Die atomaren Albträume kommen zurück

© Gage Skidmore [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)]

Der Ausstieg der USA und Russlands aus dem INF-Vertrag könnte ein neues Wettrüsten zwischen den USA, Russland und China einläuten. Für Europa steht viel auf dem Spiel: Strei­te­reien über Atombomben könnten sich am Ende als gefähr­licher erweisen als die Waffen selbst.

Wenn Sie meinen, Europa stehe derzeit unter Spannung, sollten Sie warten, wie das erst sein wird, wenn es sich einem neuen atomaren Wettrüsten gegen­über­sieht. Das erwartet uns nämlich nach der Entscheidung der Verei­nigten Staaten und Russlands vom vergan­genen Wochenende, ihre Betei­ligung am Vertrag über nukleare Mittel­stre­cken­systeme (INF-Vertrag) auszu­setzen.

Portrait von Edward Lucas

Edward Lucas ist Journalist und Sicherheitsexperte.

Dieser Meilen­stein der Rüstungs­kon­troll­ver­träge stammt aus einer Zeit, als die Sowjet­union in Europa über eine beängs­ti­gende militä­rische Überle­genheit verfügte. Ein Angriff des Warschauer Paktes hätte die Verei­nigten Staaten vor eine finstere Wahl gestellt, nämlich entweder eine Niederlage zu erleiden oder zur Atombombe zu greifen. Das war in den Achtzi­ger­jahren der Hinter­grund für die Entscheidung, in Großbri­tannien, Deutschland und anderen verbün­deten Staaten Mittel­stre­cken­ra­keten, Marsch­flug­körper und Pershings zu statio­nieren. Unter Michail Gorbat­schow stieg die Sowjet­union aus dem Wettrüsten aus und unter­zeichnete 1987 den INF-Vertrag. Mehr als 2.600 start­be­reite Raketen wurden auf beiden Seiten verschrottet. Wir waren dadurch alle sicherer.

Die Welt hat sich verändert. Der einzige ernst­hafte Gegner der USA ist heute China. Russland kann einzelne europäische Staaten bedrohen, insbe­sondere jene in Reich­weite, wie etwa die Ukraine. Es hat das Regime in Syrien und dessen Blutbad gestützt. Für eine geschlossen agierende NATO ist das Land aber kein gleich­ran­giger Gegner. Russland gibt nur wenig mehr für Vertei­di­gungs­zwecke aus als Großbri­tannien (und nur ein Zehntel der militä­ri­schen Bombastik der USA). Zugege­be­ner­maßen bedeuten niedrige Löhne, billiges Land und billi­gerer materi­eller Input, dass Russland mehr aus seinen Rubeln heraus­holen kann. Doch sollen die prahle­ri­schen Überschall­ra­keten, die Atomtor­pedos und all die anderen Waffen, die Wladimir Putin so stolz präsen­tiert hat, eher zu Stolz erziehen und Entschlos­senheit demons­trieren, als im Krieg zum Einsatz kommen. Sie existieren, um den Russen zu versi­chern, dass ihr Land immer noch eine Super­macht ist, ungeachtet seiner stagnie­renden, ressour­cen­ab­hän­gigen Wirtschaft, seiner erbärm­lichen Infra­struktur, den schäbigen Dienst­leis­tungen der öffent­lichen Hand und der schrump­fenden Bevölkerung.

Die Taktik des Kreml ist es, Uneinigkeit zu schüren

Die bislang bei weitem wirksamste außen­po­li­tische Taktik des Kreml besteht darin, zwischen den Ländern des Westens und in deren Innern Uneinigkeit zu schüren. Unser eigenes Verhalten leistet dem sogar Vorschub. Die Regierung Bush hat die europäi­schen Verbün­deten in einen desas­trösen Krieg im Irak hinein­ge­zogen. Die Regierung Obama opferte ihre Inter­essen dem Bestreben, einen naiven Neustart der Bezie­hungen zu Russland zu erreichen. Donald Trump denkt, Bündnisse seien etwas für Idioten, und bandelt lieber mit Dikta­toren an. Die Europäer wiederum knausern bei ihren Vertei­di­gungs­aus­gaben und ignorieren bei ihren wirtschaft­lichen Deals mit China, Iran und Russland unbekümmert die US-ameri­ka­ni­schen Befürchtungen.

Aus ameri­ka­ni­scher Sicht gibt es eine ganze Reihe von Gründen, den INF-Vertrag fallen zu lassen. Russland war seit 2008 mit der Entwicklung einer landge­stützten lenkbaren Rakete vom Typ 9M729 (NATO-Code: SSC 8) beschäftigt, was den Bestim­mungen des Vertrages zuwiderlief. Die Schlapphüte hatten zwar Alarm geschlagen, doch schreckte die Regierung Obama bezeich­nen­der­weise jahrelang davor zurück, den Kreml öffentlich damit zu konfron­tieren. Das Weiße Haus unter Trump macht das hingegen gern, vor allem, weil es eine eigene landge­stützte Mittel­stre­cken­rakete entwi­ckeln will. Und die soll dann nicht in Europa statio­niert werden, sondern in Asien, wo sie helfen könnte, der zuneh­menden Dominanz Chinas in der Region etwas entgegenzusetzen.

