einzunehmen. Ergo: Der Krieg wird mit noch höherer Intensität fortgeführt. Nicht nur die internationale Gemeinschaft läuft gegen diese Eskalation Sturm. Auch Hunderttausende Israelis sind täglich auf den Straßen und demonstrieren gemeinsam mit den Familien der Geiseln für ein sofortiges Ende des Krieges und einen Waffenstillstand.
„Bring them home!“
… lautet die Forderung der Demonstrierenden – sie rufen es auf den Straßen und Plätzen Tel Avivs. Netanjahu und seine extremistischen Minister Smotrich und Ben Gvir aber sind taub für diese Rufe aus der eigenen Bevölkerung. Kein Wunder: Sie verfolgen einen anderen Plan – und das ganz offen. Finanzminister Smotrich fordert „den Gazastreifen einzunehmen, zu besetzen und zu besiedeln“. Für dieses Ziel dürfe auch „keine humanitäre Hilfe reingelassen werden“. Sicherheitsminister Ben Gvir, Vorsitzender der radikalen Partei Otzma Yehudit, die Netanjahu als Mehrheitsbeschaffer dient, hofft erklärtermaßen, dass es den Palästinensern in Gaza irgendwann so schlecht geht, dass sie das Gebiet „freiwillig“ verlassen wollen. Während des berüchtigten Flaggenmarsches rechter Siedler in Jerusalem im Mai forderte er: „Wir dürfen ihnen keine humanitäre Hilfe geben, wir dürfen ihnen keinen Treibstoff geben (…) Unsere Feinde verdienen eine Kugel in den Kopf!“ Mit solchen Zitaten liefert er nicht nur dem Internationalen Strafgerichtshof eine Steilvorlage. Auch Antisemiten weltweit haben nur darauf gewartet, von einem Genozid in Gaza sprechen zu können und damit Israel weltweit an den Pranger zu stellen. Um das tun zu können, ist strafrechtlich eine „Genozid-Absicht“ erforderlich, die der Regierung aber bisher nicht nachzuweisen war. Ihr erklärtes Ziel war bislang, die Terrororganisation Hamas vernichten zu wollen, damit so etwas wie am 7. Oktober 2023 „nie wieder“ geschehen kann. Dazu ist sie moralisch sowie juristisch durchaus berechtigt. Die Durchsetzung dessen erweist sich jedoch als schwieriger als gedacht. Die zitierte Aussage Ben Gvirs sät nun weltweit Zweifel, auch bei den wenigen verbliebenen Freunden Israels: Geht es der Regierung Netanjahus tatsächlich vorrangig um die Vernichtung der Hamas, oder beabsichtigt sie nicht vielmehr die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza?
IPC-Bericht: Hungersnot in Gaza
Diese Zweifel haben nun einen neuen Nährboden bekommen: Der jüngste IPC-Bericht, die sogenannte Integrated Food Security Phase Classification, stellt für Gaza eine Hungersnot der Stufe 5 fest. Darin sind sämtliche Daten internationaler Organisationen wie etwa der FAO, WHO, USAID, UNICEF, des World Food Programms sowie der deutschen GIZ berücksichtigt. Um eine Hungersnot als solche festzustellen, müssen drei sehr strenge Kriterien vorliegen:
1. eine extreme Lebensmittelknappheit von mindestens 20 % der Haushalte,
2. eine akute Unterernährung bei über 30 % der Kinder und
3. eine signifikante Sterblichkeitsrate, die durch Hunger oder Unterernährung begründet ist.
Der Bericht hält fest: „Nach 22 Monaten unerbittlicher Konflikte sind über eine halbe Million Menschen im Gazastreifen mit katastrophalen Zuständen konfrontiert, die durch Hunger, Elend und Tod gekennzeichnet sind.“ Er fordert daher alarmierend: „Da diese Hungersnot vollständig vom Menschen verursacht ist, kann sie gestoppt und rückgängig gemacht werden. Die Zeit für Debatten und Zögern ist vorbei, der Hunger ist bereits vorhanden und breitet sich rasch aus. Es sollte niemand daran zweifeln, dass eine sofortige und großangelegte Reaktion erforderlich ist.“
Selten gab es ein so erschütterndes Dokument, und selten haben internationale Organisationen so einhellig und alarmierend versucht, die internationale Gemeinschaft wachzurütteln. Die israelische Regierung bestreitet zwar immer noch eine Hungersnot in Gaza, aber ihre Argumente können nicht überzeugen. Auch die von der Regierung vor einigen Monaten eilig ins Leben gerufene „Stiftung“, die GHF, die Gaza Humanitarian Foundation, ist mit ihren vier Verteilungszentren und kaum mehr als 25 LKW-Ladungen pro Tag nicht annähernd in der Lage, die 2,2 Millionen Menschen in Gaza ausreichend zu versorgen – abgesehen davon, dass sie grundlegende Prinzipien der humanitären Hilfe wie Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht einhält. Mindestens 500–600 LKWs täglich wären erforderlich, um eine Versorgung sicherzustellen.
