Die atomaren Albträume kommen zurück
Der Ausstieg der USA und Russlands aus dem INF-Vertrag könnte ein neues Wettrüsten zwischen den USA, Russland und China einläuten. Für Europa steht viel auf dem Spiel: Streitereien über Atombomben könnten sich am Ende als gefährlicher erweisen als die Waffen selbst.
Wenn Sie meinen, Europa stehe derzeit unter Spannung, sollten Sie warten, wie das erst sein wird, wenn es sich einem neuen atomaren Wettrüsten gegenübersieht. Das erwartet uns nämlich nach der Entscheidung der Vereinigten Staaten und Russlands vom vergangenen Wochenende, ihre Beteiligung am Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) auszusetzen.
Dieser Meilenstein der Rüstungskontrollverträge stammt aus einer Zeit, als die Sowjetunion in Europa über eine beängstigende militärische Überlegenheit verfügte. Ein Angriff des Warschauer Paktes hätte die Vereinigten Staaten vor eine finstere Wahl gestellt, nämlich entweder eine Niederlage zu erleiden oder zur Atombombe zu greifen. Das war in den Achtzigerjahren der Hintergrund für die Entscheidung, in Großbritannien, Deutschland und anderen verbündeten Staaten Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper und Pershings zu stationieren. Unter Michail Gorbatschow stieg die Sowjetunion aus dem Wettrüsten aus und unterzeichnete 1987 den INF-Vertrag. Mehr als 2.600 startbereite Raketen wurden auf beiden Seiten verschrottet. Wir waren dadurch alle sicherer.
Die Welt hat sich verändert. Der einzige ernsthafte Gegner der USA ist heute China. Russland kann einzelne europäische Staaten bedrohen, insbesondere jene in Reichweite, wie etwa die Ukraine. Es hat das Regime in Syrien und dessen Blutbad gestützt. Für eine geschlossen agierende NATO ist das Land aber kein gleichrangiger Gegner. Russland gibt nur wenig mehr für Verteidigungszwecke aus als Großbritannien (und nur ein Zehntel der militärischen Bombastik der USA). Zugegebenermaßen bedeuten niedrige Löhne, billiges Land und billigerer materieller Input, dass Russland mehr aus seinen Rubeln herausholen kann. Doch sollen die prahlerischen Überschallraketen, die Atomtorpedos und all die anderen Waffen, die Wladimir Putin so stolz präsentiert hat, eher zu Stolz erziehen und Entschlossenheit demonstrieren, als im Krieg zum Einsatz kommen. Sie existieren, um den Russen zu versichern, dass ihr Land immer noch eine Supermacht ist, ungeachtet seiner stagnierenden, ressourcenabhängigen Wirtschaft, seiner erbärmlichen Infrastruktur, den schäbigen Dienstleistungen der öffentlichen Hand und der schrumpfenden Bevölkerung.
Die Taktik des Kreml ist es, Uneinigkeit zu schüren
Die bislang bei weitem wirksamste außenpolitische Taktik des Kreml besteht darin, zwischen den Ländern des Westens und in deren Innern Uneinigkeit zu schüren. Unser eigenes Verhalten leistet dem sogar Vorschub. Die Regierung Bush hat die europäischen Verbündeten in einen desaströsen Krieg im Irak hineingezogen. Die Regierung Obama opferte ihre Interessen dem Bestreben, einen naiven Neustart der Beziehungen zu Russland zu erreichen. Donald Trump denkt, Bündnisse seien etwas für Idioten, und bandelt lieber mit Diktatoren an. Die Europäer wiederum knausern bei ihren Verteidigungsausgaben und ignorieren bei ihren wirtschaftlichen Deals mit China, Iran und Russland unbekümmert die US-amerikanischen Befürchtungen.
Aus amerikanischer Sicht gibt es eine ganze Reihe von Gründen, den INF-Vertrag fallen zu lassen. Russland war seit 2008 mit der Entwicklung einer landgestützten lenkbaren Rakete vom Typ 9M729 (NATO-Code: SSC 8) beschäftigt, was den Bestimmungen des Vertrages zuwiderlief. Die Schlapphüte hatten zwar Alarm geschlagen, doch schreckte die Regierung Obama bezeichnenderweise jahrelang davor zurück, den Kreml öffentlich damit zu konfrontieren. Das Weiße Haus unter Trump macht das hingegen gern, vor allem, weil es eine eigene landgestützte Mittelstreckenrakete entwickeln will. Und die soll dann nicht in Europa stationiert werden, sondern in Asien, wo sie helfen könnte, der zunehmenden Dominanz Chinas in der Region etwas entgegenzusetzen.
