Die Sondernummer mit den Ultraorthodoxen
Premier Benjamin Netanyahu spielt mal wieder auf Zeit, um alle irgendwie erst einmal zu beruhigen: Die Ultraorthodoxen und den Rest der israelischen Gesellschaft. Worum es geht? Um die Freistellung vom Militärdienst. Unser Kolumnist Richard C. Schneider wirft Licht auf einen der jüngsten Schachzüge des israelischen Premiers.
Dass Israels Premier Benjamin Netanyahu ein schlauer Fuchs ist, ist nichts Neues. Auch in diesen Tagen hat er mal wieder bewiesen, wie perfekt er seine politischen Manöver vorantreiben kann, wenn es darum geht, seine Macht zu erhalten. Was ist geschehen?
Haredim fordern Gesetz, das sie vom Militärdienst freistellt
Um es kurz zu machen: Die ultraorthodoxen Parteien fordern von der Regierung, in der sie ja Koalitionspartner sind – besser: waren, aber dazu komme ich gleich –, also sie fordern, dass nun endgültig ein Gesetz verabschiedet wird, das für immer die Freistellung von Talmud-Schülern vom Armeedienst festschreibt. Rund 80 000 junge Ultraorthodoxe, auf Hebräisch: Haredim, zu Deutsch etwa: Gottesfürchtige, müssten eigentlich eingezogen werden. Angesichts des laufenden Krieges und der enormen Belastung für die Reservisten, die inzwischen teilweise bis zu 300 Tage im Krieg sind, wäre es nur recht und billig, die Last auf die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Das alte Dekret, das die Freistellung der Frommen garantierte, ist schon vor einiger Zeit abgelaufen, die Armee hat daraufhin begonnen, mehr Haredim einzuziehen, doch viele sind gar nicht erst erschienen und Netanyahu macht keinen Druck, weil er deren Parteien als Mehrheitsgaranten braucht.
Gerechtigkeitssinn: Widerstand gegen Sonderstellung der Haredim
Nun sollte ein neues Gesetz bis vor der Sommerpause der Knesset verabschiedet werden, doch daraus wurde nichts. Der Grund: Der Widerstand eines einzigen Mannes: Yuli Edelstein. Er ist der Vorsitzende des mächtigen Komitees der Knesset für Außenpolitik und Verteidigung. Er stammt aus der Sowjetunion, ist Mitglied von Netanyahus Likud-Partei und alles andere als ein „Linker“. Aber er hat – zumindest bei diesem Thema – das Herz am rechten Fleck und damit zumindest in diesem Fall einen gesunden Gerechtigkeitssinn. Er bestand in den letzten Wochen und Monaten darauf, nur dann ein neues Gesetz zu akzeptieren, wenn es die Haredim nicht vollständig vom Militärdienst befreit. Der Teil der israelischen Gesellschaft, dessen Söhne, Brüder, Väter, Onkel in die Hölle von Gaza und anderswo hinmüssen, die immer häufiger im Gefecht fallen oder schwer verwundet werden, dieser Teil der Gesellschaft stand schon immer der Ausnahmeregelung für Haredim skeptisch gegenüber – aber jetzt, in diesen Monaten, natürlich mehr denn je.
Netanyahu sitzt Entscheidung aus
Das weiß natürlich auch Netanyahu. Ihm ist klar, dass ein endgültiges Ausnahmegesetz ihm langfristig schaden wird, da er das der Mehrheit der Israelis nicht mehr verkaufen kann. Also spielte „Bibi“, wie der Premier in Israel genannt wird, wie bei jedem Problem erst einmal auf Zeit. Die Deadline war Ende Juli, also die beginnende Sommerpause der Knesset, denn dann kann die Regierung drei Monate nichts tun, erst im Oktober geht’s weiter. Und so wollte Netanyahu sich quasi hinüberretten in den Herbst und tat: nichts. Auch deshalb, weil nicht nur Edelstein gegen das Gesetz in der geplanten Form war, sondern auch die Nationalreligiösen, also die rechtsextremen Siedlerparteien, die sehr wohl in der Armee dienen. Ihre Vertreter, der Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich, machten sehr deutlich, dass sie ein Befreiungsgesetz nicht mittragen würden.
Bröckelige Allianzen
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben zwei ultraorthodoxe Parteien in den vergangenen zwei Wochen die Regierung verlassen. Da ist zum einen die UTJ, die «United Thora Judaism» – Partei, gefolgt danach von „Shas“, den misrachischen Ultraorthodoxen. Doch anders als UTJ, ist Shas zwar nicht mehr in der Koalition, aber sieht sich immer noch als Teil der Regierung und wird grundsätzlich nicht gegen Netanyahu stimmen – etwa bei einem Misstrauensantrag der Opposition. Auch wenn Netanyahu inzwischen nur noch eine Minderheitsregierung anführt, weiß er dennoch, dass UTJ und Shas ihm nicht wirklich gefährlich werden. Der Grund ist einfach: Falls sie helfen würden, ihn zu stürzen, könnten sie dabei nichts gewinnen. Denn wenn dann bei Neuwahlen ein Oppositionspolitiker eine neue Koalition bilden, wären ultraorthodoxe Parteien nicht mehr vertreten oder so an den Rand gedrängt, dass sie nicht viel fordern können. Da sind sie selbst jetzt noch mit Netanyahu besser dran.
Netanyahus Bauernopfer
Dennoch drohen die Frommen, so dass der Premier sich nicht vollständig auf sie verlassen kann. Insofern musste er jetzt ein Bauernopfer liefern: Yuli Edelstein. Noch vor wenigen Tagen hieß es, dass man Edelstein natürlich niemals feuern würde, doch inzwischen ließ Netanyahu eine Wahl zu, um Edelstein an der Spitze des Komitees abzulösen. An seiner statt wird nun einer von Bibis Lakaien, der Likud-Abgeordnete Boaz Bismuth, den Posten übernehmen. Die Wahl muss zwar von den Gremien bestätigt werden, doch so viel ist schon klar: Edelstein, das Hindernis, ist weg.
Netanyahus Interesse: der eigene Machterhalt
Nur, jetzt passiert gar nichts mehr. Die Sommerpause beginnt. Und das ist Netanyahus Kalkül gewesen. Er zeigte den Frommen, dass er aktiv wird und gleichzeitig muss er sich nicht gegenüber der Mehrheit in Israel rechtfertigen. Die sieht nicht ein, warum die jungen Ultraorthodoxen in ihren Jeschiwot sitzen dürfen, während sie selbst ihr Leben auf den Schlachtfeldern riskieren müssen. Wie so oft in seiner Karriere spielt Netanyahu also wieder einmal auf Zeit. Drei lange Monate… wer weiß da schon, was bis Oktober sein wird? Drei Monate – in Israel ist das eine extrem lange Zeit. Es kann Frieden oder noch einen weiteren Krieg geben, die Regierung kann endgültig platzen oder Netanyahu könnte zum Helden werden, weil er den Gaza-Krieg beendet und die Geiseln rausholt. Wer weiß. Abwarten, Zeit gewinnen. Und dann sehen, was man mit den 80 000 Ultraorthodoxen macht, die potenzielle Soldaten sein könnten, sein sollten. Wer sich nun nicht vorstellen kann, wie Netanyahu dieses Problem lösen kann, muss sich eines vergegenwärtigen: Er hat schon ganz andere Situationen durch- und überlebt. Wie oft schon hat ihn die israelische Presse für politisch „tot“ erklärt. Doch Netanyahu ist immer noch da.
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