Russland hat den INF-Vertrag ebenfalls satt. Angesichts seiner klapp­rigen Flugzeuge und Schiffe erscheinen landge­stützte Raketen besonders attraktiv und deren Verbot lästig. Der Vertrag hat zudem die Statio­nierung US-ameri­ka­ni­scher ballis­ti­scher Raketen­technik in Polen und Rumänien nicht verhindert. Diese Anlagen haben zwar eine nur geringe Auswirkung auf die Stärke der russi­schen atomaren Abschre­ckung (sie richten sich gegen eine zukünftige Bedrohung durch Iran), doch missfällt dem Kreml prinzi­piell jedwede Präsenz westlicher Hightech-Waffen auf dem Gebiet seines ehema­ligen Imperiums.

Das Ende des INF-Vertrags bringt Europa in Gefahr

Der unbeküm­merte Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnte bei den größeren strate­gi­schen Waffen ein neues dreisei­tiges Wettrüsten zwischen den USA, Russland und China einläuten, nämlich bei den ballis­ti­schen Inter­kon­ti­nen­tal­ra­keten, dem Herzstück der atomaren Abschre­ckung. Der letzte verbliebene Pfeiler der alten Rüstungs­kon­troll­ar­chi­tektur ist das New START-Abkommen, das im Jahr 2021 ausläuft. Die Regierung Trump zeigt keinerlei Interesse an einer Verlän­gerung. John Bolton, der nationale Sicher­heits­be­rater des US-Präsi­denten, scheint alle inter­na­tio­nalen Abkommen als Zeichen von Schwäche zu betrachten. In der bizarren Logik der atomaren Abschre­ckung kann aller­dings die starke Überle­genheit einer der Seiten die Wahrschein­lichkeit eines Krieges eher erhöhen, und nicht etwa verringern. In schwä­cheren Ländern setzt dann die Furcht ein, Opfer eines lähmenden Erstschlags zu werden: Der Finger rückt näher an den Abzug und es wächst die Gefahr eines apoka­lyp­ti­schen Kriegs, ausgelöst durch eine Panne oder ein Missver­ständnis. Im letzten Kalten Krieg sind wir einem solchen Albtraum nur knapp entkommen. Nächstes Mal könnten wir weniger Glück haben.

Das Ende des INF-Vertrags bringt uns in Europa in eine besonders exponierte Lage. Russland hat bereits nukle­ar­fähige Kurzstre­cken­ra­keten statio­niert, die Berlin angreifen können. Jetzt kann das Putin-Regime weitere neue Waffen entwi­ckeln, die zwar nicht die USA erreichen, jedoch fast ganz Europa direkt bedrohen würden.

Diese Bedrohung wird nicht unser Rückgrat stärken, sondern unsere Knie weich werden lassen. Die öffent­liche Meinung in großen Teilen Europas ist zudem antinu­klear und antiame­ri­ka­nisch. Jeder Versuch der USA, als Gegen­ge­wicht zu den russi­schen Raketen eigene neue Atomra­keten zu statio­nieren, würde das Risiko in sich bergen, dass sich die kläglichen Strei­te­reien der Achtzi­ger­jahre wieder­holen. Die US-ameri­ka­nische Verachtung für europäi­schen Friedens­ak­ti­vismus wird zunehmen, ganz wie das europäische Misstrauen gegenüber rücksichts­losem ameri­ka­ni­schem Milita­rismus. Die Kluft zwischen dem selbst­zu­frie­denen „alten“ Europa und den schreck­haften Staaten an der Front­linie im Osten wird ebenfalls wachsen. Was würde passieren, wenn Polen sagt, es will US-Atomwaffen auf seinem Gebiet, und Deutschland dagegen ist?

Wir können einen solchen lähmenden Streit vermeiden. Russlands neue Atomra­keten müssen nicht unbedingt eine Verän­derung des militä­ri­schen Gleich­ge­wichts in Europa bedeuten. Eine bessere Frühwarn- und Überwa­chungs­tech­no­logie könnte uns verraten, was Russland mit den Raketen vorhat. Wir könnten die See- und Luftüber­le­genheit der NATO nutzen und sollten nicht unbedingt versuchen, zu Lande ein auf die Rakete genaues Gleich­ge­wicht mit Russland zu erreichen. Wir sollten jene militä­ri­schen Lücken schließen, auf die es am meisten ankommt, etwa bei den infra­struk­tu­rellen Engpässen und bürokra­ti­schen Wider­haken, durch die eine Verlegung von Streit­kräften in Europa Wochen braucht.

Russlands eigent­liche Überle­genheit liegt in seinem nicht­mi­li­tä­ri­schen Arsenal: Cyber­an­griffe, Desin­for­mation, schmutzige Gelder, Einfluss-Geschacher, Energie­ex­porte als Druck­mittel, Subversion und nicht zuletzt das Spiel des „Teile und herrsche“. Strei­te­reien über Atombomben könnten sich für unsere Sicherheit als gefähr­licher erweisen als die Waffen selbst.

Textende

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