Russland hat den INF-Vertrag ebenfalls satt. Angesichts seiner klapprigen Flugzeuge und Schiffe erscheinen landgestützte Raketen besonders attraktiv und deren Verbot lästig. Der Vertrag hat zudem die Stationierung US-amerikanischer ballistischer Raketentechnik in Polen und Rumänien nicht verhindert. Diese Anlagen haben zwar eine nur geringe Auswirkung auf die Stärke der russischen atomaren Abschreckung (sie richten sich gegen eine zukünftige Bedrohung durch Iran), doch missfällt dem Kreml prinzipiell jedwede Präsenz westlicher Hightech-Waffen auf dem Gebiet seines ehemaligen Imperiums.
Das Ende des INF-Vertrags bringt Europa in Gefahr
Der unbekümmerte Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnte bei den größeren strategischen Waffen ein neues dreiseitiges Wettrüsten zwischen den USA, Russland und China einläuten, nämlich bei den ballistischen Interkontinentalraketen, dem Herzstück der atomaren Abschreckung. Der letzte verbliebene Pfeiler der alten Rüstungskontrollarchitektur ist das New START-Abkommen, das im Jahr 2021 ausläuft. Die Regierung Trump zeigt keinerlei Interesse an einer Verlängerung. John Bolton, der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, scheint alle internationalen Abkommen als Zeichen von Schwäche zu betrachten. In der bizarren Logik der atomaren Abschreckung kann allerdings die starke Überlegenheit einer der Seiten die Wahrscheinlichkeit eines Krieges eher erhöhen, und nicht etwa verringern. In schwächeren Ländern setzt dann die Furcht ein, Opfer eines lähmenden Erstschlags zu werden: Der Finger rückt näher an den Abzug und es wächst die Gefahr eines apokalyptischen Kriegs, ausgelöst durch eine Panne oder ein Missverständnis. Im letzten Kalten Krieg sind wir einem solchen Albtraum nur knapp entkommen. Nächstes Mal könnten wir weniger Glück haben.
Das Ende des INF-Vertrags bringt uns in Europa in eine besonders exponierte Lage. Russland hat bereits nuklearfähige Kurzstreckenraketen stationiert, die Berlin angreifen können. Jetzt kann das Putin-Regime weitere neue Waffen entwickeln, die zwar nicht die USA erreichen, jedoch fast ganz Europa direkt bedrohen würden.
Diese Bedrohung wird nicht unser Rückgrat stärken, sondern unsere Knie weich werden lassen. Die öffentliche Meinung in großen Teilen Europas ist zudem antinuklear und antiamerikanisch. Jeder Versuch der USA, als Gegengewicht zu den russischen Raketen eigene neue Atomraketen zu stationieren, würde das Risiko in sich bergen, dass sich die kläglichen Streitereien der Achtzigerjahre wiederholen. Die US-amerikanische Verachtung für europäischen Friedensaktivismus wird zunehmen, ganz wie das europäische Misstrauen gegenüber rücksichtslosem amerikanischem Militarismus. Die Kluft zwischen dem selbstzufriedenen „alten“ Europa und den schreckhaften Staaten an der Frontlinie im Osten wird ebenfalls wachsen. Was würde passieren, wenn Polen sagt, es will US-Atomwaffen auf seinem Gebiet, und Deutschland dagegen ist?
Wir können einen solchen lähmenden Streit vermeiden. Russlands neue Atomraketen müssen nicht unbedingt eine Veränderung des militärischen Gleichgewichts in Europa bedeuten. Eine bessere Frühwarn- und Überwachungstechnologie könnte uns verraten, was Russland mit den Raketen vorhat. Wir könnten die See- und Luftüberlegenheit der NATO nutzen und sollten nicht unbedingt versuchen, zu Lande ein auf die Rakete genaues Gleichgewicht mit Russland zu erreichen. Wir sollten jene militärischen Lücken schließen, auf die es am meisten ankommt, etwa bei den infrastrukturellen Engpässen und bürokratischen Widerhaken, durch die eine Verlegung von Streitkräften in Europa Wochen braucht.
Russlands eigentliche Überlegenheit liegt in seinem nichtmilitärischen Arsenal: Cyberangriffe, Desinformation, schmutzige Gelder, Einfluss-Geschacher, Energieexporte als Druckmittel, Subversion und nicht zuletzt das Spiel des „Teile und herrsche“. Streitereien über Atombomben könnten sich für unsere Sicherheit als gefährlicher erweisen als die Waffen selbst.
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