Es ist also dringend an der Zeit, endlich zu handeln. Wie soll sich die internationale Gemeinschaft verhalten? Und wie die deutsche Bundesregierung – schließlich ist Israels Sicherheit erklärtermaßen deutsche Staatsräson? Sind Sanktionen, ist gar der Boykott und ein Waffenembargo gegen Israel oder die internationale Proklamation eines palästinensischen Staates – wie es die UN-Initiative Macrons und Saudi-Arabiens fordert – die richtige Antwort auf eine Hungersnot in Gaza? Sollte die UNO tatsächlich im September per Beschluss einen palästinensischen Staat anerkennen, so wäre das für die Palästinenser vielleicht ein wichtiger Schritt – am Ende aber handelt es sich dabei doch nur um Symbolpolitik. Denn die aktuelle israelische Regierung wird sich kaum darum scheren, sie instrumentalisiert solche Forderungen vielmehr im Inneren gegen die Opposition. Für die Menschen vor Ort wird sich aber tatsächlich erst etwas ändern, wenn sich beide Konfliktparteien auf eine Zwei-Staaten-Lösung verständigen – also nach einem Verhandlungsprozess.
Zukunft für Israelis und Palästinenser nur ohne Hamas
Aus den Erfahrungen der Vergangenheit mit solchen Forderungen darf also bezweifelt werden, dass sie erfolgversprechend sind. Vielmehr muss die Frage danach, was den Menschen in Gaza tatsächlich hilft und welche Maßnahmen die israelischen Geiseln aus Gaza zurück nach Israel holen, im Zentrum aller Überlegungen stehen. Es darf nicht darum gehen, die Wähler „daheim“ zu bedienen: Wenn man etwa ein Waffenembargo fordert, wie es der deutsche Bundeskanzler Merz kürzlich für Gaza angekündigt hat, braucht man auch eine klare Antwort darauf, wie die Hamas dann entwaffnet und besiegt werden kann.
Denn auch sie ist verantwortlich für den Hunger der eigenen Bevölkerung: Laut Hamas sterben die Palästinenser in Gaza gerade einen ehrenwerten „Märtyrertod“. Mehr als 80 Prozent der LKWs mit humanitärer Hilfe für die Bevölkerung des Gazastreifens werden von der Hamas oder anderen marodierenden Banden geplündert. Das sind die offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen. Wenn mehr Hilfe nach Gaza gelassen wird – was dringend erforderlich ist – braucht man auch ein Schutzkonzept dieser Lieferungen, damit die Hilfe auch tatsächlich bei den Menschen ankommt und nicht von der Hamas gekapert wird. Dieser Debatte dürfen sich wiederum die Vereinten Nationen nicht verweigern.
Außerdem liegt es außerhalb jeglicher Realität und Umsetzbarkeit, mit der Hamas einen „demokratischen und entmilitarisierten palästinensischen Staat“ aufzubauen, so wie es sämtliche UN-Resolutionen fordern: Die Hamas wird eine solche Perspektive einer Zwei-Staaten-Lösung bis zuletzt mit Terror bekämpfen. Das haben die Hamas-Anführer gerade noch einmal aus dem Exil klargestellt.
Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst
Was genau geschieht im Gaza-Krieg? Diese Frage werden wir erst retrospektiv, nach Ende des Krieges, vollständig beantworten können – wenn überhaupt. Eines ist klar: Auf den Trümmern eines völlig zerstörten Gazastreifens und auf dem Rücken einer halben Million hungernder Kinder und Erwachsener sowie Tausender Toter und Verletzter kann kein friedlicher Staat aufgebaut werden. Und auch die Geiseln können nur „nach Hause gebracht werden“ – wie es die israelischen Demonstrierenden fordern –, wenn es zunächst so schnell wie möglich einen Waffenstillstand und einen Geiseldeal gibt. Das bedeutet aber auch: Der Terror der Hamas muss weiter bekämpft werden – jedoch mit anderen Mitteln. Zugleich aber müssen die Menschen in Gaza jetzt mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden, die israelischen Geiseln müssen durch einen Geiseldeal befreit werden und Gaza und das Westjordanland müssen endlich eine politische Perspektive bekommen.
Letzteres liegt aber vor allem in den Händen des israelischen sowie des palästinensischen Volkes – sie müssen am Ende endlich Regierungen wählen, die ein Interesse am Frieden der Völker in Nahost haben.
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