Die Tochter und der Gewaltherrscher

Cover: Suhrkamp Verlag

Artur Klinaus belarus­sische Protest-Chronik „Acht Tage Revolution“ ist humane Ermutigung und konzise Dikta­tur­kritik par excel­lence – und dazu ein Augen­öffner für den Westen.

Noch am Wahlabend des 8. August 2020 verschwindet in Minsk die Tochter des belarus­si­schen Schrift­stellers Artur Klinau. Ihre letzte Begegnung liegt ein paar Tage zurück; sie hatte im Streit geendet. Ein Genera­tio­nen­kon­flikt zwischen dem 1965 Geborenen und seiner Tochter, die zu diesem Zeitpunkt genau so alt ist wie Lukaschenkos Herrschaft: 26 Jahre. Klinau, Angehö­riger der älteren Opposi­tio­nellen-Jahrgänge und lange auf eine evolu­tionäre Verän­derung des Systems hoffend, wird mit der Ungeduld der jüngeren Generation konfron­tiert, die eine noch aus Sowjet­zeiten herrüh­rende „Es könnte auch noch schlimmer sein“-Gestimmtheit ablehnt, da sie doch jetzt lebt und ihre Existenz nicht damit vergeuden will, die wechselnden Launen eines Psycho­pathen-Präsi­denten deuten zu müssen.

Marta wird also im Sommer 2020 unabhängige Wahlbe­ob­ach­terin – und damit für das Lukaschenko-Regime zu einer ebensolchen Bedrohung wie all die anderen, es sind  Hundert­tau­sende, die in jenen Tagen auf den Straßen der Haupt­stadt sind, um Demokratie einzu­fordern. Hatte sich doch der Despot, wie Artur Klinau in seinem Minsk-Journal „Acht Tage Revolution“ beschreibt, nicht etwa damit zufrieden gegeben, bei den Präsi­dent­schafts­wahlen ein wenig über fünfzig Prozent für sich zu beanspruchen ergo: fälschen zu lassen, sondern im Wahn der Macht gar 80 Prozent angeb­liche Zustimmung herbei zu hallu­zi­nieren. Gewiss: Unzählige staatlich bestallte Fälscher halfen ihm dabei, doch sogar in den beauf­sich­tigten Medien des Landes meldeten sich manche Zweifel ob der offiziell verkün­deten Zahlen. Wahlbe­ob­achter werden dann ebenso wie Demons­tranten verhaftet, aus der Menge heraus­ge­zerrt, an der Haaren über den Asphalt geschleift oder bereits vor den kommenden Torturen in den Unter­su­chungs­ge­fäng­nissen mit Fäusten und Knüppeln blutig geschlagen.

Obwohl das Internet bald blockiert ist, gelingt es Klinau mit Hilfe seines litaui­schen Providers, infor­miert zu bleiben über all diese Schreck­nisse. Seine Sorge, ja seine Panik wächst. In telefo­ni­scher Abstimmung mit seiner geschie­denen Frau macht er sich auf die Suche nach der gemein­samen Tochter – auf Polizei­sta­tionen, in Kranken­häusern und vor Gefäng­nis­an­stalten. Dass sich dabei seine Perspektive dennoch nicht verengt, sondern im Gegenteil weitet zu einer Chronik der Proteste und einem kühl-präzisen Psycho­gramm des größen­wahn­sin­nigen postso­wje­ti­schen Poten­taten – „Ein Primi­tivist, der mit der Axt malt, entfernt an Anselm Kiefer erinnernd, nur eben in tausend Braun­tönen“ – macht die ethische und litera­rische Stärke seines Buches aus.

Männer, die Geschichte machen

Das Perverse der Situation – da nun sogar jetzt während des Verschwindens der Tochter der Herrscher omnipräsent bleibt und sich gleichsam hinein drängelt in den Kopf und die Gedanken- und Gefühlswelt des Vaters – wird furchtlos benannt und fällt auf die Macht zurück. Denn wie armselig muss einer sein, der sich „Führer“ und „Väterchen“ nennen lässt und doch sein eigenes Volk fürchtet und bedroht? Artur Klinau setzt dem sein Gedächtnis entgegen und siehe da: Sie existieren ja durchaus, „jene Männer, die Geschichte machen“, dies freilich zum Schaden des Landes. Und Nein, nicht alles ist lediglich „Struktur“ und “System“, in dem die Einzelnen unsichtbar werden, obwohl es Lukaschenko bei den von ihm orches­trierten Jubel­feiern genau darauf anlegt.

Aufstieg vom Polit­of­fizier der Sowjet­armee über einen KP-Sowchosen-Chef bis schließlich zum Poten­taten von Belarus

Der Schrift­steller rückt dem Gewalt­herr­scher in der Beschreibung dabei ganz nahe, von der prägnanten Habitus-Beschreibung („Eine Vogel­scheuche im Gemüsebeet, hoch aufge­schossen, ungelenk, mit Riesen­pranken, der quer über die Glatze gekämmten, ewig vom Winde verwehten Schmalz­locke, dem fuchtigen Schnauzbart und seinen geschmack­losen, schlecht­sit­zenden Anzügen“) bis zur Analyse seines Aufstiegs vom Polit­of­fizier der Sowjet­armee über einen KP-Sowchosen-Chef bis schließlich zum Poten­taten von Belarus. Hier wird nicht apoli­tisch perso­na­li­siert, sondern das Gegenteil getan: Histo­rische Tiefen­bohrung, Erinnerung an die weit in die Sowjet­zeiten hinein­rei­chenden Prägungen Lukaschenkos (und seines Moskauer Freund­feindes Putin) sowie – und zwar ohne jegliches modisch-akade­mische Prunk­vo­ka­bular – eine detail­reiche Darstellung jener toxischen Pseudo-Männlichkeit, der das ganze Land eine einzige Zucht­an­stalt ist. Selbst in den Gebäuden und panzer­freund­lichen Straßen­schneisen, mit denen der Axt-Künstler und Beton-Midas Lukaschenko die Stadt Minsk zugerichtet hat, zeigt sich dieses Gemisch: Größenwahn trifft Angst und Paranoia, während Stärke ohne Ethos ganz zwangs­läufig Hässlichkeit gebiert, und zwar nicht allein im Architektonischen.

Der „Homo Sovie­ticus“ – Täter und Opfer zugleich

Denn auch das ist ja eine Tatsache, obwohl sie im allzu oft allein auf Aktuelles geeichten Blick des westlichen Auslandes kaum je wahrge­nommen wird: Der einst von Alexander Sinowjew beschriebene „Homo Sovie­ticus“ ist mitnichten 1991 mit dem Ende seines Großlabors verschwunden, sondern dröhnt und marschiert weiter, Täter und gleich­zeitig Opfer eines jämmer­lichen, metal­lisch schep­pernden Missver­ständ­nisses über die mensch­liche Existenz und gesell­schaft­liches Leben.

Zusammen mit Olga Shparagas ebenfalls kürzlich auf deutsch erschie­nenem Essay „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“ ist deshalb Artur Klinaus dokumen­ta­ri­sches Journal der Beweis dafür, dass die Gender-Thematik – selbst wenn das deren westlichen Fans und deren Verächtern kaum klar sein dürfte – auch im dikta­tur­kri­ti­schen, antito­ta­li­tären Diskurs von Bedeutung sein kann. Da ja gerade, das zeigt dieses Buch, das Antito­ta­litäre keineswegs eine Marotte nostal­gi­scher „Kalter Krieger“ darstellt, sondern geradezu zwingend ist angesichts einer Diktatur, „die das postmo­derne Mäntelchen längst abgelegt hat“. Denn auch wenn die Schau­pro­zesse (angeblich aufgrund der „Pandemie-Hygie­ne­be­stim­mungen“) oftmals mittels der Digital-Innovation Skype statt­finden – ihre Opfer werden in Gefäng­nis­zellen vor die Bildschirme gezerrt, und jedem ist klar, hier einer de facto stali­nis­ti­schen Farce beizu­wohnen, deren Drehbuch längst woanders geschrieben worden ist.

Schließlich aber findet Artur Klinau seine Tochter. Für den auf fünfund­zwanzig Minuten angesetzten Prozess darf sie die Haftan­stalt sogar verlassen und wird für ihre Tätigkeit als unabhängige Wahlbe­ob­ach­terin von einem willfäh­rigen Richter zu „nur“ 15 Tagen Arrest verur­teilt. Vater und Tochter können sich lediglich kurz sprechen, und beide wissen, was es heißt, unter Lukaschenko im Gefängnis zu sitzen – der Vater aus zahlreichen Zeugen­be­richten, die er hier im Buch dokumen­tiert, die Tochter aus dem Erleben der letzten Tage.

Sagen, was ist

Wie wird man mit so etwas fertig? Klinau verweigert sich Pathos und dekla­ma­to­ri­scher Diktion, sondern tut das, was schon seine Vorhänger, was Warlam Schalamow und Lew Kopelew, was Václav Havel, Herta Müller und Jürgen Fuchs getan haben: Sagen, was ist. Da der Schrift­steller ja nicht allein von seiner Tochter erzählt, sondern auch jenen, von deren Schicksal er gehört hat, Namen, Gesicht und Stimme gibt – dem sechzehn­jäh­rigen Timur, den die Büttel der Macht ins Koma geprügelt hatten, dem mutigen Journa­listen Nikita Telischenko vom Online-Portal Znak oder dem jungen Sascha Wichor, der an Herzbe­schwerden litt und die August­hitze im Inneren eines völlig überfüllten Gefan­ge­nen­trans­porters nicht überlebt hatte. Aber auch die anderen, größere und kleinere Mittäter des Regimes in Polizei und Justiz, werden kenntlich gemacht und ihre Untaten minutiös nachge­zeichnet: Ein Meister­stück etwa, wie sich Klinau das Klingeln des Ebonitte­lefons im Amtszimmer des Richters vorstellt und dazu eine monotone Stimme, die festgelegt, wer heute zu viel Tagen oder Wochen oder auch Monaten und Jahren zu verur­teilen ist. Die konkrete Sprache der Literatur, die ja gar nichts erfinden muss, erweist sich als abermals überlegen den Satzbrocken-Verlaut­ba­rungen der Macht. Ein schaler Trost, eine Art mentales Pflaster für Freigeister und Opposi­tio­nelle? Keineswegs. Da doch in jenen Tagen unzählige Menschen in der belarus­si­schen Gesell­schaft dafür aufge­standen waren, mehr zu sein als dunkle Punkte in Lukaschenkos gruse­ligem Großge­mälde. So etwas lässt sich vielleicht offiziell (eine Weile) verschweigen, doch nie und nimmer vergessen.

Heute lebt Marta im Exil in Kiew, ihr Vater ist zur Zeit Gast im Litera­ri­schen Collo­quium in Berlin. Bei aller Infamie und Grausamkeit aber ist dem Regime zumindest eines nicht gelungen: Es hat seinen demokra­ti­schen Wider­sa­chern, wenngleich sie gegen­wärtig auch in der Defensive sind, den genauen Blick nicht austreiben können. „Acht Tage Revolution“ ist humane Ermutigung und konzise Dikta­tur­kritik par excellence.

Artur Klinau: Acht Tage Revolution. Ein dokumen­ta­ri­sches Journal aus Minsk. Aus dem Russi­schen von Volker Weichsel und Thomas Weiler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.  265 Seiten, brosch., Euro 18,-

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